Es gibt wohl kaum einen Juristen, der umstrittener wäre als der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt. Obwohl in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher frei gesprochen gilt er als eine Art «Kronjurist» des Dritten Reiches. Obwohl Schmitt zunächst in den 1930er Jahren vor der legalen Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gewarnt hatte, nahm er nach dem Sieg der Rechten schnell einen Posten als Staatsrat unter dem preußischen Ministerpräsident Herrmann Göring an. Seine zugleich publizierten Texte über das Recht des «Volkes und des Führers» sind bis heute berüchtigt.
Allerdings war der intellektuell brillante Staatsrechtler den Größen der deutschen Diktatur auf Dauer eher suspekt. Hitler traf er nie persönlich und seine geistige Überlegenheit über die Nazi-Schergen, auf die er sich auch in den Nürnberger Prozessen berief, blieb den Ideologen nicht verborgen. Seine Bücher und Publikationen über den «Leviathan» waren bei genauerem Lesen eher zweideutig. Das genügte im Dritten Reich schon, um in Ungnade zu fallen. Einige kritische Artikel der gleichgeschalteten Parteiorgane gefährdeten bald seine physische Existenz. Ein weiterer Aufstieg des wortgewaltigen Juristen im Staatsapparat wurde verhindert.
Die Gründe für die Ausgrenzung sind naheliegend: Das Recht musste nach der dumpfen Logik der Nazis im neuen Reich der Herrenrasse natürlich eine untergeordnete Größe bleiben. Wie in jeder Ideologie wurde das eigenständige Rechtsdenken als potentielle Beschränkung der eigenen Macht erfahren. Als Katholik zeigte sich Carl Schmitt zudem wenig begeistert von der zutiefst areligiösen Seite, die die Idee eines gottähnlichen Ariertums für jeden Gläubigen darstellen musste.
Man könnte ihn schnell abhaken, bliebe da nicht seine merkwürdige Aktualität. Der Verfasser schrieb ein Dutzend, bis heute berühmt gebliebener Bücher wie zum Beispiel seine 1927 veröffentlichte «Verfassungslehre». Über alle geistigen Grenzen hinweg werden seine Bücher heute zitiert. Die Sekundärliteratur über das ungeliebte deutsche Genie steigt jedes Jahr weiter an. Schmitt selbst sah schon zu Lebzeiten sein Werke als Logbücher an, die – auf ihre Weise unbestechlich – den Ist-Zustand von Staaten und Verfassungen kommentieren wollten. Es stimmt: Auch in den Konflikten unserer Tage und in Zeiten unserer Verfassungskrise – in Gestalt der globalen Machtverschiebung vom Politischen zum Ökonomischen – lassen sich seine zeitlose Definitionen mit einigem Gewinn anwenden.
Gerade im andauernden Chaos des Nahen Ostens können seine Überlegungen etwas Ordnung in unser Denken bringen. «Alle politischen und staatsrechtlichen Begriffe sind säkularisierte theologische Begriffe», dieser Leitgedanke findet sich in seiner «Politischen Theologie» und eröffnet gleichzeitig die eigentliche Grundlage für ein tieferes Verständnis des arabischen Dilemmas unserer Tage. Der Sieger, so dozierte Schmitt allgemeingültig, entscheidet schließlich nicht nur über die Deutung der Geschichte, sondern auch über die Terminologie.
Im arabischen Raum ist diese Logik durchaus nachvollziehbar. Nach der Kolonialzeit ist die bis dahin eigenständige, islamisch-arabische Terminologie de facto beinahe vollständig untergegangen. Die Folgen wirken bis heute nach. Die neuen arabischen Staaten – in ihren linearen und willkürlichen Grenzziehungen eher als Kunstprodukte entstanden – dachten nun plötzlich in neuen politischen und verfassungsrechtlichen Kategorien, die das christliche Abendland hervorgebracht hatte. Meta-Fiktionen wie «das Volk», «der Staat» oder auch «die Bank» wurden nun in die arabische Gedankenwelt eingeführt.
