Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

2006

Schaut man in diesen Tagen auf das Jahr 2006 zurück, dann sorgt man sich natürlich in erster Linie um die Rolle und Zukunft der Muslime in Deutschland. Glaubt man den Umfragen, so ist die Bevölkerung, was den Islam angeht, eher „“negativ““ eingestellt. Meiner Erfahrung entspricht dies nicht unbedingt, entdeckt man doch im eigenen Umfeld immer mehr echtes Interesse am Islam. Neulich war ich in einer türkischen Moschee in Berlin zum Tee eingeladen. Mit Hilfe meines Übersetzers kam das Thema „“Islam in Deutschland““ zur Sprache. Zu meiner Überraschung wurde mein Argument, dass man in Deutschland nur sicher und intergriert sei und den Status einer Immigrantenreligion auf Dauer nur verlasse werde, wenn zumindest in jeder Gebetslinie auch ein Deutscher oder Deutsche sei, mit dem Argument konterkariert, dass allein in der letzten, vergangenen Woche drei meiner Landsleute den Islam akzeptiert hätten.

Auch in diesem Jahr ist klar geworden, dass die Muslime mit Terror und Terrorismus nichts zu tun haben wollen. Gleichzeitig wachsen Zweifel an einem strukturierten Terrornetzwerk in Europa, dessen allgegenwärtige Scheinexistenz zu einer allgemeinen Paranoia führt, wenngleich niemand daran zweifeln dürfte, dass es tatsächlich und theoretisch zu Zwischenfällen durch gesetzlose, muslimische Einzelgänger kommen könnte. Als muslimische Minderheit sieht man die Folgen, insbesondere die Wesensveränderungen des Staates zum Präventionsstaat, mit einiger Sorge. In einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung kommentiert der angesehene Journalist Heribert Prantl die innenpolitische Lage, die uns jenseits der Konfession alarmiert, so:

„An die Stelle des klassischen Straf- und Polizeirechts tritt Gesetz für Gesetz ein allgemeines Gefahrenrecht, das die Grenzen zwischen Strafverfolgung, Polizei, Geheimdienst und Militär auflöst oder aufzulösen trachtet. Die neuen Gesetze wollen dem kriminellen und terroristischen Übel überhaupt und generell zuvorkommen. Das neue Gefahrenrecht verlangt daher nicht mehr, wie es die Strafprozessordnung bislang tat, einen konkreten Tatverdacht als Eingriffsschwelle; es lässt vielmehr die bloße Möglichkeit genügen, dass der Betroffene sich verdächtig machen könnte. Die rechtsstaatlichen Regularien gelten dem neuen Gefahrenrecht als hinderliche Förmlichkeiten. Bei der Gefahrenvorbeugung ist daher schon heute den Sicherheitsbehörden mehr erlaubt, als ihnen bei der Strafverfolgung je erlaubt war. Präventive Logik ist expansiv: Wer vorbeugen will, weiß nie genug! Und so verwandelt sich der Rechtsstaat, Gesetz für Gesetz, in einen Präventionsstaat.“

Schlußendlich bleibt noch der Versuch der islamischen Organisationen, im Jahr 2006 die „“Einheit““ – wenn auch eher auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner – zu erreichen. Die Einheit wird dabei paradoxerweise so gedacht, dass die antiquierte Einteilung der Muslime in ethnische Kategorien gerade zementiert und bestätigt wird und die verstaubten politischen Organisationen die allein entscheidenden Akteure bleiben. Was uns fehlt sind muslimische Gelehrte, die in der Lage sind, neben der absoluten Zurückweisung von Nationalismus, Rassismus und Selbstmordattentaten auch die eigentliche Relevanz des Islam anzudeuten. Signifikanterweise spricht zum Beispiel niemand über die aktuelle Bedeutung eines der höchsten gemeinsamen Nenner der Muslime: die Zakat. Stattdessen wird das berühmte Kopftuch zu einer Art „“Schicksalsfrage““. Hierher, also zu den Zeichen einer kaum noch hörbaren Lehre, gehört auch die jahrhundertealte inhaltliche Abgrenzung der muslimischen Position von den religiösen Doktrinen der Schia, die die politische Regie der Einheitskonferenz geflissentlich aufgibt. Die im Iran hoffähig gewordene politische Dialektik gegen die Juden entspricht sowieso nicht der islamischen Tradition.