Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

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Vögel

„Hast du nicht gesehen, dass Allah es ist, Den alle lobpreisen, die in den Himmeln und auf Erden sind, und sogar die Vögel im Schwebeflug? Jedes (Geschöpf) kennt seine eigene (Weise von) Gebet und Lobpreisung. Und Allah weiß wohl, was sie tun.“ [An-Nur, Sure 24, 41]

Dass das Leben lebensgefährlich ist, betrachten wir als eine alte Binsenweisheit. Die letzten Jahre wurde diese uns angeborene Gelassenheit durch das staatliche Sicherheitsdogma aufgeweicht. Der Sinn des Staates erschien, mehr noch als seine Aufgabe, uns mit Arbeit und Solidarität zu dienen, in der Produktion von Sicherheit. Der Terrorismus und die Terrorismusgefahr erforderten, schallte es beinahe stündlich aus den Amtsstuben, eine neue gewaltige Maßnahmeninflation. Technokraten erdachten neue Formen der Beobachtung, Abschottung, subtilen Überwachung, umspannten uns mit Netzen biometrischer Erfassung in Form gesetzlicher Regelungen, die schnell zu Papier gebracht wurden und uns, mit dem Mittel der Übertragung in die Fernsehstuben, als Teil eines schäumenden Angstcocktails verabreicht wurden.

Gleichzeitig musste die menschliche Spezie gewaltige und unfassbare Katastrophen bezeugen. Erdbeben, Hurrikans, Flutwellen bis hin zu einem neuen unheimlichen und trickreichen Feind: dem Virus. Gegen diese Armeen kleiner Bösewichte helfen weder Visumpflicht, Glocken, noch der Limes, der uns sonst in Europa umgibt. Keinem noch so fein strukturierten Sicherheitsnetz ist es gelungen, die unsichtbare Hand, deren Wurf uns (wir meinen unverschämterweise) bedroht zu stoppen. Hier hilft auch keine Haustür, deren Schließen uns oft genug in die trügerische Sicherheit der privaten Sphäre entlässt. Uns wird einmal wieder nichts Anderes als das dünne Eis bewusst, auf dem wir von jeher stehen und dieses Eis wird auch nicht durch die Erklärungen über die Unberechenbarkeit einer uns scheinbar gegenüberstehenden „Natur“ tragfähiger für uns.

Es bleibt zu hoffen, dass kein Al-Kaida Kommando die Insel Rügen zur Einreise benutzt. Der feinmaschige Sicherheitsapparat war tagelang nicht in der Lage, das einfache Einsammeln toter Vögel zu veranlassen, bis endlich ein ganzes Heer eintraf, um mit großen Kanonen auf kleine Spatzen zu schießen. Das Virus nahme diese kleine sicherheitstechnische Verspätung unseres High-Tech-Sicherheitsapparates dankbar auf und verbabschiedete sich, ohne weitere Spuren zu hinterlassen, in alle Richtungen. Wie im berühmten Hitchcock-Film bringen uns nun Vögel um den Schlaf. Die Idee der absoluten Sicherheit, die unsere technologische Welt krönen sollte, ist uns mit einem Flügelschlag abhandengekommen. Sicher bleibt nur der, der lernt, die Angst als Erinnerung an den Sinn und die Aufgabe des Daseins zu verstehen.

„Sprache ist ein Virus“ heißt es in einem Lied von Laurie Anderson. Das stimmt. Uns bleibt nur die Stärkung unseres eigenen, geistigen Immun- und Begriffsystems, das Bewusstsein, dass wir von der Existenz getragen werden, und damit das, was sich uns offenbart, gegen die alleinige materielle Deutung der Phänomene in Stellung zu bringen. „Impfstoffe sind Handelsware, Geflügel sind Exportware, die Güte der Klassenmedizin ist nichts anderes als eine Frage des Geldes“, hören wir bereits. Am Horizont taucht bereits notwendigerweise die unheimliche Frage aller Biopolitik auf, wer wird auf wessen Entscheidung im Falle aller Fälle zuerst geimpft? Die Möglichkeiten der Lebensverlängerung sind dann eine Art letzter Statusfragen: Mein Haus, mein Auto, meine Krankenkasse.

Gesund sein und gesund bleiben ist gottlob etwas anderes. Vögel. Ich erinnere mich an einen Moment, auf meiner letzten Reise nach Mekka, als ich mich mit einem Becherchen Wasser auf den heiligen Boden setzte. Nirgends ist es so angenehm warm, so angenehm friedlich, als wenn man im Angesicht des alten Ritus angekommen ist. Und – tatsächlich klingt überall der feine Gesang unzähliger kleiner Vögel durch unseren einen Raum. Diese Vögel sind nicht von der Natur geschickt. Ihre Botschaft braucht einen Empfänger, dessen Sensoren nicht technischer Natur sind. Die Empfänger können dann frei entscheiden, ob sie die Hölle oder das Paradies anblickt.