Insbesondere der Staat – als die geschlossene Einheit von Volk und Territorium – war für die komplizierte geopolitische Situation der Araber eine völlig neue Konzeption. Das osmanische Reich hatte zuletzt noch den Anspruch, den ganzen arabischen Raum zu ordnen – allerdings mit dem Preis, große lokale Freiheiten zulassen zu müssen. Aus den Trümmern dieses komplexen Gebildes entstanden unter der Regie der Kolonialmächte zahlreiche neue Staaten. Auf historische Besonderheiten wurde dabei nur begrenzt Rücksicht genommen. Die Spannungen waren derart vorprogrammiert. Die Geschichte benachbarter arabischer Stämme verlief ja in engen Verknüpfungen und ihre Herrschaftsbereiche kannten zumeist auch keine starren Grenzverläufe. Die neuen modernen Staaten nahmen darauf wenig Rücksicht. Es ist tatsächlich schwierig zu beantworten, was ein «Syrer», «Palästinenser» oder «Libanese» eigentlich ist.
Nach der Definition des Philosophen Ibn Al-‘Arabi machte für die Araber traditionell die Identität eines Menschen seine Sprache – nicht etwa seine Rasse oder Herkunft – aus. Moderne arabische Staaten haben zwar heute wie alle ein Fußball-Nationalteam und eine wachsende Staatsschuld, aber die Idee des Nationalismus selbst, die in Damaskus oder Kairo gepredigt wurde, blieb doch eher eine Kopfgeburt.
So bestimmt das schwierige «Nation building» die jüngere Geschichte der Araber. Zudem hintertrieb der moderne Nationalismus – den Gesetzen, des seiner Natur nach übernationalen Islam eigentlich zuwiderlaufend und in seiner fragwürdigen Tendenz auch gleichzeitig ein Rassismus – die jahrhundertelange Praxis der arabischen Autoritäten. Diese bestand darin, das gegenseitige Leben- und Lebenlassen von Stämmen, Volks- und Glaubensgruppen aktiv zu fördern. Ein Blick auf das Schicksal der Kurden in den neuen arabischen Staaten genügt, um den Bruch mit diesen Traditionen zu verstehen. Auch die religiöse Toleranz litt zunehmend in dem Korsett der säkular denkenden Staaten und ihrer Neigung zu diktatorischem Ausnahmerecht. Minderheiten wurden entweder verfolgt, oder sie regierten selbst mit diktatorischen Mitteln über die Mehrheit.
Ein «Interventionsverbot für raumfremde Mächte», das Carl Schmitt einst als ordnungspolitische Maxime ausdachte, blieb für die Realität der arabischen Staaten bis heute jedenfalls nichts anderes als eine Illusion. Im Gegenteil: Die Liste der Interventionen dritter Mächte in arabische Angelegenheiten ist endlos. Saudi-Arabien konnte so wenig ohne die Amerikaner leben wie Syrien ohne Russland, die Armeen Lybiens oder Ägyptens wären ohne die aktive Unterstützung des Westens zahnlose Tiger geblieben. Schon 1936 erklärten die Briten in einem Bündnisvertrag Ägypten für «unabhängig», allerdings mit Vorbehalten und Ausnahmen, wie die britische Kontrolle über den Suezkanal.
Die Rechtfertigungen für die verschiedenen Formen der Einmischungen waren von jeher in allerlei Worthülsen gepackt. «Universalistische, weltumfassende Allgemeinbegriffe sind im Völkerrecht die typischen Waffen des Interventionismus», hatte Schmitt 1939 noch unter anderen Vorzeichen gepoltert. Heute dienen der Kampf gegen den Terror oder der Einsatz für die humanitären Ideale als entsprechende Eingriffsgrundlagen.
