Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Sarajevo, Islamische Fakultät, 2. September 2005

Meine verehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute hier sprechen zu dürfen, in dieser ehrwürdigen und geschichtsträchtigen Stadt. Ich erinnere mich noch, als ich als fünfzehnjähriger auf einer Urlaubsreise durch das damalige Jugoslawien zum ersten Mal mit meinem Vater eine Moschee betrat. Der freundliche Imam nahm mich damals auf das Minarett hinauf und rief zu meinem Erstaunen den Gebetsruf. Natürlich ahnte ich damals nicht, wie nahe mir der Islam und Bosnien kommen sollte, so wenig wie die Stadt damals ahnte, welche schwierige Zeit vor ihr liegen sollte.

Heute weiß ich natürlich, welche herausragende Rolle diese Region für mich und den Islam hat. Eine ernsthafte und nähere Beschäftigung mit dem Islam in Europa kommt an dem Islam in Bosnien natürlich nicht vorbei. Es ist kein Zufall, dass Huntingtons Buch über den angeblichen drohenden Kampf der Kulturen das Phänomen Bosnien mit keinem Wort erwähnt. Gerade hier zeigt sich aber, dass der Islam Kulturen hervorbringt, selbst aber keine ist. In Bosnien trägt der Islam ganz natürlich zur europäischen Kultur bei und die kulturelle und geographische Zugehörigkeit Bosniens zu Europa dürfte außer Frage stehen.

Es ist keine Frage, dass der Islam in Europa auch heute noch aus dem traditionellen Erbe dieser großen Stätten europäischer Kultur schöpft. Man denke nur an Sarajevo, Granada und Weimar. Insbesondere Weimar, die Stadt der deutschen Klassik, die mir als Deutschem besonders am Herzen liegt, hat mit der großartigen Figur Johann Wolfgang von Goethes die Begegnung Europas mit dem Islam vorgedacht. Goethe fand im Islam zweifellos seine Sehnsucht nach der Einheit und seinen tiefen Glauben an das Schicksal beantwortet.

So bewundert Goethe, in den berühmten Gesprächen mit Eckermann, die diesbezügliche islamische Erziehung.

. „…[Es] ist höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren.

.. im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! …[Es ist] eine Lehre … [der] Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.“

Man kann sagen, dass bei beinahe allen großen Figuren der Dichtung und des Denkens im Europa des 19. Jahrhunderts die Überzeugung herrscht, dass es so etwas wie ein Schicksal gibt. Diese Überzeugung war noch vor kurzer Zeit das wichtige Bindeglied zwischen Menschen, die denken und glauben. Für denjenigen, der alles Geschehen in Raum und Zeit als zufällig ansieht, wird „Glaube“ dagegen nie eine wirkliche Option sein. Dies gilt für Schiller, für Goethe oder auch für Leo Tolstoi, dessen Geschichtsbild in seinem Epos „Krieg und Frieden“ deutlich wird:

„Und wer da sagt, daß Napoleon nur deshalb nach Moskau vorgerückt sei, weil ihm eben der Sinn danach gestanden habe, und nur deshalb dort zugrunde gerichtet worden sei, weil Alexander seinen Untergang gewollt habe, der habe genauso recht und unrecht wie derjenige, der da sagt, daß ein Millionen Pud schwerer Berg, der untergraben ist, deshalb zusammengestürzt sei, weil der letzte Arbeiter unter ihm den letzten Spatenstich getan habe. Bei historischen Ereignissen, sind die sogenannten großen Persönlichkeiten nur Etiketten, die dem Ereignis den Namen geben, haben aber, ganz wie die Etiketten, in Wirklichkeit am allerwenigsten mit den Ereignissen zu tun.

Jede ihrer Handlungen, die ihnen aus aus eigenem Wunsch und nur um ihrer selbst willen ausgeführt zu sein scheint, ist im historischen Sinn nicht freiwillig, sondern mit dem ganzen Gang der Geschichte verknüpft und von Ewigkeit her vorausbestimmt.“

Goethe und Tolstoi bahnen jedenfalls so auf ihre Weise und in für den Dialog ungemütlicher Zeit eine tiefere Begegnung Europas mit dem Islam den Weg. Sie erkennen, dass – wie dies Ibn al Arabi formuliert – „Allah die Schöpfung aus sich selbst heraus regiert“. Vorurteile gegen den Islam haben beide jedenfalls nicht. Goethe, der Schöpfer des „Öst-Westlichen Divans“ der ja „den Verdacht nicht ablehnt, selbst ein Muselmann zu sein“ zeigt sich auch als Kenner der islamischen Denkmethodik. Er erinnert uns Muslime daran, dass wir innerhalb unserer Offenbarung nicht „dialektisch“ denken. So Goethe:

„Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.

Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.“

Goethe ist dabei keineswegs naiv. Im Ost-Westlichen Divan schreibt Goethe: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens“ Gerade heute, wo die Muslime gerne sich dialektisch „gegen den Feind“ „gegen Amerika“ oder „gegen den Westen“ definieren, sind diese Worte nach wie vor aktuell. Islam ist nicht „gegen“ jemand – Islam ist für Allah. Und vielleicht sollten wir auch gemeinsam, gerade als europäische Muslime, feinfühlig sein, wenn uns der Islam von dritter Seite als dialektische entgegengesetzte Option präsentiert wird: Islam als engstirniger Fundamentalismus oder als belanglose Esoterik. Das Beispiel unseres geliebten Propheten, der bekannterweise die Extreme mied, lehrt die Wahl des mittleren Weges.

Selbstredend entziehen sich für uns europäische Muslime die Ibada, die verpflichtenden Praktiken des Islam, einer politischen Kategorisierung. Die Shadada, das Gebet, das Fasten, die Zakat, die Pilgerreise kann ich nicht „fundamentalistisch“ oder „europäisch“ handhaben, sondern nur korrekt. Ich bin nicht „europäisch“, wenn ich nur einmal in der Woche bete oder ein Fundamentalist, wenn ich regelmäßig zum Freitagsgebet gehe. Auf der Grundlage dieser Einsicht können wir auch selbstbewusst definieren, was die positive Vision eines Islam in Europa beinhalten könnte.

Eine Besonderheit hierbei, die der Islam in Europa und die europäischen Muslime vielleicht ausmacht, ist, dass wir Denker und Denkwege, Systeme und Ideologien, die aus dem Westen entstanden sind, sehr genau kennen.

Ein gutes Beispiel für diesen Zusammenhang ist der moderne Terrorismus. Wenn wir heute mit dem Terrorismus und Modernismus konfrontiert werden, dann erkennen wir natürlich auch die Elemente, die aus der Giftküche des westlichen Denkens stammen. Zum Beispiel die abgründige Überzeugung der nihilistischen Ideologien, eine „Welt sei besser ohne ihre Feinde“ und die daraus entstehende Vernichtungslogik. Ein Kapitel für sich sind totale Raumbeherrschungsphantasien, die Techniken der Kontrolle oder der Organisation von Macht. Zweifellos hat die Infiltrierung so genannter moderner, islamischer Bewegungen mit diesem Denken auch zu Wesensveränderungen des Islam geführt. Über Jahrhunderte waren diese totalitären Sichtweisen den Muslimen völlig fremd.

Wir Muslime, und ich bin sicher, dass die Lehre des Islam in Bosnien hier seinen Teil tun wird, erkennen natürlich die Abgründe dieser Mischformen. Die Ablehnung des Terrorismus und die Ablehnung von Selbstmordattentaten ist für gebildete Muslime natürlich ein Muss. Gerade der Islam in Bosnien hat in diesen Fragen eine besondere Autorität, ist hier doch trotz des Krieges und seinen zehntausenden Opfern und trotz Srebrenica uns ein „europäischer“ Terrorismus – Gott sei Dank – erspart geblieben.

Zu Recht beklagen viele Muslime und Nicht-Muslime aber auch die Beschränkungen dieser Debatte um den Terrorismus. Der Terrorismus findet nicht in einem Vakuum, sondern vielmehr in einer nihilistischen Landschaft statt. Die optischen Täuschungen, zu denen eine einseitig geführte Debatte führen kann, beschreibt der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk treffend:

„Der Terrorismus wird bei uns geradezu sakralisiert. Denken Sie an das Buch „Powers of Ten“: Da sieht man eine Reise durch den Kosmos – vom Größten bis zum Kleinsten – wobei man den immer gleichen Bildausschnitt beibehält, ihn aber jedesmal um eine Zehnerpotenz vergrößert darstellt. Erst sieht man Galaxienhaufen, dann die Milchstraße, die Erde, ein Land, eine Stadt, einen Garten, dann liegt da ein Paar auf der Wiese, schließlich fährt die Kamera in die mikroskopische Welt hinein und holt die Elementarteilchen an die Oberfläche. Da erlebt man plastisch die Macht der Vergrößerung. Etwas ganz Ähnliches geschieht heute mit dem Terror: Nadelstichgroße Effekte im Realen werden durch unsere Medien bis auf das Format von interstellaren Phänomenen vergrößert.“

