Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Vernunft

„Es ist schwer vorstellbar, wie die derzeitige globale Wachstumsrate von 3,7% im Jahr (was bedeutet, dass die globale Ökonomie sich alle 19 Jahre verdoppelt) aufrecht erhalten werden könnte, selbst wenn alles durch Wind und Sonne angetrieben wäre.“ (The Guardian)

Die Gewitterwolken der weltweiten Finanzkrise lassen heute nationale Politik und nationale Politiker eher hilflos erscheinen. Zu offensichtlich zeigt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die vollzogene Machtverschiebung von der Politischen hin zur ökonomischen Ebene. Keine Politik konnte diesen weltweiten Coup de Banque verhindern. Keine Vernunft und keine Aufklärung kam gegen das irrationale Dogma ewigen Wachstums an. Und moralisch agieren die westlichen Industrienationen getreu des Mottos einer der Protagonisten Bernhard Shaws: Moral? Kann ich mir nicht leisten!

Und die Muslime? Im Grunde ein Jahrhundert lang waren Muslime schlicht integriert in das politische Denken des Westens. Der „moderne“ politische Islam, aufgespalten in ideologische, radikale, esoterische und nationale Parteiungen, blieb doch immer fasziniert und bestimmt, sei es in negativer oder positiver Bewunderung, sei es in Unterwerfung oder Feindschaft, von der „Macht des Westens“. Das eigene politische Modell blieb nichts anderes als eine Kopie, die politische Organisationstechnik nachahmend und die Überzeugung übernehmend, dass Macht organisierter Wille sei.

Eine der Ausnahmen in dieser Denkwelt blieb das Werk Schaikh Abdalqadir-as Sufis. Der gebürtige Schotte sah bereits in den 80er Jahren, als Muslime sich für Parteien und islamische Banken erwärmten, dass der Westen aller Welt eine Art „sexuelle Freiheit“ anbiete, aber auf der ökonomischen Seite ein „Zwangssystem“ ohne tiefere Freiheiten etabliere. Politische Ideologien können diesen „New Deal“ nicht überwinden, eher stärken. Die tiefere, weil positive Logik dieses Werkes führte nicht in die politische Ideologie, vertrieb keine Programme und lehrte eine Verachtung gegenüber der nihilistischen Trostlosigkeit des Terrorismus. Das Erbe Madinahs war hier nicht der Nationalstaat, sondern die sinnstiftende Organik von Märkten, Stiftungen und Zakat. Ökonomische Freiheit und nicht etwa eine gewalttätige politische Revolution bleibt so das zentrale soziale Anliegen des Islam.

Das Faszinierende am Sufimus ist, schon wegen seiner alltäglichen spirituellen Erfahrung, dass er nicht von dem Zweifel ergriffen wird, dass Macht sich allein im Siegeszug der Technik zeige und mächtig nur sei, wer die größte Partei oder die größte Bank besitze. Logischerweise fehlt auch hier die „modern-politische“ Erfahrung der Ohnmacht. Nietzsches Warnung, dass die Wüste wachse und der gefährdet sei, der Wüsten berge, nehmen die echten Sufis, wie alle Muslime, ernst, indem sie den Islam korrekt praktizieren und beten. Wer betet, langweilt sich auch nicht und entzieht sich – wie Heidegger anmerkt – damit der Grunderfahrung des Nihilismus.

Betrachten wir heute die Debatten über die ökonomische Krise, dann denken wir nicht auf Grundlage „objektiver“ gesicherter Erkenntnisse, sondern innerhalb der Glaubenssysteme der verschiedenen Lobbygruppen. Wenn wir im Internet surfen, können wir uns entsprechend unserer Vorlieben mit endlos „richtigen“ Informationen eindecken. Im Koran ist die wahre Lage einfacher dargestellt: Zins ist verboten, der Handel erlaubt. Das Papiergeld – als inflationäre Phantasie – kann nicht für die Zahlung der Zakat verwendet werden. Täuschungen machen hier verständlicherweise keinen Sinn.

Sogenannte Reformmuslime wenden sich zu Recht gegen die Ideologisierung des Islam, aber verfehlen gleichzeitig die aktuelle Bedeutung des Islam insoweit, als sie seine „ökonomische Verbindlichkeit“ genauso leugnen und damit auch die aktuelle Relevanz des Islam. Wie in jedem politischen Islam bleibt das Recht eine disponible, dem politischen Willen untergeordnete Größe. Natürlich machte es innerhalb dieser Logik auch keinen Sinn, Muslim zu werden, da ja „alle Religionen gleich“ sind.

Trotz der Befürchtungen, die man angesichts drohender Krisen natürlich hat, muss man die aktuelle Weltlage als Stimulanz für das Denken begreifen. Eines steht fest, die moderne Gleichung, dass es ewiges Wachstum und folgenlose Papiergeldvermehrung geben kann, entzieht sich jeder Vernunft. Es ist merkwürdig, dass die Muslime aus dem Sufismus (gerne als irrational diffamiert) heraus an diese Denkregel erinnert werden.