Aufenthalt in Istanbul. Auf der asiatischen Seite, in Üsküdar, ist der Blick auf den Bosphorus atemberaubend. Auf der anderen Seite der Meerenge bilden die europäischen Stadtteile Istanbuls die größte islamische Metropole in Europa. Ich treffe mich hier wie immer mit Anwaltskollegen und Absolventen der Bosphorus Universität zum Essen. Die traditionelle Küche ist hier osmanisch geprägt. Das Gespräch dreht sich um die aktuelle Politik Tayyib Erdogans, der zur Zeit auf erstaunliche 60% Zustimmung in der Bevölkerung bauen kann. Ein erstaunlicher Wert. Ein Blick auf die Speisenkarte erklärt auch warum: hinter den osmanischen Gerichten sind die Preise neuerdings nicht mehr in „Millionenbeträge“ aufgeführt. Für ein Land, indem eine Inflationsrate von 100% keine Seltenheit war, natürlich ein erstaunlicher Erfolg.
Die Turkish Daily News spricht daher in Anspielung an die asiatischen Tiger (nach dem Währungscrash kurzzeitig eher Kätzchen…) schon von der neuen türkischen „Tigerökonomie“. Noch sitzt der Tiger allerdings im Käfig, es sind millionenschwere Zinsbeträge an den IWF zu bezahlen. Auch die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch.
Die Absolventen der Bosphorus Universität, die ihr Studium in der Weltsprache Englisch absolviert haben, sehen in Erdogan ein Symbol der neuen Türkei. Bei den Akademikern geniest Erdogan großes Vertrauen, auch weil er die Spannungen in der türkischen Gesellschaft nicht etwa erhöht, sondern eher abbaut. Man versteht, dass Erdogan einigermaßen vorsichtig agiert. Auch die türkischen Studentinnen, die auf Aufhebung des Kopftuchverbotes warten, sind geduldig. Schon in seiner Istanbuler Bürgermeisterzeit war seine Umsicht allgemein bewundert worden. Erdogan kann die türkische Gesellschaft durchaus versöhnen, auch wenn er nach der „politischen Woche“ regelmäßig zum Djumah-Gebet geht und seine Frau Kopftuch trägt. „Erdogan“ , so heißt es bei den Studierten, „kann der Präsident der ganzen Republik werden“.
