Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Goethe und die Identität der Muslime

Foto: A. Rieger

Sehr geehrte
Damen und Herren,
liebe Muslime

In den letzten Jahren ist die Frage nach unserer Identität zu einem der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen geworden. Im Zeitalter der Globalisierung ist dabei eine allgemeine Verunsicherung spürbar, uns selbst, als „Deutsche, Bürger oder auch Muslime“ zu definieren. Besorgniserregend ist dabei eine verbreitete Tendenz, die auf allen Seiten zu finden ist: die eigene Identität gar nur negativ und durch ein Feind- oder Gegenbild zu definieren.

Im Umfeld der PEGIDA-Demonstrationen war diese negative Dialektik, nach dem Motto „wir sind Deutsche, weil sie es nicht sind“ immer wieder zu finden. Im konservativen Feld ist eine Eigendefinition, die ihre Substanz allein noch in der Gegnerschaft gegen den Islam gewinnen will, heute weit verbreitet. Aber natürlich gibt es auch muslimische Ideologen, die ihre Identität nicht durch das positive Wissen über den Islam gewinnen, sondern durch die Agitation mit Hilfe simpler Feindbilder.

In diesem Kontext ist die Figur Johann Wolfgang von Goethes nach wie vor aktuell und relevant. Nicht gerade zufällig gibt es kaum noch eine Veranstaltung über den Islam, die nicht ein Goethezitat hervorbringt. Man könnte angesichts dieses Umstandes beinahe fragen, ob es keine bedeutenden, zeitgenössischen Brückenbauer mehr gibt.

Die andauernde Popularität Goethes ist kein Wunder. Bemerkenswerte Zitate, wie das Folgende, zeigen dabei Goethes andauernde Brisanz: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zu Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen.“

Das Thema ist auch ein wiederkehrendes Motiv der Islamischen Zeitung, die ja vor 20 Jahren ausgerechnet in Weimar gegründet worden ist. Seit vielen Jahren führen wir immer wieder Besuchsgruppen durch die Stadt der deutschen Klassik. Vor einem Jahr, gab es hierzu eine denkwürdige Veranstaltung mit dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu, dem Historiker Eberhard Straub und mir selbst.

Wir fragten uns damals aus ganz verschiedenen Perspektiven, inwieweit Goethe eine Rolle für unsere Identität spielt. Mein Vorschlag oder meine eigene Vorstellung von der inneren „Identität“ deutscher Muslime war damals: a) Deutscher (kulturell sprachlich, politisch) b) Goetheaner und c) Muslim.

Hierbei war ich mir natürlich bewusst, dass „Identitäten“ durchaus fließend sind. Die Anwendung des Plural ist also angebracht. Auch in der deutschen Philosophie ist die Frage nach dem „Ich“ und dem „Subjekt“ längst ins Fließen geraten. Man denke nur an die Philosophie Heideggers. Ein Denken, dass die starre Vorstellung des „Ich“ in das offene „Dasein“ verwandelt und so die gewohnten Subjekt-Objekt Beziehungen auflöst. Im Islam ist die Möglichkeit der Auflösung des „Ichs“ – im Sinne der Maxime „Stirb, bevor Du stirbst“ – wesentlicher Bestandteil spiritueller Praxis.

Aber zurück zum Thema Goethe und seiner Rolle für unsere heutige Identität. Inwieweit ist unser Nationaldichter überhaupt für eine Identitätsfindung nach heutigen Maßstäben zu gebrauchen?

Berühmt geworden ist hier das Bonmot Nietzsches: „Goethe sei für die Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen geblieben.“
Nietzsche formulierte sogar: „Goethe stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören.“

Auf dem Buchrücken der lesenswerten Biographie Rüdiger Safranskis über Goethe findet sich auch – wenn auch aus anderen Gründen – eine Andeutung über einen Art Graben zwischen der vergangenen Figur Goethes und unserem heutigen Leben in der Moderne. Es heißt dort: „Solange man sich in Goethe vertieft, wird man zu seinem Zeitgenossen. Dann wieder ist beim Auftauchen der Abgrund spürbar, der uns von damals trennt. Und doch bleibt da etwas: der tröstliche Gedanke, dass ein solches Leben möglich war.“

Nehmen wir das obige Motto Nietzsches zum konkreten Ausgangspunkt unseres heutigen Themas, dann sollten wir jetzt konkreter fragen, ob Goethe für uns deutsche Muslime ebenso folgenlos bleibt? Wie steht es aus unserer Sicht mit dem von Safranski angedachten Graben, der die Gestalt Goethes uns vom Hier und Jetzt zu trennen scheint?

