Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Vortrag Potsdam: Denklinien

Liebe BesucherInnen,

As-salamu´alaikum

Ich möchte Ihnen heute einige Denklinien aus dem Islam oder besser natürlich, in den Islam, vorstellen. Wir werden in einigen Momenten sehen, inshAllah, warum es existentiell Sinn macht, von einem Weg, einer Bewegung in die Erfahrung des Islam zu sprechen, also vorauszusetzen, dass es hierzu immer wieder eine neue, aktive Denkbewegung von uns Menschen braucht.

Ich möchte also Linien vorstellen, die in den Kern unserer Existenz und damit in den Islam selbst führen. Zum Schluß meiner kurzen Besinnung möchte ich das verbindende innere und äußere Geheimnis unseres Daseins und Miteinanderseins als Muslime überhaupt andeuten.

Bitte erlauben Sie mir zunächst, die “Denklinien in den Islam” anhand einiger Gedanken zum Bild der Linie aufzuzeigen. Natürlich ist dabei auch, dass, denken wir an diese “Linien”, wir auch an den “Kreis” denken müssen. Was hat es mit den Urformen der Linie und des Kreises in unserem Dasein auf sich?

Die bloße Linie verknüpft bekannterweise zwei Punkte, gehört in die Welt der Geometrie, in die Vorstellungswelt der Wissenschaft. Die Linie versinnbildlicht auch die wissenschaftliche Idee der Unendlichkeit. Die Linie trennt aber auch in zwei Häften, in unterschiedliche Räume.

Wir sagen aber auch: “Wir haben eine klare Linie” – und wollen damit unseren klaren Willen beschreiben, von A nach B zu kommen.

Der Kreis verbindet den Anfang mit dem Ende und ist gleichzeitig tief mit der Idee “Mensch und Dasein” verbunden. Der Kreis impliziert einen Mittelpunkt, um den man kreist. Er kann auch den Bruch unseres Willens andeuten, wir wollen nach B, aber, ob wir wollen oder nicht, enden wir wieder in A.

Linie und Kreis sind überhaupt und in vielerlei Hinsicht, sei es als Bilder oder Gleichnisse, mit unserer Existenz verbunden.

Die Linie ist ja nicht nur die theoretische und abstrakte Verbindung zweier Punkte, sie ist auch als Schöpfungslinie, die Verbindung zwischen dem Schöpfungsakt und dem jüngstem Tag, denkbar. Wie Linien im Sand erkennen wir die Linien unserer Vorfahren. Wir sprechen von der eigenen Lebenslinie, als die je eigene Verbindung zwischen Geburt und Tod.

Diese Linien führen aber auch unmittelbar in das Bild des Kreises, vor allem wenn wir glauben. Wir alle kennen das bewegende Beispiel der Annäherung von Beginn und Ende, die sich in der Glückseeligkeit von Alten und Kleinkindern andeutet. Man sagt: ein Kreis schließt sich.

Im Islam.

Auch im Islam spielen Linie und Kreis eine Rolle. Es gibt eine elementare Verbindungslinie, die Verküpfung des Einzelnen mit seinem Schöpfer, die uns immer wieder bewußt wird. Beim Gebet richten wir uns im Raum, im Sinne gedachter Linien, aus.

Der Kreis spielt aber bei einem anderen, elementaren Ritus eine Rolle.

Zunächst führt uns eine geographische Linie nach Mekkah. Aber, am Mittelpunkt unserer Existenzen angekommen, muss man, kann man eigentlich nur noch kreisen. Die Hajj, sozusagen unser eigentliches Lebensgleichnis, ist stark mit dem Bild des Kreisens verbunden. Am Ziel gibt es keine Linie mehr, die uns vom Raum trennt, sondern es bleibt nur noch der Kreis. Die Kreisbewegung am Ziel ist so auch das Symbol des Endes jeder Dialektik von Leben und Tod, als zwei angeblich gegensätzliche Punkten unseres Zeithorizonts.

Ich und das vorgestellte gegenüber, Subjekt und Objekt, lösen sich auf. Zeit wird relativ. Raum wird relativ. Die Linien verwischen.

Wir haben bereits gesagt, der Kreis ist immer auch eine Rückkehr zum Anfangspunkt. Im Denken ist es die Rückkehr zu den Grundfragen. Unsere Denklinien “in den Islam” sind daher alten, immer wiederkehrenden Grundfragen aller Menschen gewidmet.

