(iz). Der Blick zurück dient nur noch dem Lernen. „Die Schwere der Bombardements hat den wenigen Krankenhäusern, die noch rund um die Uhr arbeiteten, massiven Schaden zugefügt“, erklärte Teresa Sancristoval (Ärzte ohne Grenzen) im November zur dramatischen Lage in Aleppo. Seit der Belagerung im Juli wurden Krankenhäuser in Ost-Aleppo über 30 Mal Ziele von Bombenangriffen. „Unsere Botschaft“, so liest man weiter „ist einfach, aber ich weiß nicht, wie wir es noch lauter sagen können: Hört auf, Krankenhäuser zu bombardieren!“
Foto: Bassel Halabi | UNICEF
Das erschütternde Dokument über den Zustand des internationalen Völkerrechts hat eine längere Vorgeschichte. Im Jahr 2013 hatte bereits der Kolumnist der New York Times, Nick Kristof, Syrien als die „Welthauptstadt des menschlichen Leidens“ nominiert.
Eine Woche danach beschrieb die Ärztin und Menschenrechtsaktivistin Anny Sparrow auf der Seite „Syria Deeply“ – in einer Konkretisierung – die unzähligen Angriffe auf Krankenhäuser und Ärzte in Syrien. Die Aktivistin fokussierte sich in ihrem Beitrag weniger auf die Beurteilung der geopolitischen Interessen der beteiligten Kriegsparteien, sondern auf einen zynischen Trend in der modernen Kriegsführung selbst. Ärzte und Patienten sind nicht mehr Neutrale, sondern bewusste Ziele militärischer Kriegsführung.
Das zynische Kalkül dahinter bringt der syrische Arzt Sufian Az-Zoubi auf den Punkt: „Töte einen Doktor und Du tötest Tausende.“ Damit ist der Restbestand möglicher Neutralität und gleichzeitig ein Kernbestand des internationalen Rechts vernichtet.
Sparrow führte damals weiter aus, dass ihr diese Art von Verletzungen auch aus anderen Konflikten, zum Beispiel dem Bosnienkrieg, bekannt seien. Aber, so argumentierte sie weiter: „Ich habe nirgendwo sonst die Häufigkeit der Verletzung der medizinischen Neutralität erlebt“. Ihre Quintessenz ist dementsprechend erschütternd und klingt bis heute nach: „Die medizinische Versorgung vorzuenthalten, ist endgültig eine neue Waffe der Massenvernichtung“.
Es passt in das Bild, dass der syrische Machthaber Assad auf diesbezügliche Nachfragen des australischen Senders SBS im Juli 2016 ausweichend und zynisch antwortete, seine Regierung habe kein Interesse an dem Angriff auf Krankenhäuser.
Aktuelle Kriegsverbrecher wissen natürlich, warum sie derartigen Fragen ausweichen müssen. Wissenschaftler wie Widney Brown, von den „Physikern für Menschenrechte“, weisen auf einen weiteren Grund für die Angriffe hin: Sie sind wichtige Zeugen für die Dokumentation schwerster Menschenrechtsverletzungen wie den Folgen von Giftgasangriffen.
Natürlich wäre es zu einfach, derartige, bewusste Attacken auf medizinische Einrichtungen allein Assad und seinem Regime vorzuwerfen. Im Jemen wurden zum Beispiel seit 2015 rund 70 Krankenhäuser Ziele militärischer Angriffe.
Unlängst hat auch ein operativer „Präzisionsangriff“ der US-Amerikaner auf das Al-Salaam Krankenhaus in Mosul für Empörung gesorgt. Begründet wurde der Schlag damit, dass IS-Kämpfer das Areal zu Kriegszwecken zweckentfremdet hätten. Das mag wahr sein. Allerdings hätte nach internationalem Recht zumindest eine Warnung erfolgen müssen.
Derek Gregory führt nun in seinem lesenswerten Blog über das Unwesen moderner Kriegsführung die topologische Figur „death of the clinic“ ein. Sie beschreibt die Ausnahme von der Ausnahme: Der letzte neutrale Ort des Krankenhauses wird endgültig seiner sakralen Schutzfunktion beraubt.
Akzeptieren wir diesen Sachverhalt, halten wir ihn gar als Kollateralschaden für ideologisch gerechtfertigt, endet unwiderruflich eine der letzten Festungen des humanitären Rechts. Eine Beobachtung, die natürlich auch für die Mäßigungen des islamischen Rechts gilt, insoweit, als auch muslimische Kämpfer die Logik des totalen Krieges, ohne Rücksicht auf Verluste, längst akzeptieren.
Gregory weist aber auch darauf hin, dass wir den „Ärzten ohne Grenzen“ unsere absolute Solidarität schulden. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie auf die Stufe des nackten Lebens (Homo Sacer) degradiert werden.
Es gibt in dieser Frage keinen politischen Interpretationsspielraum. Weil dem so ist, kann die Empörung über die Eskalation Grundlage des gemeinsamen Engagements unterschiedlicher Überzeugungen werden.
Die betroffenen Mediziner und ihre Helfer wehren sich nicht nur und sind bereit, für ihr humanitäres Anliegen zu sterben, sie sind mehr denn je auf unsere lautstarke Hilfe angewiesen.
Jenseits der involvierten politischen Interessen der Groß- und Regionalmächte, mitsamt den Gründen und Abgründen ihrer militärischen Interventionen, beschreiben Autoren wie Gregory, Sparrow und Kristof den eisigen Kern des Angriffs auf unsere globalen Zivilgesellschaften.
Halten wir fest: Spätestens seit 2013 hätten die Zivilgesellschaften und ihre Repräsentanten, gerade auch die der muslimischen Zivilgesellschaft, stärker mobilisieren müssen.
Wenn es eine Lehre aus dem Inferno Aleppos gibt, dann diese.