Zunächst sei aber noch eine Anmerkung vorausgeschickt: Das Werk des Meisters der deutschen Sprache ist von einmaliger Größe und Weite. Die Gesamtausgabe umfasst mehr als 30.000 Seiten. Es handelt sich hier um ein Universalgenie einmaliger Ausprägung, einem Dichter, Politiker, Ökonom, Historiker und Wissenschaftler. Die Komplexität dieses Mannes, der sich fortlaufend verwandelt und neu erfindet, ist nicht zu unterschätzen. Goethe sagte ja vielsagend über seine eigene komplexe Identität, „(…) dass er natur forschend Pantheist, dichtend Polytheist und sittlich Monotheist sei. Wir sollten also im Hinterkopf behalten, dass das Werk schlussendlich kein System ist (Goethe: die Natur ist kein System!) und eher einen Wegcharakter hat.“

Für die Frage nach unserer Identität will ich mich auf drei Aspekte, die für die Bildung von (Goethes) Identität maßgeblich und bedeutend sind, beschränken:

– Politik (Poet und Politiker)
– Ökonomie (Poet und Finanzminister)
– Religion (Poet und Glauben)

Wir werden sehen, dass sich die Denkwege Goethes mit der Natur des Menschen an sich beschäftigen, dessen Einheit mit der Schöpfung nur ohne die Politisierung, Ökonomisierung und Ideologisierung seiner Existenz bewahrt werden kann.

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Beginnen wir zunächst mit der Politik. Geprägt ist das politische Verständnis des Dichters von seinem Verhältnis mit dem Fürsten Carl August, der Begegnung mit dem „Weltgeist“ Napoleon und überhaupt mit der intellektuellen Auseinandersetzung mit den politischen Prinzipien seiner Zeit. Typischerweise ist Goethe Theoretiker und Praktiker des Politischen.

1a) Zum besseren Verständnis und Einordnung hier vorab einige wichtige Etappen der Politischen Laufbahn Goethes:
– Nachdem der junge Johann Wolfgang Goethe sein Jurastudium abgeschlossen und seine ersten Erfolge als Schriftsteller gefeiert hatte, ging er 1775 nach Weimar.

– Als (Berufs-)Politiker im engeren Sinne wirkte Goethe zunächst zwischen 1776 und 1786 (danach flüchtet er frustriert zunächst für 22 Monate nach Italien).

– Die Ambitionen Goethes finden auf relativ kleiner Bühne statt. Die „anschauliche“ Residenzstadt Weimar beherbergte in diesem Jahr nur 6.000 Einwohner. Das gesamte Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach brachte es auf gerade einmal 100.000 Bürger.

– Das Gebiet erstreckte sich zudem (Deutschland ist ja noch ein Flickenteppich, keine Nation) nicht über ein zusammenhängendes Gebiet, sondern war zersplittert und umfasste neben Weimar selbst noch die Städte Jena, Apolda, Eisenach und Ilmenau. Das kleine, arme Land war durch den Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) zwischen Preußen und Österreich stark in Mitleidenschaft gezogen worden.

– Weimar ist entscheidend geprägt von einer Frau, denn dem Ehrgeiz und der Klugheit von Herzogin Anna Amalia war es zu verdanken, dass sich der Zwergstaat wieder langsam im wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung befand. Ihre Visionen waren von kühner Brillanz. Die umtriebige Landesfürstin will Weimar zum „Musenhof“ machen.

– Daher förderte sie den Wunsch ihres Sohnes Carl August, ab 1775 Regent des Herzogtums, mit Goethe einen aufstrebenden und durch Werke wie Werther und Götz von Berlichingen schon bekannten Dichter an ihren Hof zu holen.

– Der damals 18-jährige Herzog und der acht Jahre ältere Goethe freundeten sich rasch an. Mehr noch, Goethe wurde zum engen Vertrauten und Ratgeber des jungen Regenten. Das Zusammenspiel von Geist und Macht beginnt.

