Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

„Castingshow der Werte“

Schon länger verfolge ich mit einiger Skepsis die Kategorisierung der Muslime in zwei politisch verfasste Lager: die Konservativen und Liberalen. Zur Lagerbildung tragen recht einfach gehaltene Bilder und Assoziationen bei; der „liberale“ Muslim neigt zu Selbstzweifel und Relativierung des Islam, der „konservative“ Muslim angeblich zur Fanatisierung und Ideologisierung seiner Glaubensüberzeugungen. Über Jahrhunderte hatten viele große Muslime aber, man denke nur an Rumi, Ibn al Arabi oder Ibn Rushd, von heute aus gesehen, konservative und liberale Elemente. Der Islam der Gelehrten war weit, passte sich neuen Herausforderungen an, die Muslime definierten ihre Position selbst und es gab auch keine „globale“ Ideologie, die den Islam und die komplexen Lebenswelten der Muslime etwa uniformiert hätte.

Heute herrscht die Assoziationslogik. Die geförderte Assoziation des „liberalen“ Muslim ist die Demokratie, die verbreitete Assoziation des konservativen Muslim der Gottestaat. So einfach ist das. Beide Lager müssen nun im „öffentlichen Raum“ fortlaufend beweisen, dass sie liberal sind, am Besten, indem sie nicht praktizieren und im Falle, dass ihnen eine konservative Haltung unterstellt wird, mit der fortlaufenden Bezeugung, dass sie zumindest keine „Terroristen oder Ideologen“ sind. Unter dem Druck der Extreme verlieren die Muslime ihre natürliche Verankerung in der Mitte, bis zu dem Punkt, wo von außen die Mitte und damit der gute Muslim, als die Position vorgestellt wird, die gar nicht mehr den Islam praktiziert. Den höchst dotierten „Integrationspreis“ erhält schlußendlich ein Muslim, der nicht praktiziert. Auf junge Muslime wirkt diese Bildersprache destruktiv.

Das radikale Ende dieser Denkbewegung, mitsamt der „Skandalisierung der normalen Lebenspraxis“, von außen den Muslimen auferlegt, wäre also, ein „neuer“ Islam der Mitte, mit dem letzten Vorzeige-Muslim, der gar nicht mehr praktiziert. Obwohl das Bundesinnenminsterium den „liberalen“ Islam neuerdings offen zu fördern scheint, gibt es dabei fundamentale Probleme: ein „liberaler“ Muslim, der nicht mehr weiß, was der Islam eigentlich ist, kann nicht nur den Islam nicht glaubwürdig lehren, er kann auch jederzeit seine Position, ohne die Begrenzungen des Rechts, wechseln. Liberalismus und Extremismus teilen nebenbei erwähnt den mangelnden Respekt vor dem Recht. Ich bin oft schockiert, wie radikal „liberale“ Muslime werden können, wenn es um Palästina geht, während andererseits der „konservative“, aber immerhin klassisch gebildete Muslim die zahllosen Rechtsbrüche der Hamas durchaus anprangert und ablehnt.

Interessanterweise zeigen konservative und liberale Muslime, die gewohnt sind, politisch zu denken, wenig Interessen an ökonomischen Fragestellungen. Es sind aber die Fragen unserer Zeit. Ein Lehrer hat mir einmal erklärt, dass „alles, was heute im Islam für wichtig gehalten wird, früher im Grunde unwichtig war“. Das Kopftuch wird, dieser Logik folgend, heute zu einer Art ultimativem Glaubensinhalt. Das ist natürlich Quatsch. Ein Kopftuch sagt zunächst so wenig wie eine Visitenkarte. Wenn ich zum Beispiel eine muslimische Frau treffe, dann interessiert mich in erster Linie nicht, ob sie ein Kopftuch trägt, sondern ob sie die Zakat bezahlt. Mich interessiert, ob sie die fünf Säulen des Islam versteht und ob sie daraus resultierend eine nachvollziehbare muslimische Position hat. Eine Muslima, die Kopftuch trägt, aber nicht einmal weiß, was die Zakat überhaupt ist, mag nett sein, ist für mich aber noch keine „gute“ Muslimin.

Der Islam, der durch den Mittelweg und die Abneigung vor den Extremen, durch die Lebenspraxis von Millionen Muslimen und dies über einige Jahrhunderte definiert wurde, ist mit modernen politischen Begrifflichkeiten nicht voll zu fassen. Nur noch die Muslime lassen sich überhaupt wie Schafe in die alten antiquierten politischen Denkmodelle einpferchen. Anläßlich des „Werteparteitags“ der CDU lese ich heute zum Beispiel einige interessante, aufklärende Ausführungen eines Tübinger Professors.

„Die Politik denkt noch in Werte-Kategorien, die in der Gesellschaft quasi keine Rolle mehr spielen“, erklärt Professor Wertheimer. Begriffe wie konservativ oder liberal haben aus Sicht des Akademikers in den Augen der Bürger längst jeden Inhalt verloren. „Menschen denken heute nicht mehr in solchen Werte-Kategorien wie konservativ oder liberal, sondern wollen über konkrete Sachverhalte reden und entscheiden“. Für die Politiker sei der Rückgriff auf traditionelle Wertesysteme vor allem von strategischer Bedeutung. «Für Politiker sind Wertekategorien so ungeheuer faszinierend, weil sie eine klare Aussage zu beinhalten scheinen.

Wenn man also sagt: „Ich bin für Freiheit!“ „Ich bin für soziale Gerechtigkeit!“, „Ich bin für liberalen Islam!“ dann wird niemand mehr widersprechen. Aber zugleich weiß jeder, dass damit letztlich nichts ausgesagt wird.“

Wenn sich Parteien heute auf den Konservatismus, den Liberalismus oder den Sozialismus beriefen, sei das nichts anderes als eine „Castingshow der Werte“, sagt der Wissenschaftler. Dem ist nichts hinzuzufügen.