„Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.” Dieter Hildebrandt (1927-2013)
Seit Jahrzehnten drehen sich Aufmerksamkeit und Teile der Lebensenergie von Muslimen um das so zentrale, wie allerdings auch facettenreiche Thema eines „politischen Islam“. Bei der Beurteilung dieser Phänomene liegt Streit nahe; auch deswegen, weil jede „Parteipolitik“ immer von Gegnerschaft abhängt und ihrem Wesen nach subjektiv sein muss.
Einigkeit besteht heute allein in der allgemeinen Verurteilung extremer Politikansätze, dem von Muslimen zu verantwortenden Terrorismus und anderen obskuren Ideen einer Ideologisierung unserer Lebenspraxis.
In diesen Monaten zeigen sich anhand der Beispiele Ägypten und Türkei neue Hinweise auf das Schicksal ehemals populärer Entwürfe, die um das politische Engagement von Muslimen unter den Rahmenbedingungen säkularer Staaten kreisen.
Im Falle Ägyptens wurden wir dabei bereits Zeugen des erzwungenen Untergangs einer explizit islamisch auftretenden Partei, die die Basis des Staates selbst mit ideologischen Mitteln zu verändern suchte. Im Falle der Türkei geht es um die politischen Rolle der Muslime, die in einer quasi-säkularen Partei mitregieren.
Alle Varianten des Politischen drehen sich ihrer Natur nach immer auch um die Idee von Macht, Machtergreifung und Machtsteigerung. Man wirft Parteien vor, neben ihrer Affinität zur Korruption, die Demokratie selbst ihren Zielen zu unterwerfen. Dem Islam nahe stehende Parteiungen unterliegen dabei zudem dem weiteren Verdacht, die gesellschaftlichen Verhältnisse vereinheitlichen zu wollen; sozusagen auf legalem Weg, mit Hilfe von Wahlen, Vorstufen zu diktatorischen Verhältnissen zu schaffen.
Es bestehen auch berechtigte Zweifel, ob oder inwieweit der „politische“ Islam – im Angesicht seiner verführerischen Machtambitionen – die Vorgaben des Rechts akzeptiert.
Ob die alten Techniken der Machtergreifung überhaupt noch zur Erringung von Macht geeignet sind, ist eine weitere Frage, denn alle Parteien sind jenseits ihrer ideellen Komponenten heute nur noch einfache Akteure in Staaten, die sich gegenüber dem globalen Kapital, globaler Wissenschaft und globaler Technik zu behaupten versuchen.
In der Türkei kommt es nun zum „Showdown“ verschiedener Gruppierungen und zu einem Gegensatz der im politischen Feld aktiven Muslime. Die politische Dynamik schafft dabei neben der bekannten Dialektik „liberal-konservativ“ neue Freund-Feind Verhältnisse. Spaltung gehört zur Alltäglichkeit des Politischen.
Neuerdings heißt dies nun also, zum einen die AK-Partei, zum anderen die Gülen-Bewegung, die unter dem in den USA im Exil lebenden Prediger Fethullah Güllen einige Jahre lang Partner der AK-Partei (in dem Bemühen der vorsichtigen Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft) war.
Inzwischen gilt die Gülen-Bewegung allerdings weniger als eine Partei, sondern vielmehr als die neue Art eines „Weltanschauungskonzerns“, der Wille und Mittel von Muslimen in der Türkei effektiv zu organisieren versucht. Kritiker, die Günther Seifert in seiner aktuellen SWP-Studie über die Gülen-Bewegung zitiert, bezeichnen die Vereinigung als „Mixtur aus konservativem Islam und ethnisch-türkischen Nationalismus“.
Die typische Vermischung von Nationalismus, Säkularismus und Islam hat in allen „religiösen“ Verbänden Tradition. Entstanden unter den strengen Bedingungen des Kemalismus, setzte die Gülen-Bewegung dabei den Trend „zur Verinnerlichung religiöser Werte“ bis heute konsequent fort und gilt heute vielen als eine Organisation ohne Eigenschaften. In der Türkei wurde ihr lautloser Aufstieg und ihre starke Stellung in den Polizeibehörden nun zur Bruchstelle im Machtkampf mit der Regierung.