Heute

Wir leben heute – in erster Linie – die dramatische Unterbrechung vorgestellter Fortschrittslinien. Linien, die für ein „immer weiter so” oder ein “immer mehr”, stehen. Linien, die immer stärker ansteigen. Linien, die uns alle an den linearen Fortschritt glauben ließen. Eine Linientreue, die uns vorgaukelt, alle Grundfragen des Daseins seien bereits ausreichend beantwortet.

Im Moment erklärt sich uns das Wesen unserer Zeit gerade im ökonomischen Feld. Die notwendige Einsicht ist einfach: Es gibt kein ewiges, linear ansteigendes Wachstum. Diese Grundfragen erreichen uns heute wieder, ob wir glauben oder nicht.

Ein Beispiel ist ein Interview der Islamischen Zeitung mit einem Mathematiker. Wir fragen den Wissenschaftler über das Prinzip “contra naturum”:

Islamische Zeitung: Sie haben kürzlich gesagt: „Zeitlich unbegrenztes Wachstum lässt sich physikalisch auf keinen Fall aufrecht erhalten“. Was heißt das?

Prof. Jürgen Kremer: Dass ein exponentielles Wachstum physikalisch nicht funktionieren kann, ist ja eigentlich eine Binsenweisheit; das weiß jeder Ingenieur, jeder Physiker. Das, was ich und viele andere nicht gesehen haben, ist, dass unser zinsbasiertes Finanzsystem auch einen Mechanismus besitzt, der ständiges Wachstum erzwingt.

Wir erleben so die Rückkehr zur Grundfage des Zinses und seiner abenteuerlichen Idee exponentiellen Wachstums. Die Zinsnahme war schon bei Aristoteles, in seiner Politea, eine wichtige politische Grundfrage. Aristoteles sah darin sogar das Grundübel des Gemeinwesens.

Auch im Feld der Politik spricht man heute schon beinahe sprichwörtlich davon, sie habe jede “Linie” verloren. Im Politischen erleben wir nicht etwa einen automatischen, linearen Fortschritt, sondern eher betrübliche Anzeichen, die an die berühmte “Platonische Kreisbewegung” erinnern. Nach Platon sollen sich ja die Formen der Demokratie, Oligarchie, Tyrannei, Diktatur, in einer konstanten Wiederkehr ablösen und wiederholen.

Wir sind als Muslime gewohnt, nicht “linientreu” zu denken. Das ergibt sich auch aus unserer Wahrnehmung der Geschichte. Ibn Khaldun, der größte Geschichtsdenker der islamischen Welt, denkt nicht in Linien. Er beschreibt Geschichte vielmehr als ein Auf und Ab, als Aufbau und notwendigen Zerfall von Zivilisationen, als eine Wellenbewegung der Geschichte und der sozialen Wirklichkeit, fern von der Idee linearen Fortschritts.

Das eigene Dasein

Aber ich möchte zurück zur wichtigsten Denklinie, der Bedeutung des “Kreises” oder des “Kreisens” in unserem eigenen Dasein. Die Rückkehr zur Frage, warum sind wir, warum ist nicht nichts. Was ist der Sinn des Kreisens alles Daseins?

Das für mich faszinierende existentielle Grundmuster der Frage nach dem “Kreisen” findet sich bei Rainer Maria Rilke. Rilke beschreibt dieses Phänomen in seiner wunderbaren Sammlung “vom mönchischen Leben”.

Nach Rilke ist der Sinn des Kreisens, wie wir sehen werden, das an Höhe gewinnen, um eine überlegene Übersicht zu haben. Der Denker oder Philosoph sieht so, vom höchsten denkbaren Ort auf die menschliche Situation. Maulana Rumi sagt, man muss Höhe gewinnen können, um das Teppichmuster zu erkennen, auf dem sich die Ameise hilflos bewegt.

Rilke spricht über das Kreisen so:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.

Das faszinierende Motiv, das Rilke beschreibt, behandelt auch das Problem der Wiederholung. Nur wenn man die wiederkehrenden Fragen gelöst hat, ist man bereit für den nächsten Ring. Persönlich mag das für den Einzelnen ein Problem mit einem Mitmenschen, mit dem Vater oder wem oder was auch immer sein, was das Steigen und Höhe gewinnen aber immer wieder unmöglich macht. Jeder, der in Gemeinschaft lebt, kennt diese wiederkehrenden Fragen, an denen das Steigen zerbrechen kann.

Ergo: Gelingt es nicht, die wiederkehrende Frage zu lösen, dreht man sich im Kreis!

Die Nichtbewegung

Die mögliche Nichtbewegung, sei es auf der Linie oder im Kreis, nennt der Philosoph Martin Heidegger die “Langeweile”. Die Momente scheinen in einer Linie aufgereiht und bewegen sich nicht mehr. Die Zeit scheint still zu stehen, sich zu wiederholen, es bewegt sich nichts.

