Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Aus dem Gleichgewicht geraten?

Foto: A. Rieger

(iz). Spätestens seit dem 11. September 2001 ist der Begriff Islam aus den Medien nicht mehr wegzudenken. Sobald es um den Islam geht, ist  anstelle einer differenzierten Berichterstattung oftmals das Streben nach der Schaffung eines kollektiven Unterbewusstseins und die Verbreitung von negativen Assoziationen vorzufinden.

Der erste Teil der Seminarreihe „Islam und Medien“ vom Februar 2016 beschäftigte sich mit dieser Thematik und versuchte, die Rolle und Verantwortung der Muslime in der Debatte zu definieren. „Agieren statt reagieren, aktiv zum Agenda Setting beitragen und Debatten bestimmen“, so die Aussage des Referenten Abu Bakr Rieger, auf die Frage, was die Muslime tun könnten.

Am Sonntag, den 2. Oktober 2016, fand die zweite Veranstaltung der Seminarreihe „Islam und Medien“ statt, erneut mit Herrn Abu Bakr Rieger, dem Juristen und Herausgeber der Islamischen Zeitung, als Referenten. Dieses Mal lag der Fokus auf der Frage nach der Balance. Sind wir als Muslime, als muslimische Community, aufgrund all dieser oben genannten Geschehnisse und Beeinflussungen oder aufgrund von Fehlinterpretationen unsererseits, aus dem Gleichgewicht geraten? Ist unsere Situation ‘Out of Balance’? Sind wir etwa zu fundamentalistisch, zu esoterisch, zu politisch, zu unpolitisch, zu einseitig, zu beliebig, zu fremd oder zu heimisch?

Anbei eine Schilderung des Seminarinhaltes, in der die zum Teil provokanten Fragestellungen der „Out of Balance“-These Riegers zusammengefasst werden.

Out of Balance
Im Gleichgewicht zu sein bedeutet im Allgemeinen, ausgeglichen und balanciert zu sein, in die richtige Richtung zu gehen, gut voranzukommen. Hingegen, nicht in der Balance zu stehen, führt zu vielen Widerständen und begünstigt in der einen oder anderen Weise extreme Haltungen. Was heißt Balance für uns Muslime? Drei Geschichten als Einstieg in die „Out of Balance“-These.

1. Islam (Fiqh), Iman (Aqida) und Ihsan (Tasawwuf)
Über die Definition vom Islam selbst erhält man eine Einsicht, was Balance zu bedeuten hat.: Der Gefährte des Propheten, Allahs Segen und Frieden auf ihm, Umar, berichtete: „Eines Tages, während wir bei Gottes Gesandtem, Segen und Frieden Gottes auf ihm, saßen, erschien ein Mann vor uns, mit sehr weißen Gewändern und sehr schwarzem Haar. An ihm war keine Spur der Reise zu sehen, und von uns kannte ihn keiner. Schließlich setzte er sich zum Propheten, Segen und Frieden Gottes auf ihm, lehnte seine Knie gegen dessen Knie, legte seine Handflächen auf dessen Oberschenkel und sagte: „O Muhammad, unterrichte mich über den Islam.“ Da sagte Gottes Gesandter, Segen und Frieden Gottes auf ihm: „Islam ist, dass du bezeugst, dass es keine Gottheit gibt außer Gott, und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist, dass du das Gebet verrichtest, die Armenabgabe (Zakat) gibst, im Ramadan fastest und zum Hause pilgerst, wenn es dir möglich ist.“ Er sagte: „Du hast recht gesprochen“, und wir waren erstaunt, dass er (der Mann) ihn fragte, und sagte, er spräche recht. Er sagte: „Erzähle mir vom Iman.“ Der Prophet, Segen und Frieden Gottes auf ihm, sagte: „Du sollst an Gott glauben, an Seine Engel, Seine Bücher, Seine Propheten, und an den Letzten Tag, und an die Göttliche Vorsehung (Qadr), sei sie nun gut oder schlecht.“ Er sagte: „Du hast recht gesprochen. Erzähle mir von Ihsan.“ Der Prophet, Segen und Frieden Gottes auf ihm, sagte: „Es ist solch ein Zustand, als ob du Gott sähest und wenn du Ihn auch nicht siehst, so sieht Er doch dich.“

Dieses Hadith definiert den Islam als eine Dreiheit aus Islam (Fiqh; Recht, Gebote, Verbote), Iman (Aqida; Klassische Theologie, Glaubensgrundsätze) und Ihsan (Tasawwuf; Mittel und Techniken der Annäherung an Allah). Was passiert, wenn eine dieser drei Wissenschaften nicht berücksichtigt wird? Was, wenn diese Trinität gebrochen wird?