– Schon ein Jahr später wurde Goethe, mit einem guten Gehalt ausgestattet, zum Geheimen Legationsrat ernannt und bekam damit gleichzeitig einen Sitz im höchsten Regierungsorgan des Landes. Zudem erhielt er als Leiter der Bergwerkskommission, als Leiter der Wege- und Wasserbaukommission, als Leiter der Kriegskommission und später noch als Finanzminister weitreichende Kompetenzen und Aufgaben.

– 1782 stellte der Landesfürst das Ersuchen an Kaiser Josef II., Goethe in den Adelsstand zu erheben. Der Zusatz „von“ ergänzt nun seinen Namen.

– Nach seiner Rückkehr aus Italien ist Goethe, der sich dort nach seinen eigenen Worten als Künstler wiedergefunden hatte, auf seinen Wunsch hin von den bisherigen amtlichen Funktionen weithin entlastet worden. Er hat sich also als Dichter und Politiker eine durchaus komfortable Situation geschaffen. Sein Freund Schiller beneidet ihn zeitweilig um seine Privelegien.

Goethe verlagerte seine Aktivität nun auf den kulturpolitischen Bereich: als Direktor des Hoftheaters (1791-1817), Initiator und Leiter des Freien Zeicheninstituts, in der Direktion der naturwissenschaftlichen und medizinischen Institutionen des Herzogtums sowie in verschiedenen Kulturkommissionen (zum Beispiel für das Bibliothekswesen). Auch der Bau des Schlosses und anderer repräsentativer Bauwerke gehörte in seinen Zuständigkeitsbereich.

Goethe ist aber in dramatischer Zeit nicht nur distanzierter Beobachter. Als Herzog Carl August 1792 im Rang eines Generals mit den verbündeten preussisch-österreichischen Truppen gegen Frankreich zog, um sich dort der Revolutionsarmee zu stellen, schloss sich Goethe seinem Freund an. Seine Erfahrungen sind ambivalent. Der Dichter erlebte das euphorische Siegesgefühl nach der Eroberung der Grenzfestung Verdun, aber auch die ergebnislose Kanonade bei Valmy, nach der sich die preußisch-österreichische Koalition (nach tausenden Toten) schließlich für den Rückzug entschied.

– Im Oktober 1808 kam es während des Erfurter Fürstentages zu einem Treffen mit Napoleon auf politischem Parkett.

– Im Zuge der Staatsreform des zum Grossherzogtum erweiterten Landes wurde Goethe 1815 zum Staatsminister ernannt und erhielt das speziell auf ihn zugeschnittene Ressort der „Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst in Weimar und Jena“.

– 1815 erlebt Goethe den Niedergang Napoleons.

1b) Goethe und seine politische Identität:
Goethe verarbeitet seine politischen Erlebnisse zeitlebens in seiner Dichtung und in der Erarbeitung von politischen Grundsätzen. Goethe ist zunächst ein pragmatisch denkender Politiker: „Ich hasse alle Pfuscherei, wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht.“

Das wohl wichtigste Motiv in seinem politischen Denken ist dabei wohl das Spannungsverhältnis zwischen „Evolution und Revolution“. Goethe ist zeitlebens skeptisch gegenüber der Französischen Revolution. Die eruptiven Ereignisse sind ihm eher unheimlich. Hier eine Episode, die sein ganzheitliches Denken in diesem Kontext des Politischen gut illustriert.

1784 schreibt Goethe einen Aufsatz über den Granit, der eine Vorstudie für einen seit 1781 geplanten Roman über das Weltall sein sollte. Der Granit ist für Goethe das Urgestein und daher die durch nichts, durch keine vulkanische Katastrophe zu erschütternde „Grundfeste unserer Erde“, deren Kruste sich durch Sedimentation von Kristallen des zurückströmenden Urmeeres gebildet habe. An dieser seinerzeit so genannten neptunistischen Glauben hat er sein Leben lang festgehalten ‚ in Opposition gegen die „vulkanistische“ Theorie, welche die Erdformation auf Feuer, Vulkanausbrüche und Erdbeben zurückführte. Goethes Neptunismus korrespondiert dabei ausdrücklich auch seine Abneigung gegen revolutionäre Erklärungen und Tendenzen in der Geschichte.

