Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Die andere Seite

Für Europa ist weniger die bedauerliche Gewalt bei den Protesten um die Karikaturen interessant, als eine andere Seite der Muslime, sie lieben ihren Propheten. Nicht mehr und nicht weniger. Diese menschlich impulsive Seite des Islam mag irrational wirken, ist genau genommen, aber ein durchaus sympathisches Korrektiv, einer oft in kalten Systemen denkenden Zeit. Der Kampf der Kulturen macht nach wie vor keinen Sinn, denn Millionen der hier in Europa geborenen Muslime sind Europäer. Zweifelt man dies an, fällt man zurück in die unguten Zeiten des europäischen Rassismus. „Ist Ihr Opa auch in Deutschland geboren?“ Diese Fragen kann außer dem rechten Mob niemand wieder hören wollen.

Die türkischen Organisationen im Lande, bei allem Verständnis für Ihr Gefühl, zurückgesetzt zu werden, täten allerdings gut daran, zumindest in Europa selbst ein wenig mehr europäisch als türkisch zu denken. Es ist legitim, am Sinn des hilflosen Gesinnungstestes der Baden-Württemberger zu zweifeln. Nur, nebenbei und der Fairness halber erwähnt, immerhin kann man doch prinzipiell Deutscher werden. Die Gegenfrage ist also auch legitim: Kann ich bei ATIB, Milli Görös oder DITIB auch so einfach als Deutscher mitwirken, oder zumindest hilfsweise anerkannter „Türke“ werden?

Die Frage an uns Muslime bleibt. Was hat man der ganzen Gesellschaft, egal ob man Immigrationshintergrund hat oder nicht, anzubieten? Solange Organisationen, die de facto aus nur einer Volksgruppe bestehen existieren, ist man eben hier sichtbar nicht angekommen, hat offensichtlich auch Fehler gemacht und wird wohl weiter als fremde Ausländerorganisationen wahrgenommen. Die Kluft zwischen Muslimen und Deutschen wird man mit einer national geprägten Kulturpolitik nicht wirklich überbücken können. Nur ohne eine solche Kluft können die Organisationen und ihre Gelehrten auch islamisch glaubwürdig verdeutlichen, was in ihrem Gepäck Kultur und was Islam ist.

Der ökonomische Druck in Deutschland nimmt täglich zu. Damit auch die Gefahren für das Gemeinwesen. Während sich immer mehr Muslime den demokratischen Parteien zuwenden, wenden sich Millionen Ostdeutsche genau von diesen ab. Es enstehen auf der ganzen Welt neue reiche und immer ärmere Parallelgeselschaften. Genauso wenig, wie man dem Islam einer bestimmten Kultur zuordnen kann, so kann man dem Islam reich oder arm zuordnen. Im Islam leben die Reichsten und Ärmsten, Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer. Die Solidarität zu den Armen, man denke nur an den Zakat, ist im Islam allerdings zwingend angelegt. Die Grenzen der ökomomischen Möglichkeiten sind offenbart.

In Europa geht es zunehmend darum, gemeinsam mit politisch denkenden Europäern, dem drohenden autoritären Kapitalismus Schranken aufzuzeigen. Zu zeigen, dass die Bedrohung von Hundertschaften gewaltbereiter Islamisten in Europa das eine ist, es aber auch die andere Kraft des Kapitals gibt, die die Werte der Freiheit und Solidarität hier in Europa gefährden. Die selbe Aufklärung, die man uns Muslimen politisch wünscht, kann nicht die Augen verschließen, vor der Irrationalität unsere Ökonomie, die uns und unsere Institutionen auf Dauer bedrohen. Kurzum, der Kapitalismus darf nicht selbst eine Religion werden.

Im Wettbewerb der Ideen und gesellschaftlichen Konzepte haben wir Muslime noch kaum vorgetragen, was wir jenseits der alten Streitereien, neu beitragen könnten. Ist es mehr als Religionsunterricht und Kopftuch? Machen wir doch Vorschläge: Entpolitisierte Stiftungen, die die Schere zwischen reich und arm in unseren Ghettos abmildern, Märkte, die unsere Städte beleben, Moscheeanlagen, die mehr sind als nur sakrale Räume mit Wochenendbelegung. Stiften wir doch eine vom Islam inspirierte europäische Kultur. Uns verbindet die spirituelle Kraft eines Glaubens, der weiß, dass allein gegen etwas zu sein, noch nicht positiv genug ist.

Geopolitisch wandelt sich die Lage der Erde rasant. Die alten Feindbilder taugen nichts mehr. Es ist nicht „Amerika“ oder „Europa“ gegen den „Islam“. Es gibt mehr amerikanische Muslime als in vielen arabischen Staaten. Amerika wird nicht am Islam zerbrechen, wohl eher an der wundersamen Geldvermehrung, die die amerikanische Ökonomie stützt. Am Horizont taucht bereits eine viel größere Gefahr für den Islam und Europa auf. Ein entfesseltes China, ein Titan, der weder auf Religion noch auf europäische Werte Rücksicht nimmt. Die Muslime in China erleben bereits heute die bedrohliche Realität dieses Titanen, der seine subtile Geopolitik längst bis nach Kabul ausgeweitet hat. Europa ist dagegen ein Schlaraffenland.