Lassen wir uns also von dieser Debatte nicht ablenken. Natürlich sind wir europäischen Muslime nicht so naiv, die Wesensveränderungen der europäischen Demokratien der letzen Jahren zu übersehen. Sie sind auch, wenn auch nicht nur durch den Terrorismus ausgelöst, der der neuen Weltordnung nun zu umfangreichen „Ausnahmerechten“, oder wie der italienische Intellektuelle Agamben dies sagt, zum permanenten Ausnahmezustand verholfen hat. „In allen westlichen Demokratien“, so meint Agamben, „wird die Erklärung des Ausnahmezustands ersetzt durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens“ Nicht zuletzt das Beispiel Guantanamo hat der Welt verdeutlicht, dass die Etablierung von „Ausnahmerecht“ und „Ausnahmeorte“ in der Moderne jederzeit wieder möglich ist.

Zweifellos sehe ich die eigentliche, die geschichtliche Gefahr für die westlichen Demokratien nicht so sehr in einem Erstarken des radikalen Islamismus in den europäischen Gesellschaften, sondern in der klammheimlichen Etablierung eines neuartigen, autoritären Kapitalismus. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk warnt eindringlich vor dieser Option:

Man kann nur mit tiefem Bedauern bemerken, wie Zug um Zug Freiheitsspielräume verloren gehen werden. Die aktuelle Situation ähnelt jener der Dreißigerjahre im 20. Jahrhundert, als mehrere Arten des Autoritarismus zur Wahl standen – weltweit. Ich glaube, im Moment erleben die politischen Systeme wieder einen Übergang zu postliberalen Formen. Man hat die Wahl zwischen einem eher parteidiktatorischen Modus wie in China, einem staatsdiktatorischen Modus wie in der Sowjetunion, einem stimmungsdiktatorischen Modus wie in den USA und schließlich einem mediendiktatorischen Modus wie in Berlusconis Italien.“

Dieses Thema ist in Europa in aller Munde. Der Franzose Jean Christophe Rufin, Gründer der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, sieht schon länger die nationale, demokratische Kultur durch das globale ökonomische System herausgefordert. So schreibt Rufin, in seinem Buch „Die Diktatur des Liberalismus“:

„Das System wird, vor allem in seinem wirtschaftlichen Zuschnitt, immer inter- und übernationaler und ist deshalb immer schwerer zu kontrollieren. Dagegen können die Menschen ihre politische Wahl nur noch auf nationaler und lokaler Ebene zum Ausdruck bringen, das heißt, ohne die wirklichen Kraftquellen des Systems zu erreichen. Diese Spaltung zwischen dem nationalen Bereich – der wohl oder übel der Raum bleibt, in dem die demokratische Kontrolle stattfindet – und dem übernationalen Bereich, in dem die wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen werden, ist eine der Ursachen für die Autonomie der liberalen Kultur. Sie hat mehrere Vorteile. So erlaubt sie z.B. dem Wirtschaftssystem, sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Außerdem lässt sich der politische Protest in Schranken halten, indem man ihn auf einen nationalen Rahmen eingrenzt.

Man kann sagen, dass ein Großteil der europäischen Eliten heute die eigentliche geschichtliche Frage darin erkennt, wie die nationalen Demokratien den internationalen Kapitalismus noch zu bändigen vermögen. Man denke nur an die titanischen Möglichkeiten einer weltweit agierenden Finanztechnik, die die Macht von Nationalstaaten in den Schatten stellt. Man denke nur an den chinesischen Kapitalismus, ein Kapitalismus, der Demokratie nicht wirklich nötig hat und dessen Verhältnis zur Demokratie ein Verhältnis der Überordnung ist. Wir kommen also in letzter Konsequenz zu einer der wesentlichen, der philosophischen Frage des modernen Europas, die der deutsche Philosoph Martin Heidegger so formuliert hat: Hat die Technik den Menschen in der Hand, oder der Mensch die Technik? Kann man den entfesselten Kapitalismus überhaupt reformieren?

Martin Heidegger ist pessimistisch, ob der Mensch – sozusagen in eigener Regie – das Ruder herumreißen kann: „Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden?“ (Martin Heidegger, Briefwechsel mit Kästner)

Ich bin überzeugt, dass an dieser Stelle der eigentliche intellektuelle Reiz der Begegnung Europas mit dem Islam und seiner Offenbarung zu sehen ist. Jede Zeit hat ihre Botschaft, in unserer Zeit muß der Kern einer Botschaft, wenn sie relevant sein will, ökonomischer Natur sein. Im Koran findet sich zu unserer menschlichen Lage, aber auch zur ökonomischen Situation tatsächlich ein Schlüsselayat: „Allah hat den Handel erlaubt, aber das Zinsnehmen verboten“ (Sura al-Baqara, 275). Es muß nachdenklich stimmen, dass im heutigen Europa die gegenteilige Realität herrscht: Europa hat den Handel monopolisiert und das Zinsnehmen professionalisiert.

