Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Das Chaos in Afghanistan

Gerade Kriegszeiten eignen sich naturgemäß besonders gut zur verkürzten Darstellung. Dies gilt im Zeitalter der Medien gerade auch hinter den Feindeslinien. Aus der antiquierten Freund-Feind-Perspektive des Krieges ist der Feind naturgemäß, wenn auch auf Zeit, das schlichte Böse. Mann kann sagen, dass sich bei allen modernen Ideologien die Überzeugung durchgesetzt hat, dass eine gute und moderne Welt nur durch die Vernichtung des Feindes wirklich werden könne. Der so genannte Krieg gegen den Terror folgt dieser Logik mit dem Ziel der Vernichtung aller Terroristen. Nach der internationalen Ächtung des Krieges und der Verbreitung von Werten mit globalem Geltungsanspruch hat sich das moderne Feindbild geändert.

Der Feind ist heute nicht mehr nur der zeitweilig „böse“ Gegner, mit dem man aber auch Frieden schließen kann, sondern ein Verbrecher und damit nichts Anderes als ein zu vernichtender Unwert. Der unscharf gehaltene Begriff „Islamismus“ ermöglicht eine Art mediales Flächenbombardement auf alles Muslimische mit einer politischen Option. In Afghanistan zeigt sich bereits das Lager – ganz im Sinne Agambens – als eine praktische Spielart der Herrschaft in der Moderne.

Die afghanische Gesellschaft wird immer wieder auf ein angebliches „Mittelalter“, von dem es befreit werden müsse, reduziert. Die barbarische Ungenauigkeit des Luftkrieges korrespondiert dabei merkwürdig mit der Verfeinerung der humanistischen Argumentation in der Öffentlichkeit. Der Afghanistan-Experte Dr. Conrad Schetter bezeichnete Afghanistan sogar im Ganzen als eine Art Umerziehungslager: „Jeder Ausländer, der in Afghanistan tätig ist, geht wie selbstverständlich davon aus, dass die westliche Gesellschaftsordnung der afghanischen überlegen ist“.1

Das Fehlen eines echten Nomos zeigt sich besonders in Kabul. Über tausend ausländische NGO’s lehren, beinflussen, versorgen und indoktrinieren die Afghanen. In Kabul etablieren sich „Foltergefängnisse“ neben einer Station des „Roten Kreuzes“, hier gibt es Pragmatiker, die das Büro der größten Privatarmee der Welt betreiben und eine Außenstelle deutscher Idealisten, die Prothesen vertreiben. Chinesische Bordelle sind genauso anzutreffen wie eine Dependance des Goethe-Instituts. Chaos, als eine Beschreibung dieser „Ordnung ohne Ortung“, wäre für das verwirrende Zusammenspiel unterschiedlichster Loyalitäten nicht ganz unpassend. Man sieht schnell ein, dass ein einfaches bipolares Weltbild hier nicht genügt. Weder auf westlicher Seite noch auf islamisch-afghanischer Seite ist nach Jahrzehnten geistigen Raubbaus eine reine, dogmatisch einwandfreie Umsetzung irgendeiner Lehre zu erkennen. Unter dem beklagenswerten Eindruck des wuchernden Drogenanbaus, perverser Selbstmordattentate, allgemeiner Folter, wachsender Prostitution und letztlich der Anarchie ist die allgemeine Krise des Rechts, sei es Völkerrecht, Staatslehre oder islamisches Recht, nicht mehr zu übersehen.