Stellen wir uns beispielsweise einen Menschen vor, der nur Wert legt auf…
– Islam ohne Iman und Ihsan: Dies trifft auf einen Hardliner zu, welcher sich nur auf das Äußere der Religion fokussiert, ein auf Gesetze ausgelegter Fundamentalist, der den Islam nur in Bezug auf Gebote und Verbote versteht, ohne die Berücksichtigung des Herzens. => begünstigt das Extreme
– Iman ohne Islam und Ihsan: Dies trifft auf einen Islamwissenschaftler zu, welcher nur die Theologie berücksichtigt, nur die Lehre erforscht und verstehen möchte, warum man glaubt; jemand, der in seinem Wissenschaftsturm festsitzt. => wiederum ein anderes Extrem
– Ihsan ohne Islam und Iman: Dies trifft auf einen Esoteriker zu, welcher all dem Komplizierten der Gebote und Verbote ausweicht und nur auf das reine Herz schaut, welcher sein Dhikr (Erinnerung an Allah) macht und unheimlich spirituell ist, aber keinen Grund zum Beten sieht, da er ja schon mit dem Herzen so nahe bei Allah sei. => fällt in das andere Extrem

Unser Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, erklärt uns somit die Balance als eine Dreidimensionalität, bestehend aus Islam, Iman und Ihsan. Vernachlässigt man eine dieser Dimensionen, so gerät man ganz leicht aus der Balance.

2. Politisierung des Islam – Moschee und Markt
Die folgende fundamentale Geschichte aus der Sira (dem Leben) unseres Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, gibt Hinweise auf die Balance: Nachdem der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, die Moschee etabliert hatte, sah er die Notwendigkeit für einen Markt für Muslime. Der bestehende Markt in Medina aber erlaubte Riba (Zins) und außerdem wurde auch Wein verkauft. Da ging der Prophet an einen Ort in der Nähe des Marktes und errichtete ein Zelt, markierte einen Ort, um den sich die Muslime künftig versammeln sollten, um zu kaufen und zu verkaufen. Seine Gegner und Feinde wurden wütend darüber, weshalb deren Anführer kam und das Zelt zerstörte. Der Prophet antwortete, indem er ausrief: „Ich werde sicher einen Markt etablieren, der sie sogar noch wütender machen wird. Ich werde ihn an einen anderen Platz verlegen.“ Er ging auf eine offene Fläche, kaufte das Land vom Eigentümer, sprang mit beiden Füßen darauf und rief: „Das ist euer Markt! Verweigert niemandem den Zugang darauf und erhebt dafür keinerlei Steuern!“

Die Geschichte zeigt auf, dass Medien, welche den Islam vor allem als eine Symbiose zwischen Moschee und Staat/Politik darstellen, eine verkürzte Sichtweise aufweisen. Wenn man sich mit dem Islam und den Rechtsbüchern auseinandersetzt, stellt man schnell fest, dass in diesen Büchern ein viel größerer Teil den allerlei ökonomischen Fragen gewidmet ist, statt den politischen. Diese Aktion unseres Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, sollte zeigen, dass Islam und Ökonomie sehr viel stärker zusammenhängen, als die Elemente Islam und Politik. Sind wir aus der Balance geraten, weil Islam unheimlich stark politisiert ist, also insbesondere mit politischen Dingen in Verknüpfung gebracht wird?

Die These ist nicht, dass der Islam komplett unpolitisch sei (zum Beispiel ist die Zakat ein urpolitischer Akt), aber die komplette Politisierung könnte ein Grund dafür sein, dass der Islam leicht aus der Balance gekommen ist. Wenn wir nun wieder ins Gleichgewicht kommen wollen, müssen wir uns wieder daran erinnern, dass Islam sehr viel mit ökonomischen Fragen zu tun hat. In der heutigen Zeit ist unser Leben durch einen Haufen solcher Fragen bestimmt. Deshalb gibt es im Qur’an und in den Rechtsbüchern viele, ganz klare, richtungsweisende Vorgaben, an die wir uns halten sollten. Wenn wir solche Geschichten und ihre Bedeutungen vergessen, müssen wir fürchten, aus der Balance zu geraten.

