Ausnahmezustand, Sicherheitsgesetze, Terrorabwehr sind Begriffe, die in Deutschland seit dem Terror der RAF endlich überwunden schienen. Die Zeiten haben sich leider im Weltmaßstab geändert, wie jeder weiß. Nach spektakulären terroristischen Angriffen in den USA und Europa hat der allgemeine Terrorhype Hochkonjunktur. Die Angst geht um, seit Innenpolitiker nicht mehr das „ob“, sondern nur noch das „wann“ in Frage stellen. Der Boulevard sorgt für den Rest: Feuerbälle, Übertreibungen, Hochrechnungen über spektakuläre Opferzahlen.
Der „Kampf gegen den Terrorismus“ ist heute Schreckenszenario, Wirtschaftsfaktor und Medienspektakel gleichermaßen. Der Kampf schafft Opfer und Verdächtigungen, aber auch Arbeitsplätze bei Behörden und der boomenden Sicherheitsindustrie. Private und echte Verfassungsschützer, Lobbyisten, Journalisten und Politiker mischen aus unterschiedlichsten Motiven heraus bei der Feindaufklärung mit.
Es geht um Geld, Macht, Sicherheit. Natürlich haben auch Verschwörungstheorien auf allen Seiten Hochkonjunktur. In der Hitze der tausenden heißgestrickten, aber selten überprüften Berichte, Meldungen und Stellungnahmen ist es also wichtig, kühlen Kopf zu bewahren.
Jürgen Elsässer bewahrt kühlen Kopf. Der Journalist veröffentlicht pünktlich zum Jahrestag des 11. September mit seinem Buch „Terrorziel Europa“ eine erste substanzielle Bestandsaufnahme. Die Fallsammlung ist umfangreich. New York, London, Madrid und immer wieder – das in Sicherheitskreisen beinahe schon sagenumwobene – Ulm. Insbesondere in der idyllischen Donaumetropole treffen sich, wie man heute weiß, viele bunte Linien des in Deutschland agierenden Extremismus.
Was wissen wir wirklich und was wissen wir nicht? Jürgen Elsässer geht dieser Frage wohltuend unaufgeregt nach. Elsässer begegnet dem undurchsichtigen Milieu der Terroristen mit einer gehörigen Portion Skespis. Da sind fanatische Muslime, aber sie praktizieren nicht, da sind Profis am Werke, die doch dilettantisch sind, und schließlich legt Elsässer akribisch ein strukturelles Element frei: Das Netzwerk des Terrors ist nicht unerheblich auch durch diverse Geheimdienste, dubiose V-Leute und die Polizei unterwandert.
Der Autor sieht in seinen 300 Seiten Aufklärungsarbeit auch eine Enzyklopädie aller europäischen Anschläge und Anschlagsversuche, für die islamistische Täter verantwortlich gemacht wurden. In fast allen Fällen, so die eigentliche besorgniserregende Feststellung des Buches, spielten Agenten oder V-Männer von Geheimdiensten eine Rolle. Elsässer fasst seine provokante Kernthese so zusammen: „Kein einziger dieser Morde oder Mordversuche hätte ohne die Mithilfe der Staatssicherheit unternommen werden können.“
Ein typisches Beispiel ist Ulm. Elsässer widmet der Ulmer Szene viele interessante Seiten. Inmitten der paradoxen Szenerie ein Hassprediger, der gleichzeitig für den baden-württtembergischen Verfassungschutz arbeitete. Was ist seine Rolle, was sein Beitrag ? Bis heute geben sich die Experten der Stuttgarter Behörden wortkarg über die Rolle ihres V-Mannes und dürfen sich daher über Spekulationen nicht wundern. Ulm und der dort wirkende Salafismus war in ihren Verfassungsschutzberichten bis zum 11.9. merkwürdigerweise kein großes Thema. Ohne den V-Mann, könnte man heute zumindest mutmaßen, wäre die Ulmer Szene wohl kleiner, harmloser und überschaubarer geblieben.
In einem freien Land muss ein aktiver Journalismus, der nicht nur die Auflage bedient, natürlich nachfragen. Das ist hierzulande aber noch leider eher selten. „Dieses Buch“, so schreibt Elsässer im Vorspann diesbezüglich, „wird sich von fast allen deutschsprachigen Veröffentlichungen zum Thema Terrorismus unterscheiden. Bei den Kolleginnen und Kollegen der Journalistenzunft dominieren Paranoia und Islamophobie, und zwar unabhängig von der jeweiligen politischen Orientierung.“
Beispiele für Elsässers berechtigte Kollegenschelte gibt es wahrlich genug. So wirkt beispielsweise das „Spiegel“-Special zum Thema „Islamismus“ wie eine Gemeinschaftsarbeit mit den Sicherheitsbehörden. Islam, Islamismus, Terrorismus verschwimmen zu einem undurchdringlichen Geflecht. Nicht zu sprechen von der infamen Technik in dem „Spiegel“-„Dossier“, relativ harmlose deutsche Muslime und Massenmörder flugs nebeneinander auf einer Seite ins Bild zu rücken.
Die plärrende Hatz nach dem Terrorismus hat neben dem dramatischen Reputationsverlust der Muslime in Deutschland auch einen weiteren Nebeneffekt: Sie erschwert die Entdeckung der eigentlichen Botschaft des Islam.
Worum es geht, macht Elsässer im Schlusskapitel deutlich. Man mag den Begriff der „Putschisten“ übertrieben finden, um die angeblichen Absichten von autoritären Innenpolitikern zu beschreiben, aber dem Autor doch aber in der Sache Recht geben, dass es um nichts anderes als die Verteidigung der Freiheit geht. Der neue Staat, nach Hobbes ein „sterblicher Gott“, könnte auf Dauer in der Auseinandersetzung mit religiösen Fanatikern Maß und Verhältnismäßigkeit einbüßen und weitere wichtige Bürgerrechte zu Grabe tragen.
Zweifellos ist Elsässer ein mutiges Buch gelungen, beinahe ein Standardwerk für denjenigen, der wirklich mehr über die Hintergründe des Terrors wissen will. Um es klar zu stellen: Elsässer behauptet nicht, dass es keine, auch gefährliche muslimische Terroristen gebe oder etwa keine Gefahr bestünde. Der Autor will nur den Blick schärfen auf die abgründige Doppelwirkung des Terrorismus. Das ist ihm überzeugend gelungen. Allein die Entmythisierung des Gegners und eine nüchterne Sichtung der Fakten ermöglicht eine wirklich effektive Bekämpfung von Radikalen.
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