Das Ganze schreit eigentlich zum Himmel. Vergleicht man die aktuelle Debatte über unseren Krieg in Kabul mit der 68er Generation und der zum Krieg in Vietnam, dann fällt die Leidenschaftslosigkeit, gar die schleichende Entpolitisierung der ganzen Debatte auf. Daran ändert auch nichts, dass nach einer Emnid-Umfrage über 60 Prozent aller Deutschen gegen den Krieg am Hindukusch sind. Im Abendprogramm genügt bereits die schlichte Markierung lebloser Körper mit ungenauen, aber in der Wirkung beinahe magischen Schlüsselworten wie „Islamist“, „Taliban“, „Terrorist“, um die flächendeckende Bombardierung von Landstrichen oder das Auslöschen ganzer Siedlungen aus luftiger Höhe flugs und ohne große störende Nachfragen zu legitimieren. Die Funktion des unwerten Feindes dient dabei auch dazu, von der eigenen Methodik abzulenken. Wir sind gut, weil sie böse sind. „Wer die Interpretationshoheit besitzt, die Kämpfer für eine fremde Sache zu Terroristen zu deklarieren, verschiebt die Terrorwahrnehmung systematisch von der Ebene der Methoden auf die der gegnerischen Gruppe und kann sich dadurch selbst aus der Bildfläche zurückziehen“ beschreibt Peter Sloterdijk den Propagandaeffekt.2

Der Forscherdrang nach dem Umfang der zivilen Opfer war schon nach den ersten Luftschlägen im Grunde erloschen. So gibt es bis heute keine Nachfrage nach offiziellen, glaubwürdigen Studien über das Schicksal ziviler Opfer seit dem Beginn des Feldzuges. Nach Angaben des amerikanischen Professors Dr. Marc Herold soll es aber unter der Zivilbevölkerung in Afghanistan von Oktober 2001 bis Juni 2007 mindestens 6.303 Tote gegeben haben.3 Auf die Frage, wo denn die Taliban genau aufträten, antwortete der NATO-General Egon Ramms im Deutschlandfunk lapidar: „Sie treten auf in ihrem unmittelbaren Umfeld, das heißt dort, wo sie wohnen“.4 Wie unterscheidet man aber einen ideologisierten Taliban von einem einfachen Bauern? Im – sozusagen – geistigen Export in alle Welt dienen die Taliban nebenbei zur medienwirksamen Verfestigung der Theorie eines angeblichen, weltweit bedrohlichen Verwandtschaftsverhältnisses zwischen allen „Islamisten“, die ja als „Verbrecher“, „Massenmörder“ oder „türkischer Gemüsehändler mit Funktionärsamt“ nach dieser Logik irgendwie zusammengehören.

Gleichzeitig erlischt die Debatte über die Grundwidersprüchlichkeiten des Konfliktes selbst. In Deutschland ist schon die sanfteste Debatte über die – aus Sicht der Effizienz – überfällige Zusammenlegung des Saarlandes mit Rheinland-Pfalz ein politisches Tabu. In Afghanistan, wo 30 verschiedene Völker leben, soll flugs ein Nationalstaat nach unseren Erwartungen entstehen. Das gewaltsame Erzwingen einer Einheit von Volk und Territorium, mitsamt der künstlichen Bildung (Staatsschulden, Fußballteam) eines „afghanischen“ Nationalismus, setzen wir nach wie vor, quasi als unser ureigenes Naturrecht und völlig unbefragt, voraus. Die einzige denkbare Klammer für dieses komplizierte Unterfangen der Völkerverständigung war über Jahrhunderte der Islam, dem eine „Regierung ohne Staat“ nicht fremd ist. Das „Nation-Building“ so Peter Scholl-Latour spöttisch, ist „nichts anderes als eine von Berliner Politikern ausgedachte Utopie“.

Das Argument für die schnelle Staatenbildung ist dabei längst nicht mehr allein die Förderung einer nationalen Souveränität. Recherchiert man über die Sicht der politischen Stiftungen in Deutschland über Afghanistan, dann fällt immer wieder die beinahe naive Ausschaltung der ökonomischen Interessen innerhalb dieses Konfliktes auf. Insbesondere das Stichwort „Rüstungsgeschäfte“ und die Einbeziehung der Interessen von Firmen wie beispielsweise „Rheinmetall“ kommt praktisch bei keiner der Studien der bekannten politischen Stiftungen vor. Verschwiegen wird geflissentlich, dass das Kriegsgebiet am Hindukusch heute eine der größten Absatzregionen westlicher Waffensysteme darstellt.