In einer berühmten Vorlesung spricht Heidegger insbeondere über diesen Begriff der Langeweile. Die Langeweile ist für Heidegger auch eines der Symbole und Kennzeichnungen des Nihlismus. Dieser Zustand ist für ihn nicht aber ein schlimmes Übel, sondern ein Ort, von dem aus man gerade Entscheidendes lernen kann.

Für Heidegger zeigt sich gerade in der Erfahrung der Langeweile, dass die Welt als Ganzes und die einzelne Existenz auf paradoxe Weise miteinander verbunden sind. Wenn einen die Langeweile überkommt, kann man auf faszinierende Weise zu einer ersten Erfahrung der Einheit geführt werden. Der Einzelne wird vom Ganzen der Welt gerade dadurch ergriffen, dass er davon nicht ergriffen, sondern leer zurückgelassen wird.

Heidegger: „Ist es am Ende so weit mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?“

Kann man der Langeweile entrinnen?

Heidegger sieht nichts Gutes darin, der eigentlichen Erfahrung der Langeweile (oder der inneren Leere) durch hektische äußere Aktivitäten oder Machenschaften auszuweichen. Seine Maxime ist vielmehr: Es geht nicht um Ablenkung, es geht um mehr, viel mehr, es geht um einen inneren und äußeren Wandel!

„Überall gibt es Erschütterungen, Krisen, Katastrophen, Nöte: das heutige Elend, die politische Wirrnis, die Ohnmacht der Wissenschaft, die Aushöhlung der Kunst, die Bodenlosigkeit der Philosophie, die Unkraft der Religion. Gewiß, Nöte gibt es überall. Gegen diese Nöte werden Programme, Parteien, Maßnahmen aufgeboten, es gibt Geschäftigkeiten aller Art.“ „Aber“, so Heidegger, „diese zappelnde Notwehr gegen die Nöte lässt gerade eine Not im Ganzen nicht aufkommen.“

„Wenn nichts mehr geht, muss man sich selber auf den Weg machen“ heißt damit das Credo jeder echten Philosophie und ist wohl der einzige wahre Weg aus der Langweile hinaus. Auch ein großer islamisch-europäischer Denker, Schaikh Ibn 'Al Arabi, hat über diese Langeweile philosophiert.

Heidegger wusste übrigens erstaunlich wenig von der arabischen Philosophie, mit der er aber doch verbunden war, betont er doch immer wieder, dass alle großen Denker am Ende doch über das Selbe nachdenken. Dies sieht man auf wunderbare Weise anhand der Abhandlung Ibn 'Al Arabis über die Langeweile.

Nach Ibn 'Al Arabi gibt es für die Langeweile und ihre “optischen Täuschungen” einen einfachen Grund: „Er” also Allah – “hat euch keinen Schleier auferlegt als euer Selbst.“

So fordert Ibn 'Al Arabi den Menschen auf, den Schleier zwischen sich und dem Schöpfer zu lüften. Und Ibn 'Al Arabi fährt fort:

„Manche Leute wissen nicht, dass Allah Sich in jedem Augenblick [neu] offenbart, und jede dieser Offenbarungen ist von der ihr vorangehenden verschieden. Wenn es jemandem dieser Wahrnehmung mangelt, mag er ohne Ende in einer einzigen Selbstoffenbarung [Allahs] verweilen und ihre Bezeugung für ihn langwierig werden. Dann wird ihn die Langeweile überkommen, doch Langeweile in diesem Aufenthalt ist Mangel an Ehrfurcht gegenüber der Göttlichkeit, denn „sie sind, was eine neue Schöpfung“ in jedem Augenblick „betrifft, im Unklaren.“ (50,15). Sie haben die Vorstellung, dass sich die Lage nicht ändert, also wird ein Schleier über sie verhängt, und dies führt zum Mangel an Ehrfurcht, nachdem Allah ihnen Wissen um ihrer Selbst und Sich entzieht. Also stellen sie vor, dass sie zu jedem Augenblick gleich sind.“

Wir kehren mit den Worten des großen Denkers zu einer uralten Grundeinsicht zurück. „Alles fließt”. Mit diesem Wort lehrte schon Heraklit das Eins-sein mit den Dingen als einen dynamischen Vorgang.