Der eigentliche Kern der islamischen Zivilisation, die erweiterte Moscheeanlage, das Imaret, kann man hier in Sarajevo sehr gut studieren. Diese auf Ganzheitlichkeit beruhende Architektur steht im Einklang mit der geschichtlichen Tatsache, dass der Prophet in Madinah nicht nur eine Moschee, sondern auch einen Markt errichtet hat. Moschee, Markt und Stiftungswesen, in dem Zusammenspiel dieser Elemente wohnt das Maß inne, dass den Islam in Logik und Wirkung von der politischen Ideologie unterscheidet.

Eine meiner bewegendsten Begegnungen fand vor einigen Jahren mit dem verstorbenen Alija Itzetbegovic hier in Sarajevo statt. Der ehemalige Präsident war von seiner tragischen Geschichte schwer gezeichnet und berichtete über seine – eigentlich von ihm nie gewollte – politische Karriere. Der Islam – so Itzetbegovic – war für ihn in seiner Jugend vor allem eine ökonomische Lehre, die die Lehre des Kommunismus zurückwies. Wir kamen in dem Gespräch überein, dass die Trennlinie auf der heutigen Welt nicht zwischen Kulturen oder Religionen, wohl aber als ein neuer Limes zwischen arm und reich besteht.

Das Gespräch drehte sich auch schnell um die negativste der gegenwärtigen Möglichkeiten auf dem Balkan: einem neuen, sich wiederholenden Bürgerkrieg. Dies wäre auch – wie wir in dem Gespräch gemeinsam feststellten – deswegen eine Tragödie, weil es auch ein neuer Bürgerkrieg zwischen jungen Serben, Kroaten und Bosniaken wäre, jungen Leuten, die alle im Grunde nicht mehr so genau wissen würden, was der eigentliche „kulturelle“ Unterschied zwischen ihnen ist. Sollte es zu solchen kriegerischen Szenarien kommen, dann wohl weniger aus kulturellen Gründen, sondern wohl eher aus „ökonomischer Unzufriedenheit“.

Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Gerade hier in Bosnien. Heute ist das Wort „Balkanisierung“ eine Art politisches Schimpfwort geworden. Der Balkan droht im sich abzeichnenden „Weltinnenraum des Kapitals“ – so nennt Sloterdijk die neue globale Ordnung – eine vernachlässigte Zone zu werden. Es verwundert so nicht, dass es in Europa keine wirkliche öffentliche Debatte über einen EU-Beitritt Bosniens gibt. Eine solche Debatte wäre nicht nur spannend, sondern aus den genannten Gründen für das geschichtliche Selbstverständnis Europas ungeheuer wichtig.

Gerade die Jugend Bosniens sollte diesen Fragen, sei es der Frage nach dem Schicksal, der europäischen Identität oder der aktuellen ökonomischen Ordnung, in die Augen schauen. Viele junge Leute in Europa sind heute von der Grundstimmung des Nihilismus angegangen: der Langeweile. Der Versuch, dieser Langeweile durch Konsum zu entrinnen, so zeigt die menschliche Erfahrung, ist nicht möglich. Die Erfahrung der Langeweile ist aber aus existentieller Sicht nicht anderes als der Aufruf, der eigentlichen Tiefe und Bedeutung der Existenz ins Auge zu schauen. Ibn al Arabi hat die Langeweile als etwas denkunmögliches im Islam angesehen. Ich möchte mit diesem Absatz aus den Mekkanischen Offenbarungen schließen:

Manche Leute wissen nicht, dass Allah Sich in jedem Augenblick [neu] offenbart, und jede dieser Offenbarungen ist von der ihr vorangehenden verschieden. Wenn es jemandem dieser Wahrnehmung mangelt, mag er ohne Ende in einer einzigen Selbstoffenbarung [Allahs] verweilen und ihre Bezeugung für ihn langwierig werden. Dann wird ihn die Langeweile überkommen, doch Langeweile in diesem Aufenthalt ist Mangel an Ehrfurcht gegenüber der Göttlichkeit, denn „sie sind, was eine neue Schöpfung“ in jedem Augenblick „betrifft, im Unklaren.“ (50:15). Sie haben die Vorstellung, dass sich die Lage nicht ändert, also wird ein Schleier über sie verhängt und dies führt zum Mangel an Ehrfurcht, nachdem Allah ihnen Wissen um ihrer Selbst und Sich entzieht. Also stellen sie vor, dass sie zu jedem Augenblick gleich sind.“