Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Muslime und moderne Ideologien

Europa in Trümmern. Der Zweite Weltkrieg hatte nicht nur Millionen Menschen den Tod gebracht, sondern mit dem Holocaust und den Lagern der Nazis auch ein Mahnmal der zynischen Massenvernichtung hinterlassen. Das Postulat Carl Schmitts, das Wesen des Politischen sei die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, und die berühmte Clausewitzsche Formel, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, hatten in die Dynamik des Weltkrieges geführt. Bis heute sieht sich die „deutsche“ Debatte über die Gefahren der modernen Ideologien in der Tradition dieser Ereignisse. Die bundesdeutsche Verfassung hatte unter dem Eindruck des Krieges der Möglichkeit politischer Totalität dauerhaft einen Riegel vorgeschoben. Dieser Riegel wird heute durch einen absoluten Sicherheitsapparat recht effektiv ergänzt.

Wenn es um Ideologie geht, werden immer wieder die Bilder der deutschen Traumata berührt. Das Beispiel der Hundertschaften islamischer Terroristen hat dazu natürlich auch einigen Grund gegeben. Selbstmörderische Todesverachtung erinnert an die Grundmotivation des deutschen Faschismus. Der gewaltbereite Islamismus, als moderne Ideologie, teilt dabei die modernistische Grundüberzeugung aller Ideologien, eine Welt ohne Feinde sei eine prinzipiell Bessere. Streit gibt es im Prinzip heute darüber, ob diese Horden eine Vorhut einer neuen modernistischen Massenideologie sind, gar die Logik der islamischen Lebenspraxis selbst oder aber nur eine privatisierte Form einiger islamischer Außenseiter.

Mehrere Jahrzehnte dachten die Muslime, der Staat sei etwas Neutrales, das der Islam islamisieren könne. Heute sehen viele Muslime, dass diese modernen Staaten beinahe alle islamischen Grundüberzeugungen neutralisiert haben. Die Ersetzung von Adab, korrektem islamischem Verhalten, durch die Knüppel der Religionspolizei ist ein solcher Vorgang. Der Westen sorgt sich über islamische Staaten, die geschichtlich eine Mischung aus Islam und modernen Staaten, also einen Staatsislam mit grenzenlosen technischen und militärischen Möglichkeiten, hervorgebracht haben. Ein „Dschihad“ mit Atombomben, das leuchtet jedem Denkenden ein, wäre nicht nur das Ende rationaler Abschreckungstheorien, sondern auch ein destruktives Fanal der Menschheitsgeschichte.

Eine der Schwächen der Debatte ist, dass der Begriff „Islamismus“ eine weitgehend unbestimmte Größe bleibt, die von interessierter dritter Seite auch gelegentlich als eine Art politischer Kampfbegriff benutzt wird. Die Titulierung eines Menschen mit dem Begriff „Islamist“ verkörpert zunehmend den absoluten Unwert, der letztlich auch Käfighaltung zu rechtfertigen vermag. Dabei wird bewusst ausgespielt, dass der Islam, wenn man ihn in seiner Ganzheit akzeptiert, auch öffentliche und politische Aspekte hat; man denke nur an die Zakat. Die Trennlinien zum „politischen Islam“ sind hier naturgemäß fließend. Wem es um Inhalte geht, den muss hier vor allem der Unterschied zwischen Tradition, Orthodoxie und Modernismus interessieren. Wem es dagegen weniger um Inhalte, sondern um die Bekämpfung des Islam geht, wird in diesen Tagen zielsicher genau diese Unterscheidungen unter den Tisch fallen lassen. Die Folge daraus könnte sein, dass, wieder einmal, eine orthodoxe Lebenspraxis dem deutschen populären Ordnungssinn widerspricht.

Die Problematik wird schnell klar, wenn man sich die einfache Frage stellt, ob Maulana Dschalaluddin Rumi, der die Schari’a voll und ganz wollte, nach der neuen Definition ein „Islamist“ war oder das Osmanische Reich ein „islamistisches Regime“. Mit anderen Worten, entscheidend ist nicht nur die Frage, ob der Islam eine politische Dimension hat oder nicht, sondern wohl vor allem die Frage, ob die Mittel, die von Muslimen für die Umsetzung der politischen Ziele verwendet werden oder verwandt wurden, notgedrungen „totalitär“ oder „faschistoid“ sind. Die Debatten über die politischen Möglichkeiten und Aggregatzustände des Islam sind jedenfalls längst, wenn auch aus unterschiedlichen Motivationen heraus, in vollem Gang.

Innerhalb der muslimischen Szene hat zweifellos ein Denkprozess über den Totalitarismus eingesetzt. In einigen modernen, autoritären islamischen Staaten stellt sich dabei die allgemeine Frage staatlich geprägter Subordinationsverhältnisse, mit welchem Einsatz und unter welchen Gefahren Widerstand möglich und sinnvoll ist. Keiner hat dieses Dilemma besser beschrieben als Hans Fallada in seinem Roman Jeder stirbt für sich allein. In Europa und unter anderen politischen Bedingungen haben sich Muslime durchaus, natürlich auch vor dem 11. September, gegen den Wahhabismus oder gegen den faschistoiden Terrorismus ausgesprochen. Der Erfahrungshorizont europäischer Muslime beinhaltet dabei beinahe logischerweise die Abweisung rassischer und nationalistischer Konzepte, welche zum Beispiel den heutigen Palästinakonflikt nicht unerheblich prägen. Es ist ja gerade eine der Befreiungen des Islam, dass unter seinem Dach so etwas wie der Goethesche Weltbürgergedanke möglich wird.

