Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

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Jean-Christophe Rufins utopisches Weltpanorama „Globalia“

George Orwells bitterböse Utopie 1984 war nicht unbedingt Kritik an der schwächelnden Demokratie seiner Zeit. Dies galt schon eher für Aldous Huxleys totalitäre und dabei so Schöne neue Welt. Um die Zukunftschancen gefährdeter demokratischer Werte, ausgebeult von der Globalisierung, den Folgen des internationalen Terrorismus und einer politisch korrekten Gleichmacherei geht es nun Jean-Christophe Rufin (52), einem «Enkel» der beiden Visionäre. In dem Roman Globalia schlägt er ernst und dennoch unterhaltsam Alarm.

Mit dem Franzosen Rufin tritt ein intelligenter Hansdampf in allen Gassen in die recht großen Fußstapfen dieser Vorbilder. Er entwirft das Horrorbild einer seelenlosen Welt unter mit Schönwetterkanonen klimatisierten Glasglocken. Eine Wirtschaftsclique zieht insgeheim alle Fäden. Jenseits dieser scheinperfekten Gesellschaft, in der es unter den Megahauben keine Nationen und Rassen mehr gibt, leben in Non-Zonen «draußen» verelendete Stämme, Mafiosi und unverbesserliche Terroristen inmitten bizarrer Schrottberge früherer Zivilisationen.

Konflikte und Kriege unserer Zeit scheinen in Globalia längst der Vergangenheit anzugehören. In dem bewachten Weltstaat gilt ein Interesse an Geschichte, an dem, was früher mal war, als Verrat an der Verfassung. Wer das Glashaus verlässt, ist kriminell. Und: Die geschönte Erscheinung eines dynamischen 100-Jährigen ist das Ideal.

In Rufins Globalia lässt somit auch Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott in einer recht grotesken Weise grüßen. In der ins Unkenntliche verbogenen Demokratie von übermorgen zählen Alter und Erfahrung. Und wer mit all dem nicht zurecht kommt, einem solchen unverbesserlichen Außenseiter wird der Krieg erklärt – und zwar von den Mächtigen hinter den Kulissen. Normalerweise reicht zwar eine «Gesellschaftsschutz» genannte globale Überwachungsbehörde aus, die lethargische Bevölkerung ruhig zu stellen. Aber nur normalerweise…

Der engagierte und in Frankreich bereits mit einigen Preisen bedachte Autor versteckt sich in seinem Roman hinter dem aufmüpfigen jungen Liebespaar Baikal und Kate, das aus dieser ebenso falschen wie langweiligen Welt heraus und der Gängelei unter den Glasglocken ein Ende setzen will. Doch den Argusaugen eines zynischen Weltsystems à la Globalia entkommen solche mutigen Rebellen natürlich nicht.

Die teuflische und raffinierte Idee, Baikal in die Non-Zonen zu verbannen und dann als Terroristen der neuen Art in den Medien von Globalia Horror und Schrecken verbreiten zu lassen, scheint genial und Erfolg versprechend. Denn neue Terroristen braucht das Land – schon jetzt müssen Bombenanschläge inszeniert werden, damit alle ein Feindbild haben und die Furcht die Welt auch weiterhin zusammenhält.

Als Mitbegründer der Ärzte ohne Grenzen, absoluter Kenner des Nord-Süd-Problems und heutiger Vorsitzender der Organisation «Aktion gegen den Hunger» ahnt Rufin sehr wohl, wohin die Welt treibt. «Die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voranging, zu vergleichen sein» – diese scharfsinnige Warnung des Demokratie- und Amerika-Kenners Alexis de Tocqueville («Über die Demokratie in Amerika») steht als Motto über Rufins Anliegen, Roman und Essay in «Globalia» zusammenzuführen.

Wert war es der Versuch allemal, auch wenn vieles dabei nicht so gut verschmilzt, konstruiert und klischeehaft wirkt oder wie eine zu durchsichtige Verlängerung heutzutage bereits erkennbarer Tendenzen. Dem Politologen, Globetrotter und Goncourt-Preisträger (für «Rouge Brésil») ist ein spannender Zukunftsroman geglückt, ein glühendes Plädoyer gegen Gleichmacherei in einer globalisierten Welt – und für eine wachsame und soziale Demokratie, die Individualität zulässt und Dämme gegen unterschwellige totalitäre Strömungen zu bauen vermag.

Jean-Christophe Rufin: Globalia Kiepenheuer & Witsch, Köln 512 S., Euro 22,90 ISBN 3-462-03471-5