Vulkanismus und Revolution hat er seit 1789 immer wieder miteinander verglichen.

Goethe nimmt darüber hinaus die allgemeinen Gefahren von massenbewegten Ideologien vorweg. „Allgemeine Begriffe“ (der Revolution), so Goethe, würden überhaupt auf Dauer nur „entsetzliches Unheil“ anrichten. Sie würden in den Kollektivismus führen, oder, wie er in dem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre pessimistisch formuliert: „Jede grosse Idee, sobald sie in Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur allzubald in Nachteile verwandeln.“

An die Idee einer vollkommenen Gesellschaft, dem kontinuierlichen Fortschritt des Politischen, die die französische Revolution postuliert, glaubt er nicht wirklich.

An Eckermann (15.2.1824): „Könnte man den Menschen vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohlbefindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.“

Goethe begegnete der französischen Revolution also mit Skepsis und verehrt dagegen Napoleon vor allem, weil er in diesem den Liquidator der Revolution sieht, der das schreckliche Durcheinander beendet und wieder Ordnung schafft. Napoleons Eroberungspolitik nimmt er dagegen lapidar hin: „Dass Moskau verbrannt ist, tut mir gar nichts. Die Weltgeschichte will auch was zu erzählen haben.“

Dass die „Ordnung“ notfalls auch mit Gewalt verteidigt werden müsse, gehört also durchaus zu Goethes Grundüberzeugungen und ist durchaus Richtschnur seines politischen Handelns.

Der Historiker Gernot Böhme fasst das Denken Goethes zwischen Monarchie und Revolution treffend zusammen: „Goethe war ein Monarchist. Er war bürgerlicher Herkunft, doch er hatte sich in den Dienst eines Fürstenhauses begeben und war diesem Fürstenhaus sein Leben lang treu verbunden. Er hielt an der Feudalordnung fest. Doch gerade als jemand, der Politik von innen kannte, der als geheimer Rat auch die Rückseite der Verhältnisse kannte, war er gleichzeitig ein Kritiker des Monarchismus (…) Der einzige wirkliche Mangel des Monarchismus besteht seiner Ansicht nach darin, das Throne von konkreten Personen besetzt werden müssen (….) Goethe hält also am Monarchismus fest, kritisiert jedoch die menschliche Erfüllung dieser Form.“

Von großer Klarheit ist Goethes distanziertes Verhältnis zur nationalen Politik, die aus den deutschen Befreiungskriegen gegen Napolen und die Franzosen entsteht. Goethes Warnungen vor dem Nationalismus erinnern wieder an die Folgenlosigkeit des Dichters und gehören – wie wir heute wissen – auf beinahe tragische Weise in die deutsche Geschichte.

Zu Eckermann (14.3.1830): „Der Nationalhass finde sich am stärksten und heftigsten auf den untersten Stufen der Kultur. Es sei aber zu den derjenigen Stufe emporzuschreiten, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe des Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.“

Dieses politisches „Weltbürgertum“ korrespondiert so mit dem weltoffenen Dichter, der sich vor Provinzialität geradezu fürchtet.

Zu Eckermann (18.1.1831): „Nationallliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“

Natürlich erkennen wir gerade als Muslime die aktuellen Bezüge des hier natürlich nur angedeuteten Denkens Goethes. Erwähnt sei die eher kühle Distanz zum politischen Prozess, die Warnungen vor dem, heute in der islamischen Welt verbreiteten, Nationalismus, bis hin zur Skepsis gegenüber der vollständigen Politisierung des Menschen. Das Verhältnis der Muslime zu den Monarchien in Zeiten der „Arabellion“ wäre ein weiterer Gesichtspunkt.

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2a) Goethe und die Finanztechnik
Goethe erlebt einen dramatischen Epochenwandel, der auch die Natur des Politischen und die Identität des Menschen überhaupt betrifft. Man könnte sagen, dass Goethe den Übergang von der „Politik als Schicksal“ hin zur Ökonomie, die ein Schicksal wird, erlebt.

