Eine spannende Frage an Muslime ist immer wieder die nach den Grundlagen und Quellen des eigenen Islamverständnisses. Meinung ist das Eine, Wissen das Andere. In einer Zeit in der relativ viel über den Islam debattiert wird, sind Denkregeln und die nachvollziehbare Authentizität der eigenen Lehre besonders wichtig. Der Modernismus hat die Muslime zudem in eine destruktive Dialektik zwischen Extremismus und Esoterik geführt. Marokko besinnt sich nunmehr nach den Exzessen des Terrorismus wieder auf sein traditionelles Verständnis des Islam. Seit der politischen Trennung Marokkos vom [Khalifat der] Abbasiden im Jahre 172 nach der Hidschra, gewann das Land eine politische Einheit, die es ihm erlaubte, seine Einheit in den Einstellungen und in der Lehre zu bewahren.
Diese Einheit manifestierte sich in der Adaption Marokkos – während seiner gesamten und langen Geschichte – in der aritischen Lehre, im malikitischen Ritus, wie im Sufismus von Dschunaid. Dieser Dreiklang erlaubt eine auf Gemeinschaft bezogene intensive und korrekte Praxis, deren Erfahrung dennoch fern von Ideologie und Fanatismus ist. Ohne eine authentische islamische Lehre, verliert sich die islamische Gemeinschaft in der Willkür der veröffentlichten Meinungen und privater Extreme. Auf der Webseite des marokkanischen Auqaf-Ministeriums (www.islam-maroc.ma) findet sich folgende kurze Einführung:
1. Die ascharitische Lehre
„“Die ascharitische Lehre [benannt nach Imam Al-Aschari] ist eng mit der marokkanischen Geschichte verbunden. Diese Doktrin legt dem Gläubigen bekannte Prinzipien ratsam nahe: „“Glauben, ohne nach dem Wie zu fragen““ (bi la kaifa), die Bestätigung der Göttlichen Transzendenz, die Wirklichkeit der Göttlichen Eigenschaften, die von der Essenz verschieden sind, sowie die Bestimmung der direkten und absoluten Verantwortlichkeit von Allah in allen menschlichen Handlungen. Der Quran ist für die ascharitische Lehre das ewige Wort von Allah, ohne Anfang und ohne Ende: Das Wesen der Göttlichen Rede lässt sich nicht auf die Worte reduzieren, in der sie abgefasst ist. Die Hauptsorge von Al-Aschari war immer die andauernde Versöhnung der unterschiedlichen sunnitischen Schulen, wobei er trotz aller Unterschiede in den Methoden der Anwendung, den profunden Zusammenhang zwischen diesen betont hat.
2. Der malikitische Ritus
Seit 14 Jahrhunderten haben die Marokkaner die Lehre von Imam Malik zu ihrem offiziellen Ritus gemacht. Sie ist das Symbol ihrer kulturellen Einheit und ihrer Authentizität. Marokko hat die Schule von Malik angenommen, um sich vor den religiösen Spaltungen zu schützen, unter denen der Orient (Al-Maschriq) so häufig gelitten hat. Sie hebt sich durch die Prinzipien „“Al-Masalih Al-Mursala““ (allgemeiner Nutzen für die Gemeinschaft), „“ma dschara bihi al Amal inda Ahl Al-Madina““ (die Traditionen der Leute von Medina) und „“Al-Urf““ (Gewohnheiten) hervor. Die malikitische Schule wird von beinahe einem Viertel der Muslime in aller Welt fortgeführt. Damit wird sie, was die Anhängerzahl betrifft, als die zweitgrößte Schule betrachtet.
3. Der Sufismus von Dschunaid
Der Sufismus (Tasawwuf) ist die innere Lehre des Islam. Der Sufismus begann mit dem Propheten, der selbst ein spirituelles Vorbild war. Er zog sich selbst zurück, um sich Allah widmen zu können. Dies ist die kontinuierliche Suche nach der „“Haqiqa““ (Wahrheit). Der Sufismus von Dschunaid beruht auf den Lehren der Generation der vorher gegangenen Frommen (As-Salaf), die auf den Prinzipien und Werten des Islam bestanden. Die Praxis des Sufismus basiert auf Erkenntnis, auf der Reflexion, dem gemeinschaftlichen Gebet und dem Sama (wörtl. das Zuhören, sowohl von religiösen Liedern als auch von Vorträgen).
Diese drei Aspekte machen zweifellos die religiöse Praxis Marokkos aus. Sie reflektieren die entscheidende Wahl der Marokkaner, die ihnen folgten, und die von Generation an Generation weiter gegeben wurden. Die ascharitische Lehre, das Wissen Maliks und der Sufismus sind ein Teil der kulturellen und sozialen Identität der marokkanischen Gesellschaft.““
Im Grunde also nichts anderes als der Mittelweg, den die Muslime heute so dringlich suchen.