Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Bildungsferne

„Was klagst du über Feinde? Sollten solche je werden Freunde, Denen das Wesen, wie du bist, Im stillen ein ewiger Vorwurf ist?“ Goethe, West-östlicher Diwan, Hikmet Nameh (Buch der Sprüche)

Am Id-Fest werden wir Muslime nochmals nachhaltig an den Segen erinnert, in Gemeinschaft zu leben. Besonders glücklich kann man sich dabei schätzen, wenn man immer wieder mit Gelehrten zusammen sitzen kann, die die geliebte Lebenspraxis mit tiefem Wissen weiter aufhellen und auch zum Beispiel an die vergessenen Elemente der Muamalat erinnern können.

Am Wochenende zuvor war ich nach Istanbul eingeladen und nahm an einer Veranstaltung mit Tayyib Erdogan über „1400 Jahre“ Lehre des heiligen Korans teil. Tenor aller Beiträge war, den Islam und die Offenbarung als Meer des Wissens zu verstehen. Eine unversiegelte Quelle, die in tausenden und tausenden Lehrwerken großer Meister einen kleinen Ausdruck findet. Ohne diese stufenhafte Ausbildung des Verstandes und des Herzens, ohne das feine Verhalten, bleibt das durch Geburt erworbene Merkmal „Muslim“ natürlich ohne nachhaltigere Bedeutung.

Das Versiegen der osmanischen Sprache und damit das Ende der lebendigen Überlieferung der alten Bücher hat in der Türkei eine „Bildungsferne“ zu verantworten, die noch bis heute nachwirkt. Der aggressive Säkularisierungskurs des Landes bedingte zunächst den Siegeszug eines groben Nationalismus. Islam wurde dann zur politischen Theologie und die Ökonomie – aus islamischer Sicht – zum rechtsfreien Raum. Muslime wurden Zielfeld des Modernismus und der Ideologien gleichermaßen.

Die Massen der Immigranten kamen nicht nach Deutschland wegen dem Islam. Viele von ihnen waren „bildungsfern“ nach westlichen, aber auch islamischen Maßstäben. Die Mehrheit der Einwanderer waren natürlich Muslime, die aber den Islam weder kannten, nur rudimentär praktizierten oder gar nicht akzeptierten. Nur eine Minderheit etablierte mit großem Einsatz Moscheen, die als Kulturvereine, fern von der Heimat, doch im Grunde kulturlos blieben. Islam ist keine Kultur, aber, wenn er authentisch gelebt wird, bringt er sozusagen als Zeichen seiner Positivität ortsgebundene Kultur hervor.

Auch unsere Angebote, an die europäische Wissensgesellschaft anzuknüpfen, blieben mit wenigen Ausnahmen ungehört. So erinnere ich mich noch schmunzelnd an einen wunderbaren Tag in Weimar. Wir hatten eine Busladung türkischer Muslime für einen Besuch des Goethe- und Schillerhauses nach Weimar eingeladen und bewirteten zunächst die Gäste in meiner Privatwohnung. Tragischerweise war an diesem Tag auch mein Vermieter zugegen, ein Adliger und ferner Verwandter Schillers, der die Busladung türkischer Freunde in seinem Hof mit Verwunderung zur Kenntnis nahm.

Gestern Abend hörte ich mit gemischten Gefühlen einer Live-Übertragung der Buchvorstellung Sarrazins in Potsdam zu. Der Preis für dieses „Erlebnis“ war zunächst die Kenntnisnahme einiger „bildungsferner“ Themen auf der BILD-Online Seite, ohne die der Zugang zum Live-Stream ja leider nicht möglich war. In der wunderbaren Stadt Friedrich des Großen, nach dem ja jeder nach seiner Facon glücklich werden soll, legte dann der ehemalige Bundesbankvorstand mächtig los.

Immerhin, dies sei zugestanden, der Freizeitgenforscher und Medienstar Sarrazin erörtere freimütig, dass immerhin 200 Seiten seines Buches über bildungsferne deutsche Schichten handle und nur einige Seiten über das Immigrantenphänomen. Nach wie vor steht Sarrazin allerdings zu der ignoranten These, der Islam, nicht etwa die immigrierten Muslime und ihre soziale Lage selbst, seien verantwortlich für die sozialen Integrationsprobleme in den Städten Deutschlands. Seine aberwitzige Aufforderung, der Staat solle mit staatlichen Programmen die Gene „ökonomisch verwertbarer Schichten“ stärken, kam leider kaum zur Sprache.

Natürlich verschwieg Sarrazin bei seinen selbstverliebt wirkenden Äußerungen über die eigene Biographie, seine eigentliche politische Verantwortung als Berliner Finanzsenator. Hier ist er für die ökonomische Ausdünnung aller sozialen Programme in der Stadt mit verantwortlich. Schlimmer noch, im neuen Spiegel findet sich auch ein bezeichnender Hinweis über die dubiose Rolle Sarrazins bei der Kontrolle milliardenteurer „Wettgeschäfte“ deutscher Kommunen.

Hier schließt sich der Kreis. Der eigentliche Skandal der Bildung deutscher Eliten ist doch ihre Blindheit und Ahnungslosigkeit gegenüber ökonomischen Themen. Hier hat „Bildungsferne“ und mangelnde Aufklärung ein ganzes Land an den Rand des Abgrundes gebracht. Eine Hundertschaft verwahrloster Türken, so schlimm das sein mag, wäre dazu bestimmt nicht in der Lage gewesen!