In Wirklichkeit ging es immer auch um Öl, oder aber direkt oder indirekt um den Schutz des Staates Israel, der als «Ort ohne Ordnung» im permanenten Ausnahmezustand seinen zahlreichen regionalen Feinden trotzen muss. Terrorismus und Partisanentum, die die arabischen Staaten immer wieder im Innern erschüttern, sind dabei ebenso wenig ohne das andauernde Einwirken raumfremder Mächte denkbar. Ganze Bücher füllen Verschwörungstheorien, welche Terrorgruppen durch welchen Drittstaat geschaffen oder gefördert wurden.
Seine Definition «souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» erklärt nach wie vor die offensichtlich eingeschränkte Souveränität der arabischen Massen. In Ägypten wachte die Armee bis vor Kurzem uneingeschränkt als «Hüter der Verfassung» über das Land. So wird die Legitimität von Wahlergebnissen auch von den gewünschten Ergebnissen abhängig gemacht. Es bleibt ein Dilemma, denn auch wirklich freie Wahlen wären ihrerseits tückisch. Das den Deutschen schmerzlich bewusste und von Carl Schmitt beschriebene Problem der «legalen Machtergreifung» spiegelt sich in allen so genannten demokratischen Prozessen des Nahen Ostens. So argwöhnt der Westen immer wieder, wohl nicht ganz zu Unrecht, dass religiöse Bruderschaften im arabischen Raum Hitlers Technik der Machtergreifung als Vorbild nehmen könnten.
Das flexible Demokratieverständnis des Westens bleibt für viele Araber ein Rätsel. Mehr noch, es wird mit Misstrauen begegnet. Keiner der zahlreichen Despoten des arabischen Raums wäre je ohne Hilfe von außen über einen längeren Zeitraum überlebensfähig geblieben. Es ging dem Westen zu selten um die Ideale der Demokratie und zu offensichtlich um die Beherrschung der Eigendynamik einer Globalisierung, die ohne billige Energie und dem Jahrhundertdeal des 21. Jahrhunderts (sie geben Öl, wir geben Papiergeld) ins Stocken geraten wäre.
Der arabische Raum – und damit seine Ressourcen – sind bis heute de facto in das globale Wirtschaftssystem integriert, ganz im Sinne des Modells von Carl Schmitt, mit der er das Wesen der Moderne zu fassen suchte. Sie sei, so der Rechtsphilosoph in seiner 1959 verfassten gleichnamigen Schrift, eine «Tyrannei der Werte»; ein System also, in dem die ökonomischen Werte de facto immer höher als die geistigen, religiösen und spirituellen Werte gesetzt würden.
In dieser unübersichtlichen Gemengenlage fällt es bis heute schwer, die wohl bekannteste Definition des Juristen anzuwenden: die Unterscheidung von Freund und Feind. Diese Unterscheidung soll – so Schmitt in seiner Abhandlung «der Begriff des Politischen» – das Politische wesentlich ausmachen. In den arabischen Konflikten ist es aber schon beinahe traditionell schwer, Freund und Feind zu trennen, zumal beide Seiten Meister der Verschleierung ihrer Absichten sind und zumeist auch keinen reinen Geisteslehren verfolgen. Das Überschreiten der Grenzen des Rechts zeichnet dabei alle Konfliktparteien aus. Alle Parteiungen denken weder rein islamisch noch rein säkular und sind in ihren Absichten oft genug von persönlichen und diffusen Interessen geleitet. Politisch gesehen verbieten sich in dieser Lage eigentlich spezifische Vorlieben.
