Das Gezänk um den Salafismus in Deutschland und das Spektakel um die Islamkonferenz überlagert nach wie vor das hintergründige Fragen nach dem Islam in Europa. Für mich ist es nicht nur lästige Chronistenpflicht, sondern die originäre Aufgabe europäischer Muslime, an andere Bedeutungszusammenhänge als „Sicherheits- und Immigrationsprobleme“ zu erinnern.
Die ethnisch definierten Verbände des Islam in Deutschland erwecken bis heute den falschen Eindruck, als sei der Islam eine Kultur und eine Theologie, die sozusagen nur noch „vererbt“ wird. Kein Wunder also, dass neben der berechtigten Ablehnung einer aggressiven Missionierung auch keine großes Interesse an einem intelligenten Dialog über den Islam besteht.
Gleichzeitig verlagert sich heute die islamische Lehre aus dem Raum der Verbände und Moscheegemeinden hin zu den Lehrstühlen an den Universitäten, also zu einer zunehmend verstaatlichten Theologie, die sich wenig überraschend von den alten Bindungen des islamischen Rechts langsam entfernt. Ein Indiz für diese bedenkliche Entwicklung ist die Reduktion der islamischen Lebenspraxis auf einen „4-Säulen-Islam“, der die Zakatnahme – eigentlich neben dem Gebet eine der Prioritäten der Offenbarung – bewusst in seiner Bedeutung und Wichtigkeit verkennt.
Die Folgen dieses Trends sind nicht banal. Die Zakat und die damit zusammenhängenden islam-rechtlichen Implikationen verknüpfen den Islam nicht zufällig mit dem Feld der Ökonomie. Der größere Teil des islamischen Recht dreht sich um Fragen der Wirtschaft, des Handels und der Verträge. Die „neue“ islamische Theologie – die sich, gerade von diesem Teil des islamischen Rechts trennt – verliert somit die bedeutsame, vielleicht letzte, Möglichkeit einer Einwirkung auf die ökonomische Macht.
Islamische Theologie und ihr Selbstverständnis als Religionslehre überlässt so die „andere Welt“ den weltlichen Mächten und überlässt diese Sphäre – ohne störenden Widerspruch anzumelden – den muslimischen Parteien oder „islamische Banken“, die sich wiederum nicht um das Recht scheren. Als reine, dem Alltag enthobene Theologie hat die verwandelte Lehre dem politischen oder ökonomischen Extremismus – dem auch unsere Jugend ausgesetzt ist – nichts mehr entgegenzusetzen.
Es ist kein Wunder, dass die lautstarken Debatten um die Muslime die Kernbereiche des Islam bisher ignorieren. Es geht zunächst darum zu verstehen, dass der Islam auf keine ethnische Gruppe, auf keine Kultur begrenzt ist. Der Islam fördert keinen Rassismus oder Nationalismus. Muslime waren über Jahrhunderte eindrucksvoll in der Lage, andere Konfessionen nicht nur zu respektieren, sondern auch eigenen Raum zu gewähren. Wie das (aus säkular-ideologischer Sicht notwendig zu diffamierende) Beispiel deutscher und europäischer Muslime zeigt, ist ein angeblicher Kampf der Kulturen – schon wegen der kulturellen Vielfalt der Muslime selbst – zumindest aus islamischer Sicht absurd.
Im Islam findet der Teil der europäischen Philosophie, der sich von der christlichen Metaphysik abwendet, in Wahrheit seine letzten Herausforderungen. Als ich als junger Mann europäische Muslime traf, fragten sie mich, woran ich denn glaube. Ich antwortete: „Ich denke Nietzsche hat Recht, es gibt keinen Gott.“ Meine Gesprächspartner lächelten, dies sei, so meinten sie, ja immerhin schon der erste Teil der Schahada.
Bis heute begeistert mich, dass der Islam keine denkfeindlichen Grundsätze lehrt und die Einheit, nach der sich die deutsche Philosophie so lange sehnte, bestätigt. Als Lebenspraxis und als Recht, das gerade die politische Macht begrenzt, ist der Islam zutiefst inkompatibel mit modernen Ideologien. Das heißt nicht etwa, dass moderne islamische Staaten nicht ideologisch sein können, allerdings ist dies nur dann möglich, wenn sie als Staaten in ihrer Verfassung gerade andere politische Systeme als den Islam zum Vorbild nehmen.
Es gibt übrigens bis heute keinen modernen Staat, unabhängig von seiner politischen oder konfessionellen Ausrichtung, der die Zinsnahme verbietet.
Die Auswirkungen der Finanztechnologie, die uns unabhängig von unserer Konfession oder nationalen Zugehörigkeit beherrscht, ist für mich zweifellos die Schlüsselfrage dieses Jahrhunderts. Die daraus resultierende Herausforderungen werden nicht schon durch das schlichte Tragen eines Kopftuches oder eines islamischen Gewandes beantwortet. Der Islam stellt sich dieser Jahrhundertfrage nicht nur mit Theologie, sondern mit alltagstauglichen Alternativen, von deren Kenntnis das Gezänk um den politischen Islam bisher allerdings erfolgreich ablenkt. Ich habe bisher weder einen Extremisten noch einen Liberalen aus den Zirkeln des politischen Islam gehört, der die geringste Ahnung über das islamische Wirtschaftsrecht hat.
Eine freie Marktwirtschaft umfasst nach islamischer Sicht auch die Freiheit, die auf dem Marktplatz benutzten Zahlungsmittel auszuwählen und richtet sich gegen die heute übliche Abschaffung der Marktgesetze durch Monopole.
Der deutsche Pseudo-Konservativismus hat der ökonomischen Frage, die unser Leben heute entscheidend bestimmt, nichts Eigenes entgegenzustellen und sehnt sich in einer globalen Welt paradoxerweise nach „Heimat“ und „Nation“, ohne dabei den globalen Zusammenhang der Finanztechnik zu verstehen. Das Phänomen der Technik entzieht sich nationaler Kontrolle. Seine eigene, antiquierte Identität kann der Konservativismus nur noch mit einer Ideologie „gegen Andere“ – insbesondere gegen den Islam – bewahren. Folgerichtig müssen die Konservativen jeder echten Debatte mit deutschen Muslimen aus dem Weg gehen.
Die beliebte Logik „wir sind so gut, weil sie so böse sind“ verhindert – wie ich finde – gerade in Deutschland die notwendige Eigenreflexion im politischen Raum und erklärt wohl das übergroße Interesse der Öffentlichkeit an radikalen Kleingruppen. Sie sind als Feinde sehr nützlich und müssen daher gefördert werden.
Es gibt auch im Islam keine lebendige, zukunftsfähige Gemeinschaft ohne aktive Beteiligung der Frauen. In einer authentischen muslimischen Gemeinschaft gibt es – sozusagen als Indiz einer höheren Zivilisation – einflussreiche weibliche Gelehrte, Geschäftsfrauen und Funktionsträgerinnen. Ein kurzer Besuch in Mekka zeigt, dass es im Islam auch zum Glück keine schwarze Einheitskleidung gibt. Die Solidarität muslimischer Frauen untereinander und ihr traditionell starker Einfluss auf die Stiftungen sichert de facto ihren Einfluss.
Ist es Zufall, dass bei den modernen Verbänden weder Frauen noch Stiftungen irgendeine entscheidende Rolle spielen? Auch hier müssen die Theologen wieder einmal schweigen und den Umbau des politischen Islam zum religiösen Dienstleister, einem Betrieb mit Geschäftssinn und beschränkter Haftung schweigend zur Kenntnis nehmen.