Im Mittelpunkt dieser dramatischen Zuspitzung – in der der Rektor der Rotterdamer Universität Prof. Akgündüz sogar vor „Fitna“ warnte („Die Fitna schläft, wehe dem, der sie erweckt“) – steht Ministerpräsident Tayyib Erdogan. Er ist zweifellos die bestimmende, charismatische Integrationsfigur der AK-Partei; ein Mann, der eine so erstaunliche wie faszinierende Karriere vom Bürgermeister Istanbuls zum Premier des Landes hinter sich hat.
Auf dem Zenit seiner Macht angelangt schien er – zumindest für einen Moment –, als er für Millionen Muslime von Sarajevo bis Kairo nicht nur eine Hoffnung verkörperte, sondern auch für ein politisches Modell stand, dass im Kern die Demokratie, allerdings auch die Gesetze des globalen Kapitalismus, mit der islamischen Lebenspraxis versöhnen wollte.
Die Partei verzichtet dabei ausdrücklich auf eine islamische Programmatik und gibt so – Gegnern und Anhängern gleichermaßen – Anlass für Spekulationen über ihr eigentliches Verhältnis zum Islam. Wie weit die AK-Partei „islamische“ Ziele verfolgt, wird selbst – ironischerweise – zu einer Glaubensfrage. Die Mehrheit der AK-Mitglieder verbindet bisher nur und in aller Offenheit – so zumindest Seufert – die „muslimische Sittlichkeit und Moralität“ und das „türkisch-nationale Sentiment“.
Seit 1979 ist der Neoliberalismus die weltweit vorherrschende politische Ideologie, die auch das Wirtschaftsleben der Türkei jenseits der religiösen Fragen beherrscht. Dennoch hat die Regierung Erdogan gerade im ökonomischen Bereich einige Erfolge vorzuweisen, die sich zum Beispiel in der Stabilisierung der türkischen Währung, in der Rückzahlung aller IWF-Kredite und in einem allgemeinen Aufschwung zeigen. Ihr ungebrochener Wille zur Macht zeigt sich dabei in der Forderung nach technologischen Großprojekten.
Jetzt in der Krise muss die Partei zeigen, ob sie unter dem Druck der Ereignisse wirklich mehrheitsfähig bleiben kann. Ihre Anhänger sehen in den innenpolitischen Konflikten nur eine Inszenierung und den Versuch, die Souveränität und den Machtanspruch der Türkei in Frage zustellen. Nächstes Jahr, so will es zumindest ein Plan, soll Erdogan Präsident des Landes werden und damit endgültig die Geschicke des Landes bestimmen. Für seine Feinde wäre dies eine ungeheure Provokation.
Es bedarf also noch einiger „Fortune“, um diese Idee umzusetzen, denn im Vorfeld dieses vermeintlichen Karrierehöhepunktes mehren sich auffällig die Widerstände, die in Form von Demonstrationen, Korruptionsskandalen oder dem spektakulären Bruch mit der Gülen-Bewegung erscheinen. Ob es dabei wirklich die Gegner der Regierung Erdogan im Ausland sind, die diese Entwicklungen stützen und ob sie, wenn sie denn tatsächlich „Regie“ führen, die Präsidentschaft Erdogans eventuell sogar verhindern können, wird die Zukunft zeigen müssen.
Aus philosophischer Sicht stellt sich eine andere Frage: Es geht darum, ob der muslimische Einfluss oder Inhalt in einer politischen Bewegung authentisch bleiben kann, oder ob sich im Zusammenspiel von Technik und Macht diese Substanz beinahe notwendigerweise verflüchtigt. Gilt für die AK-Partei, was für alle „modernen“ Parteien gilt, wonach sie sich dem Grunde nach annähern und damit auch ihre ursprünglich ideellen Inhalte zunehmend neutralisiert werden?
Fest seht, bisher hat die „Macht“ der AK-Partei sich nicht in eigenständigen, islamisch geprägten Modellen, die also nicht nur Kopien sind, oder gar in der Beachtung von wirtschaftsrechtlichen Maximen zeigen können.