Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

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Ukraine

Kiew: Demonstrantan auf dem Euromaidan. (Foto: Christiaan Triebert, flickr | Lizenz: CC BY-NC 2.0

Die chaotischen Entwicklungen in Kiew machen uns – nach den verheerenden Balkankriegen der 1990er Jahre – wieder einmal schmerzlich bewusst, dass es auch in Europa weiterhin Optionen für Kriege und Bürgerkriege gibt. Wieder ist dabei mit der Ukraine ein überaus kompliziertes Staatsgebilde betroffen, ein Vielvölkerstaat mit einer so komplizierten Geschichte und einer grundsätzlichen „Minderheitenproblematik“. Nach der offiziellen Volkszählung 2001 leben im riesigen Staatsgebiet der Ukraine 77,8 Prozent Ukrainer, 17,3 Prozent Russen und über 100 weitere Nationalitäten.

Seit Jahrhunderten befindet sich die Region im Konflikt mit Polen, Russen oder Deutschen. Es ist naheliegend, dass ohne das genaue Studium der Nachwirkungen dieser Geschichten, das kollektive Bewusstsein der Ukrainer unverstanden bleiben muss. Im Zweiten Weltkrieg war das Land Schauplatz rigoroser Judenverfolgungen. Die Schlachten um Sebastopol auf der Krim, deren unglaublicher Blutzoll der deutsche General Manstein in seinen Tagebüchern ungerührt schildert, gelten als Mahnmal einer menschenverachtenden Kriegsführung im Rausch des „Willens zur Macht“. Siebzig Jahre sind vergangen, seit zehntausende Krimtataren während des Zweiten Weltkrieges durch Stalin verfolgt und deportiert wurden.

Bei der Beurteilung der aktuelle Lagen in der Ukraine mischen sich natürlich verschiedene Ebenen, Interessen und Motive. Wir erleben das junge Nationalbewusstein der Ukrainer, der Ruf einer Generation nach Wohlstand, den Werten der Demokratie, das verständliche Bedürfnis der Minderheiten nach einer verlässlichen Rechtsordnung, aber auch die Machenschaften der Oligarchen, die strategischen Interessen der global vernetzten Finanzinstitute und die Profitgier der Gläubiger der Ukraine. Nicht nur in Kiew stellt sich übrigens in diesen Tagen die Frage, ob der Griff der Oligarchen nach Medien und die Einflussnahme ausländischer Stiftungen mit ihren Millionenbudgets auf den politischen Prozess überhaupt noch einen fairen Wettbewerb der Meinungen ermöglicht.

Auch unser Blick auf das Geschehen in dieser europäischen Schicksalsregion ist des Öfteren durch eine gewisse Einseitigkeit geprägt, die sich aus unserer alltäglichen Abhängigkeit von der „offiziellen“ Berichterstattung ergibt und letztlich nur durch eigene Recherchen vor Ort geprüft werden kann. Interessant war hier zum Beispiel das Interview mit Marina Weisband auf SPIEGEL-Online, die das uns präsentierte „Heldenepos“ um den Oppositionsführer Klitschko mit ruhiger Stimme und mit der Souveränität einer Augenzeugin – die wirklich vor Ort war – relativiert. „Klitschko wird als Figur kaum ernst genommen. Ich selbst habe niemanden getroffen, der von ihm begeistert war. Er spricht kaum Ukrainisch, sagt bei seinen Auftritten nur wenige Sätze“, liest man im Gespräch mit der „Piratin“ und fügt diesen wichtigen Beitrag sogleich in das eigene Mosaik der gewonnenen Informationen ein.

Es ist wohl auch dem Verhandlungsgeschick unseres Außenministers, Frank Steinmeier, zu verdanken, dass immerhin das fatale Szenario eines Bürgerkriegs zumindest aufgeschoben und – wie wir noch hoffen müssen – auch dauerhaft verbannt hat. Dies liegt natürlich auch im Interesse der zwei Millionen Muslime des Landes. Schon im Herbst 2013 hatten in einer gemeinsamen Erklärung alle religiösen Gruppierungen der Ukraine – also Juden, Christen und Muslime – die Unabhängigkeit der Ukraine gefordert und, unter Vorbehalt der Berücksichtigung eigener traditionellen Werte, auch eine Annäherung an die EU befürwortet.

Besonders heikel ist die Lage der Muslime auf der Krim. Verschiedene EU-Organisationen sorgen sich schon seit Jahren um den fragilen Status dieser Minderheit. Hier herrscht schon länger die Befürchtung, dass die russische Mehrheit – insbesondere bei einer Spaltung der Ukraine oder einer endgültigen „Westbindung“ Kiews – die Ablösung der Halbinsel und später eine Anbindung an Russland durchsetzen könnte. Die Führung der Krimtataren, die 12,1 Prozent der Bevölkerung ausmachen, hat bereits die aktuelle Ankündigung des lokalen Parlaments, wonach ein Regierungswechsel in Kiew die Loslösung der Krim von der Ukraine bedeuten könnte, scharf zurückgewiesen.

Hier besteht zweifellos ungeheures Konfliktpotential, das ich schon länger mit Sorge beobachte: Es geht um die grundsätzliche Positionierung Moskaus in seinem Einflussbereich gegenüber dem Islam und den europäischen Muslimen. Natürlich ist das Interesse Russlands an der Verfolgung von Terrorismus und Extremismus legitim, aber durch eine zu beobachtende maßlose Haltung und ausgrenzenden Rigorismus gegenüber den Muslimen könnten sich immer mehr junge Muslime in einen antiquierten Nationalismus oder aber in radikale, fremdbestimmte Ideologien flüchten. Die Auflösung von Traditionen, der Verlust des Wissens durch die Lehre der anerkannten Rechtsschulen – kurzum eine fortschreitende Verrohung der Muslime zu Gunsten einer islamisch-globalen Ideologie – wäre nicht nur für Moskau, sondern für ganz Europa eine fatale Entwicklung.

Viel wichtiger wäre es den Dialog mit dem Land der Dichter und Denker fortzuführen, dessen Nationaldichter Tolstoi in seinem berühmten Werk über „Krieg und Frieden“ einer der schönsten und tiefsten Abhandlungen in einer europäischen Sprache über das Schicksal verfasst hat. Ein gutes Schicksal zu erhoffen, gehört immerhin zu den wichtigsten Bittgebeten der Muslime.