Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Türkei – aus der Nähe, aus der Ferne

„Die Armee hasst Erdogan – wird sie auch eingreifen?“ (WELT Online)

Es ist beängstigend. Zwischen Ankara und Rabat gibt es praktisch kein muslimisches Land mehr ohne eine denkbare Bürgerkriegskonstellation. Es ist gerade im Medienzeitalter nicht leicht, den Überblick zu wahren, denn jedes moderne Medium findet ja im Chaos leicht die Bilder, schafft sie sogar notfalls heran, die zur Begründung der eigenen „Agenda“ verbreitet werden können. Der Subjektivität sind unter diesen Verhältnissen Tür und Tor geöffnet.

Ein zweiter Blick tut daher not.

Die pluralistische Gesellschaft ist in der Türkei explosiv, weil alte Freund-Feind Konstellationen, die intensiver sind als der Unterschied zwischen bürgerlichen Parteien, jederzeit auch mit anderen Mitteln als denen der Diskussion fortgesetzt werden können. Schiller hat die mögliche negative Dynamik des Religiösen und des Anti-Religiösen in derartigen Konstellationen bereits in seinem „30-jährigen Krieg“ beschrieben. Hinzu kommt eine neue Art des Zorns, die unabhängig von Inhalten operiert.

Das Urteilen und das Denken in den alten „gut-böse“-Schemata fällt schwer, wenn man sich die Auswirkungen der mehr oder weniger fundamentalen Gegensätze der modernen Türkei in Erinnerung ruft. Alle Parteiungen sind von diesen Begriffspaaren beeinflusst. Es gibt in diesem Kontext keine reine Lehre, denn in jedem Ansatz steckt auch ein „Fünkchen“ Wahrheit:

Stadtbevölkerung – Landbevölkerung Diktatur – Demokratie Kurden – Türken Junger Zorn – Alte Bürgerlichkeit Muslime – Alewiten Islam – Kemalismus Links – Rechts

In allen modernen Vielvölkerstaaten ist zudem der Begriff der Nation so heikel, wie das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit überhaupt.

Natürlich geht es also in Istanbul längst nicht mehr um Bäume. Schon die mögliche Instrumentalisierung von Polizei und Militär, vor und hinter den Kulissen, spricht gegen die Macht des Volkes. Es geht um die weitere Ausgestaltung der aktuellen Machtverhältnisse und die Aufarbeitung ehemals diktatorischer Verhältnisse.

Wenn jetzt der Westen als der große Lehrmeister der Demokratie auftritt, dann wohl unter dem Vorbehalt, dass auch unsere Lehre bisher nicht weiß, wie eine nationale Demokratie überleben und gleichzeitig das internationale Kapital mäßigen soll. Die Macht eines Sultans sieht keine Verfassung mehr vor, aber, auf die ungeheure Macht der Finanztechnik trifft die Verfassungswirklichkeit moderner Staaten, wo immer sie seien, im Grunde unvorbereitet.

Zweifellos hat Erdogan noch immer eine breite Mehrheit der Muslime hinter sich, wohlwissend, dass seine Partei programmatisch kaum aus der Tiefe des Islam schöpft. Nach wie vor sind alle Begriffe der Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe. Die Idee des moderaten politischen Islam ist ein ökonomisch gut aufgestellter Staat, letztlich nach westlichem Vorbild verfasst, wenn auch mit dem „moralischen“ Anspruch, ein Staatsgebilde ohne Alkohol und mit Kopftuch zu sein.

Ansonsten bringt die Form der Partei eben einen bestimmten Charakter hervor. Parteien sind immer auch diktatorisch. Widerspruch hat es schwer, nicht anders wie bei anderen Parteien, sei es die CDU, sei es die AKP.

Eines ist sicher, weiter gedacht, darf ein künftiger Nomos, wenn er würdige Lebensverhältnisse schaffen soll, durch keine islamisch oder säkular eingefärbte Ideologie getragen sein, die etwa glaubt, nur eine Welt ohne Feinde sei eine bessere. Die islamische Welt wird zu der alten, grenzenlosen Gelassenheit zurückfinden müssen, die Viertel mit unterschiedlicher Prägung in ein und der selben Stadt zuließen.