1825 beschreibt der Dichter – angesichts neuer Techniken der Macht – beinahe melancholisch und mit erstaunlicher Aktualität in einem Brief an Georg Nicolovius den Zeitenwandel: „…so wenig nur die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist…“

Die Angst über die eigene Versorgungslage wird zum wesentlichen Teil der Identität des modernen, ökonomisch bedingten Alltag des Menschen.

Als Ökonom ist Goethe wiederum ein Mann der Theorie und Praxis. Seine Politik steht unter dem Einfluss des modernen rationalistischen Wirtschaftsdenkens, wie sie sich namentlich in den Theorien der französischen Physiokraten (Quesnay, Turgot) ausgeprägt hat. Eine, der heute ziemlich altmodisch klingenden Hauptmaximen der so genannten Physiokraten war es, die Staatsausgaben schlicht unter dem Niveau der Einnahmen zu halten.

– In diesem Zusammenhang ist u.a. die vom „Kriegsminister“ Goethe durchgesetzte Truppenverminderung (um 50 Prozent) zu sehen, durch die erhebliche Einsparungen im Staatshaushalt erzielt wurden. Der Herzog lernte Goethe hier als überlegenen Finanzpraktiker schätzen.

– Der Fürst überträgt ihm, in der Hoffnung auf weitere Konsolidierung des Staatshaushalts, 1782 die Funktion des Kammerpräsidenten (Finanzministers).

Aber neben der Praxis beschäftigt ihn auch das Thema „Ökonomie“ immer wieder theoretisch. Goethe beobachtet aufmerksam die Erfindung der Banken, der sogenannten Zettelbanken und denkt über das Münz-Chaos seiner Zeit nach. Carl August beauftragt ihn 1793 angesichts der komplizierten monetären Lage in Deutschland mit einem Münzgutachten. Goethe hält darin seine Überzeugung fest, dass das „Geld einen innewohnenden Wert haben muss“.

Als Goethes Freund Carl August im Jahr 1810 die Idee einer Papiergeldwährung in seinem darbenden Kleinstaat andachte, rang Goethe, der ja als Finanzminster des Fürsten agierte, durchaus mit sich. Goethe wusste, angesichts seines eigenen Haushalts, wie schwer es sein konnte, mit begrenzten Mitteln auszukommen, wenn man doch auch öffentliche Größe und Würde demonstrieren musste. Goethe lehnte dennoch die Einführung des Papiergeldes schließlich aus voller Überzeugung ab. Wie schon in seinem Münzgutachten von 1793 bestätigte Goethe erneut: „Daß das Geld nicht durch den Stempel, sondern durch innerlichen gewissen Wert Geld sei.“

Dichterisch erkennt Goethe auf geniale Weise die Bedeutung der neuen „Finanztechniken“ für die künftige Politik. Im Faust, zweiter Teil, ist es bekanntermaßen Mephistopheles, als Narr verkleidet, der die politische Führung zu einem Tabubruch verführt, der darin besteht, Geld als Papier sozusagen aus dem Nichts zu schaffen und sich so – mit einem teuflisch-genialen Wettbewerbsvorteil ausgestattet – dem Versuch zu stellen, den ganzen Planeten beherrschbar zu machen.

Faust II: „Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert als gewisses Pfand, Unzahl vergrabenen Guts im Kaiserland. Nun ist gesorgt damit der reichste Schatz, Sogleich gehoben, diese zum Ersatz.“

Diese abenteuerliche Strategie funktionierte zur Überraschung der Beteiligten zunächst, da man in der Öffentlichkeit dem Versprechen der neuen „Zettelbanken“ glaubte, die bunten Scheine seien durch Bodenschätze gedeckt. Die neue Technik und damit der Siegeszug des neuen Geldes basiert aber leider auf einem Prinzip „contra naturum“; also der Erwartung ewigen Wachstums und endloser Wertschöpfung.

Faust muss am Ende des zweiten Teils aber einsehen, dass er eigentlich über die hierzu notwendigen, magischen Kräfte nicht verfügt.