Die große Mehrheit der Muslime kennt natürlich auch das eigene Schicksal, das droht, wenn totalitäre Konzepte sich durchsetzen. Das Schicksal des jahrhundertelang wirksamen Sufismus in vielen Erdteilen spricht hier Bände. Totalitäre Konzepte haben insoweit ein negatives Element gemeinsam, als sie geradezu einen inneren und äußeren Feind brauchen, um zu bestehen und identitätsstiftend zu sein. Eine wirklich souveräne Geisteshaltung, wie der Sufismus, hat dies nicht nötig. Wie bei allen großen Geisteshaltungen geht es um etwas positiv Lebensbejahendes, geht es darum, für Allah, nicht gegen jemanden zu sein.

Schmerzhafte geschichtliche Erfahrungen mit dem Leben in politischen Systemen, aus Vergangenheit und Gegenwart, haben auch die Muslime genügend. Viele Islamismuskritiker, die heute in Deutschland leben, sind natürlich von den totalitären Umständen in ihren Heimatländern geprägt. In Deutschland hat einer der ältesten deutschen Muslime, Baschir Dultz, ein Dokument in Verwahrung, dass der Deutschen Muslim-Liga die Schließung durch die Nationalsozialisten wegen „ideologiefeindlicher“ Bestrebungen und der Pflege jüdischer Kontakte ankündigt. Die Schicksale von Muslimen in deutschen Konzentrationslagern und Kriegsgefangenenlagern sind ebenso dokumentiert. Das Schicksal des Islam in der ehemaligen Sowjetunion braucht ebenfalls keine langatmigen Erläuterungen.

Die Muslime sind heute durchaus intellektuell in der Lage, nicht nur die Gefahren, sondern auch die Beschränkungen heilsversprechender politischer Lösungsansätze zu sehen. Heideggers Analyse der Technik sollte auch Muslimen einsichtig machen, dass die politische Souveränität und letztlich auch die politische Ideologie in Auflösung befindlich ist. Das Gleiche gilt für das alte Freund-Feind-Denken. Das Feindliche als alter politischer Begriff kann heute kaum noch personifiziert werden. Wer die „Achse des Bösen“ bemüht, will in Wirklichkeit vielleicht weniger das Böse abschaffen, sondern profanerweise nur ein globales Tankstellennetz am Leben erhalten. Vielleicht gehört hier her auch die politische Leere, die die Gegnerschaft zum Islamismus und dem „Bösen“ letztlich kennzeichnet.

Es macht darüber hinaus wenig Sinn, Amerika zum politischen Feind zu erheben, leben dort doch recht unaufgeregt Millionen amerikanischer Muslime. Das heißt noch nicht, wie das hin und wieder als vertrauensschaffende Maßnahme verlangt wird, eine Art muslimischer Hurra-Demokratismus. Muslime sehen nicht nur, sondern teilen auf der anderen Seite auch die Sorge um den autoritären Kapitalismus, der Demokratie längst nicht mehr wirklich nötig hat und immer öfter seine ideologische Gegnerschaft zum politischen Islam betonen muss, um sich selbst zu legitimieren. In China haben Muslime über Jahrhunderte völlig autark und friedlich unter chinesischer Herrschaft gelebt. Heute sind sie das Opfer einer grausamen Biopolitik, die den Interessen einiger chinesischer Global Players dient. Es droht heute zweifellos ein ebenso gefährlicher ökonomischer Totalitarismus, der sich mit einer säkularen, anti-religiösen Ideologie vermischt. Man muss auch nicht unbedingt Muslim sein, um Jean Ziegler zuzustimmen, dass der Hunger die eigentliche bedrohliche Massenvernichtungswaffe dieses Jahrhunderts darstellt.

Im Deutschland des 21. Jahrhunderts werden inzwischen auch Stimmen lauter, die den Beweis der moralischen Integrität und des Vermögens, aus der Geschichte zu lernen, mehr im Hier und Jetzt als auf Gedenkfeiern fordern. „Schließt die Lager heute“, fällt hier mit „Wehret den Anfängen jetzt“ zusammen. An solchen Fragen kann man sich heute beweisen. Der liberale Vordenker und ehemalige FDP-Europapolitiker Ralf Dahrendorf hat davor gewarnt, Islamismus mit Totalitarismus gleichzusetzen. Er sei „vorsichtiger“ als der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer (der den Bosnienkrieg aus dem Fernsehsessel verfolgte) und eine Gruppe französischer Intellektueller, die von einem „dritten Totalitarismus“ sprächen und damit den „Islamismus“meinten. Er sehe allerdings auch, wie die Muslime selbst, dass „in der Ecke des Islamismus“ Gefahren lauerten. Vor allem dann, möchte man hinzufügen, wenn dieser sogenannte „Islamismus“ in Wort und Tat nichts anderes ist als eine Kopie der westlichen Ideologien.