Wie der Rheinmetall-Konzern in seinem jüngsten Geschäftsbericht mitteilte, wird sich „allein in Deutschland der Anteil der militärischen Beschaffungen und Entwicklungskosten von 5,3 Milliarden Euro 2007 auf 5,9 Milliarden Euro 2008 erhöhen.“5 Ein halbes Jahr Tornados kostet uns bereits 35 Millionen Euro. Die militärische Beteiligung Deutschlands für ein Jahr beläuft sich auf 530 Millionen Euro. Nach einer launischen Stellungnahme der LINKEN gehen „90 Prozent der Gelder, die die NATO-Staaten für Afghanistan ausgeben, in den Militäreinsatz“.

Der Krieg ist längst ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Kein Wunder, dass man sogar die – im ersten Moment verschwörungstheoretisch wirkende – Behauptung bei kritischen Afghanen findet, dass ein Erstarken der Taliban in manchen Militärkreisen gar nicht so unwillkommen sei. Einige Gegner des Krieges sehen in Afghanistan ein „Terrain für Waffenexperimente und eine Inszenierung der NATO in einem so genannten „Katz- und Mausspiel“.6 Die dauerhafte Absicherung ökonomischer Interessen ist einer der wichtigsten Gesichtspunkte der „eingeschränkten Souveränität“.

In der „Afghanistan-Studie“ der deutschen Böll-Stiftung heißt es über diesen Punkt des westlichen Maßnahmenkatalogs relativ lapidar und wenig hintergündig : „Beratung der afghanischen Regierung bei der Gestaltung einer investions- und unternehmerfreundlichen Wirtschaftsverfassung“.7

Wenig erforscht ist bisher ein anderer Tatbestand des globalen Kapitalismus, der sich in Afghanistan klar abzeichnet: die Integration der Drogenwirtschaft in das westliche Finanzsystem. In Afghanistan sind die, wie es die italienische Journalistin Napoleoni nennt, „Zuhälter der Globalisierung“ offen international vernetzt, ohne dass diese Herren befürchten müssten, in einen Bombenhagel zu geraten. Sogar Berichte der UN und der Weltbank beklagen die Nähe der afghanischen Administration zum internationalen Drogenhandel. Der Anteil der Drogenwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt betrug 2006 ca. 46 Prozent. In Afghanistan gibt es 36 bekannte Drogenfabriken, keine einzige Drogenfabrik wurde in den letzten sechs Jahren zerstört. Der Spiegel schreibt im Jahr 2005 ernüchtert: „Es ist eine Groteske der Geschichte. Was die islamistischen Taleban nicht taten, schafft ausgerechnet das von den USA geförderte Afghanistan des Paschtunen-Fürsten Hamid Karsai, den Westen mit einer Drogenflut zu überschwemmen.“

Begrüßenswerterweise setzt sich immerhin die Einsicht durch, dass eine regionale Ordnung nicht gegen die Afghanen durchsetzbar ist. Man muss hinzufügen, dass eine echte Ordnung wohl auch nicht gegen den Islam durchgesetzt werden kann. Das heutige Chaos in Afghanistan dient dem Geschäftstrieb ökonomischer Machtgruppen. Man sollte nicht übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten die Lehre des Islam in Afghanistan tödlichen Gefahren ausgesetzt war. Eine funktionierende Lehre, den Traditionen der Afghanen entsprechend, wäre das eigentliche Gegenmittel gegen den wachsenden Einfluss des Iran, der Drogenwirtschaft und neuerdings von zahlreichen Selbstmordattentaten. Die Muslime wieder islamisch auszubilden, diesem interessanten Ansatz geht beispielsweise die Konrad-Adenauer-Stiftung nach, indem sie in einer Fachtagung die Muslime an das kategorische Verbot des Selbstmordes in der islamischen Lehre erinnert.

1 Dr. Conrad Schetter; Das Umerziehungslager des Westens, Süddeutsche Zeitung vom 1.6.2006 2 Peter Sloterdijk 3 Marc Herold, Afghanistan, ein Lehrfeld: Typische Regierung des Neokolonialismus 4 Interview im Deutschlandradio vom 22.06.2008 5 Geschäftsbericht Rheimetall AG 2007 6 so Sabour Zamani; Afghanistan heute, Eine politische Bilanz; S. 5 7 Ute Koczy, Brabara Unmüßig, Afghanistan, S. 29