Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Das Denken, das «gefährlich» ist

Es ist eine Art Sprichwort: Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Aber seit dem Wahnsinn des Nationalsozialismus will dieses alte Bonmot nicht mehr so flott von den Lippen gehen. Wie in keinem ­anderen europäischen Staat werden hierzulande nicht nur die Denker, sondern das Denken selbst als etwas durchaus Gefähr­liches angesehen. Der anhaltende Einfluss der berühmten deutschen Philo­sophen und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts ist spätestens nach der Machtergreifung 1933, der anschließenden Diktatur, nach Weltkrieg und Holocaust verdächtig geworden, war doch nach dem Ende der Weimarer Republik gleich eine ganze Schar der deutschen Eliten frohgemut zu den Nazis übergelaufen. Es begann eine Jahrhundertdiskussion über die geistige Linie, die von Nietzsche über Heidegger konsequent zum Ende der Demokratie geführt haben soll.

Zweifellos sind es die drei großen Figuren Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger, die den Zwiespalt der jüngeren deutschen Geistesgeschichte bis heute verkörpern. Der Philosoph, der Jurist, der Dichter; allesamt Leuchttürme in ihren Fakultäten. Sie gerieten mit unterschiedlicher Intention – als Rektor, als Anwalt und als Soldat – in die Fänge des Regimes. Die Folgen wirken bis heute nach. Auf der einen Seite sind die berühmten Drei bis heute unbestritten geniale Köpfe, die man kaum aus dem Diskurs entfernen kann; auf der anderen Seite sind ihre Namen, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, bis heute mit dem Schrecken der Nazis verwoben. Die Diskussion über ihre moralische Integrität prägt noch immer die Aufarbeitung ihres Erbes und verhindert eine unbefangene Auseinandersetzung mit den Fragestellungen ihrer Werke.

Fakt ist: Die Debatte über die Verwicklung des deutschen Genius in das Unwesen rassistischer Ideologie wird zu Recht von Freund und Feind mit größter Leidenschaft und Erbitterung geführt. Die scharfen Kritiker sind besorgt und verärgert, dass die Bücher der drei Gelehrten immer noch Bestseller sind. Von Heidegger sind noch nicht einmal alle Schriften seines Nachlasses veröffentlicht. Allein die ­Sekun­därliteratur ist so massiv angewachsen, dass sie praktisch kaum mehr gesichtet werden kann. Wer die dramatischen Höhen und Tiefen von Denken, Urteilen und Dichten erleben will, der kommt an der Begegnung mit diesen markanten Geistesgrößen einfach nicht vorbei.

Allerdings: An deutschen Universitäten geht man noch immer nur mit großer Vorsicht und Distanz ans Werk der Meister. Vorlesungen über ihre zeitlosen Bücher, wie zum Beispiel Heideggers Sein und Zeit oder Schmitts Begriff des Politischen bis hin zum Jüngerschen Waldgänger sind eher selten. Das hat auch seinen Grund: Die Assoziation mit den unbestrittenen (und dennoch umstrittenen) Geistern ist für jeden Doktoranden nicht ungefährlich. Öffentlich geäußerte Bewunderung für das Werk kann sogar schnell zum Vorwurf des Antisemitismus führen. Wer ohne Sorge und Not seinen Martin Heidegger zitiert, wird also tunlichst der politischen Korrektheit seine Reverenz erweisen und sich von den, von Heideggers Gegnern unterstellten, dunklen Möglichkeiten seines Denkens ­abgrenzen. Im Ausland schüttelt da manch ein Verehrer über so viel Paranoia den Kopf. Wie auch immer: Heidegger, der das epochemachende Werk Sein und Zeit im Schwarzwalddorf Todtnauberg schrieb und damit die christlich geprägte Metaphysik in einem östlich anmutenden Einheitsdenken auflöste, gilt weltweit als einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Gefeiert und bewundert wird er dafür aber eher in Frankreich oder Japan. In Todtnauberg, wo er sich gerne in eine Hütte vom Freiburger Universitätsleben zurückzog, erinnert nur ein kleiner beschilderter Wanderweg an den einmaligen Welterfolg des kauzigen Philosophen.

