Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Islam und Modernismus, Arnold Hottinger in der NZZ: Eine Lehre im falschen Licht?

Zweifellos hat der Islam im 20.Jahrhunderts im Umgang mit Technik und Ideologie auch eine Wesensveränderung erfahren. Im Zusammenspiel mit den Titanen ist es schwerer geworden den eigentlichen Grund und Bedeutungszusammenhang des Islam nachzuvollziehen. Der Modernismus als eine ideologische Gegenbewegung gegen die „Besatzung“ bleibt natürlich Kind der Moderne. Politischer Islam ist dabei immer auch eine Reduzierung der ganzheitlichen Offenbarung auf den aktuellen politischen Nutzen. Als „liberaler“ oder „fundamentalistischer“ Islam kann er gleichermaßen nichts mit der ökonomischen Komponente der Offenbarung anfangen. Die Mischung Islam und Ideologie in der Moderne versucht Arnold Hottinger einmal anzudeuten:

Das Gedankengut der islamischen Fundamentalisten wird oft auf die wahhabitische oder salafitische Interpretation des Islams zurückgeführt; beide Lehren orientieren sich an der Glaubenspraxis in der Frühzeit der Religion. Allerdings ist ihre radikale und ideologisierte Form erst ein Produkt des späten 20. Jahrhunderts.

Begriffe wie Salafiya, Wahhabiya, Fundamentalismus tragen wenig zur Klärung der Hintergründe bei, aus denen die radikalen, sich selbst als islamisch bezeichnenden Gruppen von nahöstlichen Terroristen hervorgehen, gegen welche Washington heute einen Anti-Terror-Krieg führen möchte. Die Salafiya umfasst so gut wie den ganzen modernen Islam. Der Begriff ist Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, um die Ausrichtung jener Gottesgelehrten zu bezeichnen, welche die damals als mittelalterlich und unmodern angesehenen Auswüchse der Religion bekämpfen wollten, wie sie unter den Stichworten «Heiligenverehrung», «Fatalismus», «Wundergläubigkeit und Wundersucht» zusammengefasst werden konnten. Sie setzten die Nachfolge (salaf) des Propheten und seiner frühen Gläubigen zum Massstab für den rechten, zeitgemässen Glauben. Zu den Begründern der Salafiya gehören die grossen Erneuerer des gegenwärtigen Islams wie Muhammed Abduh (1849-1905) und seine Schüler. Einer der Schüler war auch der intellektuelle Vater der ägyptischen Frauenemanzipation, Qasim Amin (1865-1908). Die Salafiya begann also als das genaue Gegenteil eines engen, fanatischen Radikalismus.

Die Wahhabiya war ihrerseits eine spezifische Entwicklung der Arabischen Halbinsel. Auch sie griff auf das Vorbild des Propheten und seiner frühen Gemeinde der Gläubigen zurück. Dieses liess sich auf der damals weitgehend durch das beduinische Modell geprägten Halbinsel relativ leicht reproduzieren, weil sich die dortige Gesellschaft seit der Zeit des Propheten nicht sehr stark verändert hatte. Der Wahhabismus hat seit 1746 drei saudische Dynastien hervorgebracht und getragen, deren letzte, von Abdel Aziz ibn Saud im Jahr 1902 gegründet, 1929 und 1930 einen Aufstand der radikalen Wahhabiten im Namen einer saudischen Staatsräson niederschlug.

Von der Sekte zur Ideologie

Im 20. Jahrhundert entwickelte sich als Randerscheinung neben der bis heute vorherrschenden Salafiya unter dem Druck der Kanonenbootdiplomatie, des Kolonialismus, der Erfolge des Zionismus und der Misserfolge des arabischen Nationalismus, was man mit Reinhard Schulze («Geschichte des Islams im 20. Jahrhundert», München 1994) als «Neo-Salafiya» bezeichnen kann. Diese bestand aus einer Reihe von Kleingruppen, deren wichtigste die in Ägypten 1928 gegründeten Muslimbrüder waren. Ihre Lehren dehnten sich später auf den gesamten islamischen Raum aus. Theologisch unterschied sich die Neo-Salafiya von der Salafiya in erster Linie durch ihre Ablehnung der Interpretationen und Auslegungen, die den Gelehrten der Salafiya dazu dienten, ihren Glauben mit der modernen Welt in Einklang zu bringen. Doch wichtiger waren die politischen Unterschiede: Die Neo-Salafiya geriet in immer schärferen Gegensatz zu den bestehenden Staaten und ihren «modernisierenden», nationalistischen Machthabern. Während die Salafiya mit den Regimen zusammenlebte, verurteilten die neosalafitischen Kleingruppen ihre eigenen Regierungen als «heidnisch». Sie warfen ihnen ihre beständig wachsende Übernahme und Nachahmung westlicher und in ihrer Sicht unislamischer Lebensformen vor.

In der Zeit Abdel Nassers kam es zu einem politischen Zusammenschluss der saudischen Herrscher, die seit 1963 unter dem Druck des nasserschen Panarabismus standen, und der Muslimbrüder, deren ägyptische und syrische Lenker von Nasser zusammen mit den Kommunisten in Konzentrationslager eingesperrt wurden. König Faisal begann mit ihrer Hilfe eine «islamische» Politik neosalafitischer Orientierung, deren Spitze sich gegen den arabischen Nationalismus und Sozialismus Nassers richtete. In jener Zeit des Kampfes der neosalafitischen Kleingruppen gegen den Nationalismus kam es zu ihrer für die heutige Lage entscheidenden Ideologisierung. Sie entwickelten sich von Sekten zu Ideologien, weil sie als Gegenideologie gegen den arabischen Nationalismus eingesetzt wurden und auftraten. Ihre ursprünglich religiöse, das heisst von Gott erhoffte Heilserwartung in dieser und jener Welt wurde zum diesseitigen und politischen Heilsversprechen von Ideologen, welche ihr aus islamischen Versatzstücken gebasteltes Ideengebäude zuerst im arabischen und später im gesamten islamischen Raum als Vehikel für ihren eigenen politischen Aufstieg verwendeten.

Religion als Protest

Als 1967 der arabische Nationalismus seine entscheidende Niederlage durch Israel erlitt und dadurch unglaubwürdig wurde, erreichte die als Kampfideologie gegen ihn entstandene islamistische Ideologie den Durchbruch von einer Minderheitslehre zur führenden Protest- und Oppositionsideologie – zuerst im arabischen und später auch, mit der Hilfe verschiedener weiterer lokaler Ideologen, fast im gesamten islamischen Raum. Die Entstehung des islamistischen Terrorismus lässt sich nicht aus der Salafiya oder der Wahhabiya erklären. Sie entstand durch die Ideologisierung von neosalafitischen Sekten, die von neowahhabitischen Machthabern unterstützt wurden. Die islamistische Ideologie erwuchs aus volkstümlicher Reaktion auf kolonialistischen Druck und späteres kommunistisches (in Afghanistan) sowie zionistisches und amerikanisches Machtstreben (in Palästina, in Libanon und neuerdings im Irak), und sie entwickelte sich nach dem weitgehenden Versagen des Nationalismus in fast allen Teilen des gesamten islamischen Raumes zur heute führenden Protest- und Widerstandsideologie.