3. Rilke und die Depression
Das Gedicht „Der Panther“ des deutschen Dichters Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) gibt einen sehr wichtigen Hinweis darauf, was mit Menschen passiert, die aus der Balance geraten. (Der Panther (Im Jardin des Plantes, Paris):

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, dass er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, 
der sich im allerkleinsten Kreise dreht, 
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, 
in der betäubt ein grosser Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille 
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, 
geht durch der Glieder angespannte Stille – 
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke eröffnet mit diesem Gedicht die Dimension des Unsichtbaren – die psychologischen Dimension. Es zählt zur ersten Dichtung, welche die Depression erklärt; den Zustand, wenn das innere Seelenleben aus dem Gleichgewicht gerät. Rilke beschreibt am Beispiel des Panthers das Befinden der großen Tiere im Zoo.

In der ersten Strophe erfährt man vom ermüdeten Blick des Tieres, das, umringt von Stäben, nichts mehr wahrnehmen kann, sodass seine Welt nur noch aus dem Käfig besteht.

Die zweite Strophe beschreibt, wie die Gefangenschaft den kraftvollen und geschmeidigen Gang des Tieres beeinflusst, sodass es mit betäubter Willenskraft nur noch im Kreis geht.

Die dritte Strophe berichtet von der Wahrnehmung des Tieres, nämlich, dass es von Zeit zu Zeit zwar etwas wahrnimmt, diese Bilder jedoch weder eine Wirkung erzielen noch eine Reaktion hervorrufen (Interpretation: lyrik.antikoerperchen.de).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Stäbe die Freiheit des Tieres reduzieren, sie reduzieren seine Triebe (wie etwa spontan zu sein, zu jagen usw.), sodass es nur noch fokussiert ist auf das, was ihm innerhalb der Stäbe noch möglich ist (im Kreis zu gehen, hin- und herzulaufen).

Was hat das Ganze für eine Bedeutung für uns Muslime? Wenn wir die Situation der Muslime anschauen, ist diese sehr eingeschränkt. Nehmen wir die Moscheen als Beispiel: Im Gegensatz zu früher, als sie aus großen Gebäuden mit vielen sozialen Einrichtungen und Dienstleistungen bestanden, sind sie heute nur noch kleine Räume – draußen Parkplatz, innen Gebetsraum, ohne Kindergarten, ohne Marktplatz, ohne Madrassa.

Die These ist, dass wir dem, was uns noch übrigbleibt, dem, was wir noch tun können, eine große Wichtigkeit zuschreiben. Wir reduzieren somit unsere religiöse Energie – naturgemäß und notgedrungen – nicht nur, weil es unsere Absicht ist, sondern auch, weil es anders einfach nicht möglich ist. Ein provokantes Beispiel könnte das Kopftuch der Frau oder der Bart des Mannes sein. Sind diese deshalb so wichtig und erhalten eine gesteigerte Bedeutung und Funktion, weil unser restliches Leben wenig mit dem Islam zu tun hat?

Weil unser restliches Leben sich kaum vom Leben der Nichtmuslime unterscheidet? Wir schlagen uns herum mit Arbeit, Studium, Ärger mit der Familie und sonstigen Problemen. Das Einzige, was wir noch selbst in der Hand haben, was wir tun können, um den Islam auszuleben, ist unser eigener Körper. Ist unser Leben im Grunde wie das des Panthers hinter den Gitterstäben, reduziert auf bestimmte Verhaltensweisen, die für uns dann eine unglaubliche Bedeutung gewinnen?

Sind wir aus der Balance geraten, weil uns dieses moderne Sozialleben dazu zwingt, bestimmte religiöse Handlungen – die natürlich ihre Berechtigung haben – so stark auszuleben, weil das restliche Leben so komplex und entfernt vom Islam ist, dass wir im Grunde genommen nur noch das tun können? Sind auch wir „so müd geworden“? Eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit Islam, Iman und Ihsan würde jedenfalls verloren geglaubte Kräfte wieder zum Leben erwecken und die Welt „hinter tausend Stäben“ wieder greifbarer machen.

Diskussion
Im Anschluss an das Seminar folgte eine Diskussions- und Fragerunde darüber, was die Teilnehmer von der „Out of Balance“-These hielten. Wie verändert uns die stattfindende Politisierung, Ökonomisierung und Technisierung? Leben wir Islam, Iman und Ihsan im gleichen Ausmaß? Sind wir aus der Balance geraten? Wie gehen wir damit um?
Was meint Ihr dazu?

* Bericht von Yasmin Catan (am 4.11. auf der IZ-Webseite erschienen).