Der Charaktertest, den die Nazis für die deutschen Eliten brachten und den ihre Gegner mit eindeutig «nicht bestanden» bewerten, mag im Angesicht des damaligen Terrors schwer und aus heutiger Sicht leicht gewesen sein. Zweifellos kann nur Ernst Jünger ein Bezug zum aktiven deutschen Widerstand eingeräumt werden. Er war, wie man heute weiß, sogar an Attentatsplanungen gegen Hitler beteiligt. Überlebt hat er dies nur, weil einige Nazis den Dichter schätzten.

Martin Heidegger dagegen war 1933 – ein knappes Jahr lang – der umstritten agierende Rektor der Freiburger Universität gewesen. Carl Schmitt seinerseits sehnte sich mehr nach den ganz großen Posten, bekam sie aber nicht und schrieb abstoßend anbiedernde Texte wie «Der Führer schützt das Recht». Ob sie alle drei auch innerlich «echte» Antisemiten oder eben nur Opportunisten und Mitläufer waren, bleibt bis heute umstritten. Das Nazi-Regime konnte schon bald nach der Machtergreifung mit dem Führungsanspruch ihres Denkens nur wenig anfangen.

Man könnte das Werk der drei einfach vergessen, wäre da nicht die merkwürdige Aktualität ihres Denkens, das sich nach dem Krieg zunehmend um die Frage der Technik, der gesellschaftlich-sittlichen Form («Nomos») und des Weltstaates drehte. Für eine konservative, gar nationale Revolution eigneten sie sich nur sehr begrenzt, waren sie doch angesichts des offenkundigen Unwesens der Ideologien und des Rassismus gebrannte Kinder. Die Tagespolitik und das Verlangen nach einfachen Lösungen wurde den Geistesgrößen ebenso fremd. Der alte – man könnte sagen klassische – Nationalismus, also das Eintreten für die Einheit von Rasse und Territorium, war für das vom Arierwahn geschundene Europa und selbst seine Eliten endlich hinfällig geworden.

Nach dem Krieg hatte Heidegger mit der Idee einer souveränen Spezies Mensch abgeschlossen, die angeblich die Geschicke nach Gutdünken «politisch» bestimmt. «Nur ein Gott kann uns retten», seufzte er vielmehr angesichts des Siegeszuges des globalen Materialismus im ­berühmten Spiegel-Interview. Nach Jahren des Schweigens hielt sich Martin Heidegger zum Ärger seiner Feinde mit Schuldbekenntnissen über die Vergangenheit zurück; predigte ­lieber, im Angesicht des globalen Fortschrittes der Technologie, die Notwendigkeit einer neuen Gelassenheit. Gegenüber der Demokratie und der Herrschaft des «Man», wie er den durch die Massen bestimmten Politikbetrieb nannte, blieb er zeitlebens skeptisch.

Martin Heidegger sah in der Technik die eigentliche philosophische Herausforderung seiner Zeit. Er beschrieb mit ausgeklügelten Sprachspielen das «Gestell», eine Art Synonym für die allgegenwärtigen Strukturen der Moderne und die für ihn unheimliche Integrationskraft der Technologie. Die Sorge um den Menschen, der als Sklave der Technik seinen Sinn verfehlt, trieb den späten Heidegger um.

Carl Schmitts Denken befasste sich auch in der Bundesrepublik mit Extremen wie dem Ausnahmezustand; einer Politik, die sich per Definition erst in der Krise zeigt. Nach dem Untergang des europäisch geprägten Völkerrechts machte sich der begnadete Jurist und Theoretiker in seinem Asyl – einem kleinen Einfamilienhaus im Sauerland – auf die Suche nach einem neuen Nomos. Schmitt beklagte den modernen Nihilismus, den er als die Trennung von Ordnung und Ortung definierte.