Bundesbank Chef Weidmann berief sich übrigens mit einem klugen Beitrag auf die Visionen des Dichters und fragte: „Traf Goethe ein Kernproblem der Geldpolitik?“ In seiner Rede beschrieb Bundesbankchef Weidmann, wie heute die Technik der Geldschöpfung sich als „politische und ökonomische Macht“ manifestiert: „Notenbanken schaffen Geld, indem sie Geschäftsbanken gegen Sicherheiten Kredite gewähren oder ihnen Aktiva wie zum Beispiel Anleihen abkaufen. Die Finanzkraft einer Notenbank ist dabei prinzipiell unbegrenzt, da sich eine Notenbank das Geld, das sie vergibt oder mit dem sie bezahlt vorher nicht etwa beschaffen muss, sondern es quasi aus dem Nichts erschaffen kann.“

Auch in diesem Feld der Ökonomie sind zahlreiche aktuelle Bezüge zur islamischen Lebenspraxis aufzuführen. Man denke nur an das Gebot die Zakat mit echten Zahlungsmitteln und nicht nur mit Zahlungsversprechen zu bezahlen. Angesichts der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte besinnen sich heute viele Muslime wieder auf den Sinn des islamischen Wirtschaftsrecht. Nicht zuletzt führt die Ökonomisierung der Lebensumstände („Fit“ für den Kapitalismus) zu vielen Fragen, bis hin zu merkwürdigen Zweifeln, ob zum Beispiel das Fasten noch zeitgemäß sein.

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3a) Goethe und die Religionen
Typisch für Goethe ist wieder seine praktische und theoretische Annäherung an das Thema Religion.

Seit den frühen 1770er Jahren liest Goethe den Koran. 1814 beobachtet er neugierig muslimische Baschkiren beim Gebet. Seit 1815 begann er, die arabische Schrift des Korans zu lernen. 1819 veröffentlicht Goethe den berühmten West-östlichen Divan und lehnt – legendärerweise – „den Verdacht nicht ab, selbst ein Muselmann zu sein“.

Die Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Orient entspricht der typisch deutschen Sehnsucht vieler „Dichter und Denker“ nach der Fremde, dem Anderen. Diese Möglichkeit setzt allerdings keine statische Haltung, sondern eine innere und äußere „Reisefähigkeit“ voraus. (Humboldt: Wie kann man eine Weltanschauung haben wenn man die Welt nicht anschaut?)

Im Zusammenhang mit dem Erwerb einiger orientalischer Handschriften in Weimar schreibt Goethe 1815 an seinen Ministerkollegen C.G. von Voigt: „Genau gesehen, sind solche Studien, in die man sich hinein wirft eine Art Hegire, man flüchtet aus der Zeit in ferne Jahrhunderte und Gegenden.“

Goethes Annäherungen an den Islam, die ja praktisch autodidaktisch erfolgen, sind (wie ein Konvertit versteht) natürlich aus verschiedensten Gründen nicht vollständig widerspruchsfrei, aber dennoch immer wieder richtungsweisend.

Scharfsichtig erkennt Goethe – um nur ein Beispiel zu nennen – den Kern der islamischen Glaubenslehre, das Akzeptieren des Schicksals und den Drang zur Überwindung der Gegensätze und der Bildung einer Einheitslehre. Die offene Begegnung mit den Muslimen ist damit für Goethe keine Pein, sondern eine geistige gewinnbringende Tugend. Goethe ist selbstbewusst genug, im Islam die eigene Frage als Gestalt zu erkennen.

Im folgenden – wie ich finde – wunderbaren Zitat (11. April 1827 J.P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens) lernen wir viel über das Erkenntnisverfahren, von dem Goethe geprägt ist und dass er auch auf die Wahrnehmung des Islam anwendet.

„….[Es] ist höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, dass dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren.

.. im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne dass es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! [Es ist] eine Lehre [der] Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.

Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, dass nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine grosse Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muss.

Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewissheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, dass dieser Lehre nichts fehlt und dass wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und dass überhaupt niemand weiter gelangen kann.

Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren auf welcher geistigen Stufe man denn eigentlich stehe.“

Nach diesen so feinfühligen wie niveauvollen Ausführungen muss man sich heute, angesichts mancher grober Debatte fragen: Bleibt Goethes intensive Beschäftigung, die Annäherung mit dem Islam und der sich daraus ergebende geistige Anspruch folgenlos? Auch wenn man zugestehen muss, dass Goethe in seiner Zeit nicht vom Zynismus muslimischer Attentäter betroffen war, bleibt sein Erkenntnisverfahren in Sachen Islam beinahe einmalig.

