Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

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Konfliktfälle

„Der Terror setzt die berechenbaren Maßstäbe des bürgerlichen Lebens außer Kraft, verbreitet Angst und Mißtrauen, weil er jederzeit und überall zuschlagen kann und jeder Bürger potentiell Terrorist sein könnte“. (Otto Depenheuer, aus: Selbstbehauptung des Rechtsstaates)

Der 11. September gilt in diesem Jahrhundert praktisch als der „Konfliktfall“ schlechthin und hat eine stürmische Debatte ausgelöst, wie weit der Rechtsstaat im Extremfall gehen kann und darf. Diese neue Debatte wirft neue und leider auch alte Fragen, wie zum Beispiel die Möglichkeit einer „gefahrenabwehrenden Internierung“ auf. Neu ist diese Debatte – insbesondere in Deutschland – allerdings nicht.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) soll beispielsweise 1977 während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer von deutschen Politikern gedrängt worden sein, RAF-Häftlinge erschießen zu lassen. Das geht einem Bericht des «Spiegels» zufolge aus bislang geheimen Akten der Bundesregierung hervor, die überwiegend aus Protokollen der Telefonate Schmidts mit anderen Staats- und Regierungschefs bestehen.

In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing sagte Schmidt demnach, von ihm werde „von allen Seiten, sogar von Politikern verlangt, Geiselerschießungen an den inhaftierten Terroristen vorzunehmen“. Er stehe unter starkem Druck überwiegend seitens der Opposition, aber auch aus dem eigenen Lager und aus weiten Kreisen parteipolitisch nicht gebundener Bürger. Er wolle jedoch die Verfassung und die Rechtsordnung strikt einhalten, wird Schmidt weiter zitiert. Schleyer war am 5. September 1977 von der RAF entführt worden, am 18. Oktober wurde er von den Terroristen ermordet.

Nach dem Soziologen Niklas Luhmann offenbart der Konfliktfall die wahre Grundstruktur der Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Sytseme – so Luhmann – tendieren im Ernstfall dazu, „alle Ressourcen im Blick auf Sieg oder Niederlage auf einen Konflikt zu konzentrieren“. Mit anderen Worten, es wird weniger differenziert als mobilisiert. Der intelligente Politiker steht vor einem Dilemma: Er muss die Aufmerksamkeit der Massen mit möglichst einfachen Worten gegen den Feind mobilisieren und auf der anderen Seite eine Debatte moderieren, die den gewünschten Friedensfall im Auge behält und differenziert. Ohne Differenzierung droht in der offenen Gesellschaft ein Vorwurf, im Stile des Verfassungsrichters Di Fabio formuliert, der den „Sicherheitsapologeten in Berlin“ vorwarf, ihre Sprache und Terminologie (Feindstrafrecht) erinnere „nicht zufällig an den scharfsinnigen Geisterverwirrer Carl Schmitt“.

Das geschilderte Dilemma kann man bei Innenminister Schäuble gut beobachten. Zwischen Interviews, Parteitagen und Stammtischen ist er aber auch immer wieder zur „Ausdifferenzierung“ fähig. Sein Redebeitrag auf einer Fachtagung in Berlin, „Das Islambild in Deutschland: Neue Stereotype, alte Feindbilder?“, grenzt sich – zumindest in der friedlichen Atmosphäre eines Fachgespräches – von einer groben Freund-Feind Logik ab. „Fanatischer Islamismus und Terrorismus, der sich den Islam auf die Fahnen schreibt, sind eine reale Bedrohung – auch in Deutschland. Jedoch wird oft zu wenig wahrgenommen, dass sich diese Bedrohung gegen alle hier lebenden Menschen, also auch gegen alle Muslime, richtet. Und es ist auch wahr, dass die übergroße Mehrheit der Muslime in unserem Land – weit über 90 Prozent – friedlich und rechtschaffend ihrer Wege geht.“

Auf der LitCologne stellte am Freitagabend Jean-Christoph Rufin sein neues Buch „100 Stunden“ vor. Rufin erinnerte am Abend daran, dass praktisch jede menschliche Idee in eine Ideologie mit Gewaltmöglichkeit umschlagen kann. In Rufins neuem Buch sind es dann auch nicht Islamisten, sondern Ökoterroristen die den Menschen an sich als neuen „Feind“ bestimmen. Praktisch jede Kleingruppe ist heute fähig, „Angst und Schrecken“ zu verbreiten und in Rufins Thriller sind es private Geheimdienste, die diese potenziellen Gefährder – im Grunde alle Menschen die starke Ideen haben – überwachen. Die Zukunftsfrage wird es sein, wie sich der moderne Staat und die Sicherheitsindustrie gegenüber möglichen Konfliktfällen verhält. Die bewegende Frage bleibt dabei, ob im Raum politischer und ökonomischer Krisenzeiten „Sicherheit durch den Staat“ und „Sicherheit vor dem Staat“ gleichermaßen möglich bleibt.