Eine Bestimmung, die angesichts der ortungslosen Ordnung des Internets und der ordnungslosen Ortung Guantànamo eine ganze Generation junger Denker inspirieren sollte. Spätestens in unseren Zeiten des «Krieges gegen den Terror» gaben sich zur allgemeinen Überraschung auch wieder neue Schmittianer zu erkennen, die das alte Prinzip des Ausnahmerechts flugs wieder gegen neuartige Feinde in Stellung bringen wollten.

Auch Ernst Jünger, der dritte im Bunde, dem von jeher eine eher elitäre Geisteshaltung vorgeworfen wurde, verabschiedete sich von alten Feindeslinien und ideologischen Grabenkämpfen. Er studierte lieber die Gestalt von Käfern und Schmetterlingen, schrieb an seinen genialen Tagebüchern und probierte auch mal am Feierabend die Wirkungen von LSD aus.

Jünger sah wenig Sinn darin, sich allzu sehr in die modernen Titanenkämpfe einzumischen, zumal der Weltstaat für ihn eine geschichtliche Notwendigkeit war, die sich aus der atomaren Bedrohung der Menschheit ergebe. Im Waldgänger beschrieb er sein Ideal vom freien Menschen, einem Anarchen, der Krawatte trägt, sich den Verhältnissen anpasst und doch niemals vollständig integriert ist. Ansonsten formulierte er 1989 in Bilbao, als er in hohem Alter und nicht zufällig im Ausland die Ehrendoktorwürde erhielt, seine politische Haltung so: «Die alten Werte sind nicht mehr gültig, die neuen noch nicht da».

Auf den kühlen Höhen ihres Denkens beobachteten sich diese drei zeitlebens nur aus der Ferne; Schmitt und Jünger, die einige Zeit befreundet gewesen waren, im zunehmenden Alter sogar eher argwöhnisch. Es fehlte in der jungen Bundesrepublik ganz und gar an einer gemeinsamen Mission. In der Öffentlichkeit hatten sie ­sowieso keine Chance zum großen Auftritt. Gemeinsam beklagten sie hin und wieder das geistige Asyl, das ihnen das offizielle Deutschland jahrzehntelang kühl zuwies.

Nur Ernst Jünger konnte als Berater von Helmut Kohl, es ging um das deutsch-französische Verhältnis, in das Zeitgeschehen hineinwirken, wenn auch nur am Rande. Kohl verzieh ihm, dass er seine Kanzlerschaft, das Spiel der Parteien überhaupt und auch die Ablösung Helmut Schmidts eher lakonisch und distanziert kommentiert hatte: «Ein Helmut kommt, ein Helmut geht.»

So bleibt das Verhältnis zum gewaltigen Erbe dieser Generation auch Jahrzehnte nach dem Untergang der NS-Diktatur eher kompliziert. Für ein tieferes Studium von tausenden Seiten deutscher Gelehrsamkeit bräuchte man gleich drei Leben. Wichtig bleibt aber die Vermittlung ihrer Fragen an unsere und die folgenden Generationen. Wir müssen beantworten, was für uns in der technologisch geprägten Welt Freiheit und Moral eigentlich noch darstellen. Legt man an uns ähnliche strenge Maßstäbe an wie an diese drei, werden wir eines Tages bezeugen müssen, was wir gegen die Katastrophen unserer Zeit in Stellung gebracht haben.

Die Machenschaften der Finanztechnologie gehen zwar nicht mit industrieller Vernichtung, aber dennoch mit ­blutigen Kollateralschäden einher. Wird unsere Generation angesichts dieser Schrecken nur sagen können, dass wir für die Vermeidung von Opfern keine politischen Mittel zur Verfügung gehabt hätten? Wer Martin Heidegger, Ernst ­Jünger und Carl Schmitt moralisch aburteilt, muss mit ­ähnlicher Konsequenz auch über seine eigenen Maßstäbe nachdenken.

Der Beitrag erscheint in der Ausgabe 7/2012 des COMPACT-Magazins.