Auch die berühmte Goethe-Forscherin Katharina Mommsen vermisst diesbezüglich aktive Nachahmung: „Hiermit werden wir in sinnfälliger Weise auf ein Tabu gelenkt, das noch immer die traditionelle Goethe-Rezeption in Deutschland zu beherrschen scheint: die Hinwendung Goethes zum Islam ist bis heute für manche Goethe-Forscher, wenn nicht ein Ärgernis, so zumindest eine Verlegenheit“

Auch Rüdiger Safranski fragt in seiner Biographie etwas skeptisch „wie ernst es dem Dichter mit der Religion, dem Islam ist“ und ob er mit seinem Bekenntnis zum Islam etwa nur „kokettiert“. Der Biograph zweifelt dabei an der Bereitschaft des Dichters, sich einer gar zu strengen Gesetzesreligion zu unterwerfen. Schließlich hatte Goethe Jahre vor der Veröffentlichung des Diwans – in Dichtung und Wahrheit – nur von der „natürlichen Religion“ gesprochen: „Die allgemeine natürliche Religion bedarf keines Glaubens: denn die Überzeugung, dass ein großes, hervorbringendes und leitendes Wesen sich gleichmaßen hinter der Natur verberge, um sich uns fasslich zu machen, eine solche Überzeugung dringt sich einem jeden auf.“

Man mag hier ironisch anmerken, dass dem Biograph Safranski die Vorstellung oder sagen wir Möglichkeit eines „liberalen Muslim“ merkwürdig undenkbar scheint. Aber auch Safranski bestätigt und bewundert die tragende Grundeinsicht der menschlichen, religiösen Erfahrung und des Selbstseins, die Goethes Bezug zur Religion letztlich prägt: „Der Glaube an den einigen Gott wirkt immer geisterhebend, indem er den Menschen auf die Einheit seines eigenen Innern zurückweist.“

Goethes Affinität zu einem Denken der Einheit ist gleichzeitig die Vorbedingung für ein Verstehen des Islam. Wie auch immer man das religiöse Denken Goethes letztlich verorten will, seine Annäherungen bleiben als Beispiel für die Praxis eines ganzheitlichen Erkenntnisverfahren von großer Bedeutung. Gerade weil sich Goethe gegen die Politisierung und Ökonomisierung des Menschen verwehrt, zeigt er dabei die Möglichkeit eines unideologischen, aber konsequenten Einheitsdenken auf.

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Erlauben Sie mir hier noch schlussendlich eine Anmerkung über „Religion“ überhaupt. Der Begriff „Religion“ ist ein Begriff christlicher Prägung, der in Europa erst spät entstand. Es ist mit der Person Friedrich Schleiermachers verbunden, der 1799 – also auch zur Zeit Goethes – seine berühmten Reden „Über die Religion“ veröffentlichte. Schleiermacher trennte das „Gefühl, dass es einen Gott gibt“, von Wissen und Handeln.

Der Begriff Religion oder auch Theologie zeigt so an, dass der Glaube in einer technischen Welt keinen Anspruch auf Praxisbezug mehr hat. Für das heutige Europa ist daher kaum noch vorstellbar, dass eine Religion neben der Moral auch Handlungsanweisungen birgt oder Beiträge zur Lösung aktueller Probleme formulieren könnte.

Das „aktive Leben“ ist aber nach der Lehre Goethes immer Theorie (Anschauung) und Praxis, Handeln und Wissen. Zweifellos sind uns deutschen Muslimen die Beiträge Goethes zur Bildung unserer Identität hochwillkommen. Sie reichen – wie wir gesehen haben – von einer gelassenen Haltung zur Politik, dem Erkennen der Magie neuer Finanztechniken, dem Respekt vor der Schöpfung, bis hin zur heiteren Vergegenwärtigung der Einheit. Nur im erneuerten Zusammenspiel dieser Aspekte, im aktiven Leben, kann die zeitweilige Folgenlosigkeit der Beschäftigung mit dem Dichter überwunden werden.

*Der vorliegende Text wurde am 11. Juni 2015 als Vortrag in Bonn gehalten.