„Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen. Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ Günter Eich
Es sind Themen wie Kopftuch und Religionsunterricht oder Exzesse von Einzelpersonen, die das Thema Islam und Muslime heute bestimmen. Daraufhin angesprochen, hat ein Gelehrter dieses Phänomen so beschrieben: „Alles, was früher wichtig war, ist heute unwichtig, alles was unwichtig war, wichtig“. Für Dritte, die die aktuelle Debatte um den Islam in Funk und Fernsehen verfolgen, muss es manchmal tatsächlich schwer sein, die eigentliche Relevanz des Islam wenigstens noch zu erahnen. Wer Muslime nicht kennt, kann wohl nur vermuten, dass es demjenigen, der seinen Islam ein kurzes Leben lang und mit vollem Herzen praktiziert, in erster Linie wohl eher um die drängenden Fragen von Leben und Tod und um Verpflichtungen wie das Fasten oder die Zakat gehen muss.
Im Lichte dieser Prioritäten, die sich nur in und nicht außerhalb der islamischen Gemeinschaft erfahren lassen, erscheint dann das Kopftuch als das, was es ist: eine Marginalie. Man sollte sich also nicht täuschen lassen, die Position der Muslime ist heute noch kaum bekannt. Auf die Bühne drängen vor allem Individuen, die eine, ihre Meinung haben. Wir erfahren viel über die Taten und Prophezeiungen von Einzelnen, wir erfahren wenig über das Wissen und die Überzeugungen der Muslime. Man könnte so weit gehen, zu behaupten, dass das Massenmedium sich überhaupt nur für denjenigen öffnet, der im Grunde klar stellt, dass er über das, was im Mittelpunkt des Islam steht, gerade nicht reden will und reden wird.
Bleibt man bei dem Schlüsselwort der Relevanz, sind es vor allem grundsätzliche Themen der menschlichen Situation, die sich bei tieferer Beschäftigung mit dem Islam in den Vordergrund drängen und die, wie gesagt, gleichzeitig in keiner Weise öffentlich debattiert werden: Die Antwort des Islam auf den Sinn der Existenz, das Bekenntnis der Einheit, die Position zur Ökonomie und die zivilgesellschaftliche Komponente der Stiftungen.
Die Forderung, der Islam solle nationale Gesetze respektieren und sich kulturell anpassen, können Muslime in aller Einfachheit und ohne Identitätsverlust nachkommen. In Wirklichkeit fordert die Existenz der Muslime in Europa den europäischen Intellekt nicht durch Anarchie, Gewalt oder Rebellion, sondern auf ganz anderer Ebene und mit positiver Intention heraus. Das Bekenntnis der Einheit macht den Islam für die europäische Philosophie, die nur mit Mühen der christlichen Trinitätslehre folgen konnte, denkbar. Das klare Verbot der Zinsnahme spielt gerade heute auf die Irrationalität einer modernen Wirtschaft an, die im Grunde auf der Schaffung nichtexistenter Werte und damit auf einer quasireligiösen, wundersamen Geldvermehrung beruht. Das islamische Stiftungswesen wiederum fördert die Solidarität zwischen den Menschen und schafft neben den im Islam akzeptierten Formen des privaten Eigentums, eine Art höheren Eigentums, die allein dem Schöpfer und dem Menschen gewidmet ist und eine Alternative zu der zunehmend ausbleibenden staatlichen Fürsorge darstellt.
Kurzum, hier ist eine Auswahl wahrer Themen angedeutet, die den Intellekt beschäftigen und mit den Fakten und Zeichen unserer Zeit ausgezeichnet korrespondieren. Für jeden Europäer, den die totale Welt der Technik ängstigt, den die allgemeine Demoralisierung des Menschen schockiert und in dem sich Zweifel an der Herrschaft des Menschen regt, eröffnen sich hier im Islam entscheidende Anstöße, wesentliche Sinnbezüge und Zusammenhänge. Und natürlich auch ein spannendes Gespräch. Da uns Muslime nicht das Paradies auf Erden versprochen wurde, sind wir in der Wahrnehmung äußerer Dinge jederzeit dem Realitätssinn verpflichtet. Wir sitzen sozuagen im gleichen Boot. Der Muslim kann sich im Lichte seiner verstandenen Glaubenssätze allerdings, die moderne wie folgenlose Position des distanzierten Beobachters nicht leisten, wird er doch in jedem Augenblick seines Seins selbst beobachtet.
Sieht man es so, dann scheint es, als wäre die aktuelle Debatte um den Islam gleichzeitig der Versuch, die Relevanz des Islam gerade nicht zur Sprache kommen zu lassen. Der aufgeregte Diskurs hat mit den Hundertschaften selbstmörderischer Terroristen oder anderen isolierten exzessiven Randerscheinungen der islamischen Gemeinschaft seine ideal sprachlosen Sparringspartner gefunden, gegen den sich das Gute in einem fiktiven Diskurs und ohne Gegenrede immer gewinnen lässt. Ein schönes Beispiel ist die aktuelle Gewaltdebatte um den Islam, die sich an den angeblich drohenden Exzessen einiger Großtstadtindianer festmacht und gleichzeitig ignoriert, dass der Westen mit seiner gewaltigen Rüstungsindustrie längst titanische Gewaltpotenziale zu ihrer Entladung vorbereitet hat.
Das politische Denken wird sich wohl in den kommenden Jahren um Begriffe wie den autoritären Kapitalismus drehen müssen, in Form geballter Wirtschaftsmacht, die Demokratie nicht mehr nötig hat und von einer anderen Parallelgesellschaft, gebildet aus Eliten wehrhafter Reicher, begleitet wird. Die Entschlossenheit, den Reichtum mit allen Mittel zu verteidigen, wächst. Gleichzeitig kündigen sich ungeahnte Machbarkeitsgrenzen an, ein Widerstand der Schöpfung selbst und die Mobilisierung von unbeherrschbaren Gegenkräften, die über das Menschliche hinausweisen.