Den verschiedenen Parteisoldaten in der Region täte ein intensives Studium Schmittscher Begriffe durchaus gut. Bisher kopieren alle revolutionären Gruppen nur genau die Techniken der Macht, die der Westen ihnen angeboten hat. Die Technik ist für sie dabei nur ein neutrales Hilfsmittel. Schmitt beklagte dagegen die Tendenz moderner, technologiegeprägter Staaten, politische und religiöse Inhalte auf Dauer zu neutralisieren. Ähnlich wie Heidegger verstand Schmitt so die Unmöglichkeit des Vorhabens, die diversen Formen der Technik für politische oder religiöse Ziele im Sinne einer einfachen Machtsteigerung sozusagen «neutral» und ohne Gegenwirkung auf die eigenen Ideen einzusetzen. Die absurde Idee einer «islamischen» Atombombe – die angeblich zur Machtsteigerung dient und sogar religiöse Ziele verfolgen soll – gehört zweifellos hierher und dürfte den Höhepunkt dieser Technikgläubigkeit darstellen. In Wirklichkeit gehört die Bombe und ihre Protagonisten natürlich in die Welt des Nihilismus.
Es bleibt die Frage nach dem künftigen Nomos im Nahen Osten zu stellen. Hierzu muss man den aktuellen Realitäten ins Auge schauen: Fakt ist, dass die diversen Nationalismen den Araber bis heute keinen echten Frieden, geschweige denn eine gerechte Ordnung gebracht hätten. Die verschiedenen Regierungen sind nach jahrzehntelangen Konflikte zutiefst zerstritten. Sicher ist also nur, dass die Araber genug von Interventionen haben.
Wieder lohnt ein Blick auf das Nachkriegswerk des Staatsrechtlers, denn er beschäftigte sich mit der Frage postnationaler Ordnungen seit den 1950er Jahren. In «Nomos der Erde» sah Carl Schmitt im Zusammenspiel von «Nehmen, Teilen, Weiden» die zeitlose Grundlage einer echten Friedensordnung. Eine Überwindung der Kleinstaaterei wäre also eine Option für die alten Handelsmächte des arabischen Raumes. Ein grenzenloser Wirtschaftsraum mit einer eigenen Währung, der den Nationalismus und alte Grenzen überwinden könnte, wird bisher nur von den ölreichen Golfstaaten – allerdings nicht ganz zufällig unter Ausschluss der bevölkerungsreichsten arabischen Staaten – angedacht.
Natürlich bleibt die Frage welche Rolle der Islam im arabischen Raum spielen wird, eine der spannenden, die politische Realität begleitenden Fragen der Zukunft. Bisher erscheint der Islam in erster Linie im Kleid des «politischen» Islam. Trotz des Kanonendonners sollte man sich dabei nicht blenden lassen. Interessant ist, dass praktisch alle Staaten im arabischen Raum – und sicher auch alle religiösen Parteiungen, von der Muslimbruderschaft bis zur Hizbollah – durchaus kapitalistisch denken. Eine echte Alternative zum Kapitalismus, die einen anderen Nomos mitbegründen könnte, haben bisher weder religiöse Eiferer, noch «islamische Staaten» artikulieren können. Sie bleiben so ganz die Kopie ihrer westlichen Vorbilder.
Das verwundert ein wenig, dreht sich doch das islamische Recht zu großen Teilen um ökonomische Fragen. Die Idee der Freiheit der Märkte und des Handels war für die alten arabischen Herrschaftsräume konstituierend. Das koranisch Zinsverbot – in Teilen von westlichen Denkern in seiner Aktualität besser verstanden als von ihren islamischen Kollegen – wird von den politischen Kräften des «Fortschritts» und des «politischen» Islam als nicht mehr modern angesehen. Sie haben voll auf das «Banking» nach westlichem Vorbild gesetzt.
Trotz aller Konflikte gibt es auch eine paradox wirkende Einheit: Scheinbar diametral entgegengesetzte, religiös zerstrittene Staaten wie der Iran oder Saudi-Arabien sind nach ihren Verfassungen durchaus gleichartige, nämlich kapitalistisch verfasste Staaten und werden ohne größere Probleme in das globale Banken- und Währungssystem eingebunden. Sie sind so in erster Linie, was sie seit ihrem Anfang waren: Öllieferanten.