Geistige Arbeit

Wir sind aber nicht per se und immer “erleuchtet”. Die Wirklichkeit zu erkennen ist nichts anderes als eine Arbeit. Wir bewegen uns in einer authentischen Kreisbewegung zwischen Verfallenheit, Erinnern, an die Einheit und wieder einkehrenden Verfallenheit. Der trennende Schleier kehrt immer wieder zurück.

Man kann dieses im Kreis drehen, über das wir hier denken, sogar steigern. Sogar über das Denken hinaus. Den Einsichten Ibn 'Al Arabis, Heideggers oder der alten Griechen entspricht ein geläufiges Bittgebet der Sufis, das ich auch von Schaikh Dr. Abdalqadir As-Sufi immer wieder gehört habe: „Oh Allah, halte uns in Veränderung“.

Mit anderen Worten, man kann die fortlaufende Veränderung und Neu-Offenbarung der Schöpfung nicht aus einem statischen Zustand heraus erfahren. Wir müssen uns auf unseren Lienen und in unserem Kreis stetig bewegen.

Auch Rilke, dessen faszinierende Dichtung ich vorher erwähnt hatte, bewegt sein großes Gleichnis vom Kreisen in wachsenden Ringen weiter. Er entwickelt dabei noch einmal das Bild des Kreisens. Nun spricht er:

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.

Natürlich erkennen wir hier ein Paradox. Kein “Ich” der Welt kann jahrtausendelang kreisen. Die Verwendung ähnlicher, paradoxer Zeitebenen finden sich auch häufig im Koran, wo Allah Zeitebenen auflöst – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig anspricht.

Rilke widmet sich hier dem Rätsel der Schöpfung überhaupt, nicht etwa dem Rätsel des je einzelnen Ichs. Das Dasein kann letzlich nicht aus dem Einzelnen, sondern nur als Menschenschicksal begriffen werden.

Gemeinschaft

Bekannterweise war Rilke einsam in seinem Streben nach Einheit. In der Gemeinschaft lassen sich aus unserer Sicht die zwei Geheimnisse des Daseins, des Inneren und des Äußeren, leichter erfahren.

Man sagt, man bewegt sich als Muslim “Im Kreis der Gemeinschaft”. Ja gut, aber was bringt diese völlig unterschiedlichen Lebenslinien zusammen? Was führt zur Verwebung unserer Schicksale, die so verwoben, zur sozialen Plastik werden? Was hält uns denn im Kreis der Gemeinschaft?

Ibn Khaldun – (Die Muqadima, 319-20) – beschreibt dieses, nennen wir es Äußere Geheimnis:

„Nur mit Allahs Hilfe bei der Einrichtung seines Dins (Lebensweise) kommen die Wünsche der Einzelnen in der Durchsetzung ihrer Ziele zusammen, und die Herzen werden vereint (..). Das Geheimnis dessen ist, dass die Herzen von falschen Sehnsüchten angezogen werden und der Welt zugeeignet sind – gegenseitige Eifersucht und weit verbreitete Unterschiede auftauchen. Aber, wenn sie der Wahrheit zugewandt sind, die Welt zurückweisen und alles, das falsch ist, und auf Allah zugehen, dann werden sie in ihren Augen eins. Eifersucht verschwindet. Gegenseitige Zusammenarbeit und Unterstützung erblühen. “

Spiegelbildich müssen wir nun – ohne dabei das Innere weniger wichtig als das Äußere zu nehmen, über das “Innere Geheimnis” sprechen. Wir sprechen am Ende dieses kleinen Vortrages so über die Wissenschaft des Tassawuf.

Im Kern dieser Überlieferung sind die spirituellen Techniken des Erinnerns. Diese Erfahrungen sind ganz und gar nicht langweilig. Wir beginnen den Dhikr als Einzelne, die in Linien sitzen und wir enden gemeinsam im Kreis der Hadra. Die Auflösung von Ich, Dasein, Linie, Kreis lässt sich nicht mehr denken. Mit Rilkes Worten: Man beginnt als Falke, wird vom Sturm ergriffen und endet als großer Gesang.

Aber kehren wir zurück zu unserer Denklinie. Der Nihilist dreht sich im Kreis, der Derwisch um Allah. Es bleibt uns als Menschen nur die ewige Wiederholung oder die Erfahrung der Einheit mit dem Schöpfer. Die Denklinie führt zu einem einfachen Prinzip menschlicher Erfahrung: Je mehr ich vergehe desto mehr kommt Allah.

Die spannendste Denklinie, die ich mir denken kann, ist so der Erfahrung nahe zu kommen, die der “Inneren und Äußeren Einheit” entspricht. Es ist die Einsicht in die Einheit, die den Islam als Lebenspraxis einzigartig macht.