Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Die Dichter und der Islam

Kurzvortrag im Islamischen Zentrum Wolfsburg am Sonntag, anlässlich des einjährigen Bestehens der Moschee:

Meine verehrten Damen und Herren,

Natürlich muss ich beim Vorhaben, das Verhältnis der deutschen Dichter zum Islam in 20 Minuten vorzustellen, scheitern – das heißt, aber zumindest schon einmal, dass dieses Verhältnis zwischen den deutschen Dichtern und dem Islam grundsätzlich da ist – es ist nur viel zu komplex, zu vielschichtig und in wenigen Minuten natürlich nicht einfach zusammenzufassen.

Zweifellos, in der heutigen Zeit gewinnt das Gespräch zwischen Dichten, Denken, Glauben wieder eine tiefere Bedeutung. Es war und ist immer noch eine zentrale Frage. Im west-östlichen Divan schreibt schon Goethe 1814:

„Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.“

Es mag so kein Zufall sein, dass das Thema Religion heute wieder an Gewicht zunimmt. Gerade im Bereich der Integration scheint die Religionszugehörigkeit wieder eine der entscheidenden Fragen zu werden. In nüchternen Zahlen stellt sich die Situation heute in Deutschland wie folgt dar:

– 16 Millionen Muslime leben in Europa.

  3,4 Millionen Muslime davon leben in Deutschland.

– von diesen wollen 84% dauerhaft in Deutschland bleiben.

– über 600.000 Muslime besitzen bereits einen deutschen Pass.

– 77 klassische Moscheen und über 2000 Gebetsräume existieren bereits in Deutschland.

– 123 große Moscheen in Deutschland befinden sich im Stadium der Planung.

Es wäre naiv zu glauben, dass eine solch gewaltige Integrationsleistung völlig lautlos vonstattenginge. Es gibt aber auch Stimmen, die die mögliche Integration des Islam in unser Gemeinwesen generell in Abrede stellen. Der Geschichtsphilosoph Wehler eröffnete beispielsweise 2002 in der „taz“ unter dem Stichwort Das Türkenproblem eine wenig charmante, bis heute verbissen geführte Debatte:

„Das Beispiel zeigt, dass es eben nicht funktioniert. Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem. Diese muslimische Diaspora ist im Prinzip nicht integrierbar. Die Bundesrepublik ist seit ihrer Gründung mit heute zehn Prozent Zugewanderten bravourös fertig geworden. Aber irgendwann kommt eine Grenze, was man einer komplexen Gesellschaft zumuten kann“.

Ich darf diese typische Stellungnahme zunächst recht persönlich kontern. Das argumentative Problem von Herrn Wehler oder all derjenigen, die die Unvereinbarkeit Europas mit dem Islam behaupten, bin – wenn Sie mir dieses Beispiel erlauben – ich selbst und meine Kinder, die alle als Muslime geboren sind.

Kann mein in Weimar geborener Sohn Yusuf, ein deutscher Muslim, in dieses Europa wirklich nicht integriert werden? Nur weil er, genauso wie jeder andere Muslim betet, fastet, eines Tages die Zakat bezahlen oder die Reise nach Mekka unternehmen wird, insch‘Allah?

Wenn wir die Identität eines Menschen – genau wie Ibn ‘Arabi – über sein Sprachvermögen fassen, ist es natürlich auch mehr als skandalös, die hier lebenden jungen Muslime, die oft besser Deutsch als Arabisch oder Türkisch sprechen, nicht genauso wie meine Kinder als deutsche Muslime willkommen zu heißen.

Wenn wir Huntington „über den Kampf der Kulturen“ sprechen hören, so handelt es sich, soweit es um den Islam geht, möglicherweise sogar um ein – hoffentlich nicht – epochemachendes Missverständnis:

Die hier relevante Frage muss heißen: „Ist der Islam überhaupt eine Kultur?“

Meiner Überzeugung nach muss man dies ganz klar verneinen. Der Islam bringt Kulturen hervor, filtert und beeinflusst Kulturen, ist selbst aber keine. Man kann Amerikaner, Deutscher, Afrikaner, Asiate oder Eskimo sein, unterschiedlichsten Kulturkreisen angehören, aber eben doch auch ein Muslim sein.

Es gehört heute, sozusagen im Umkehrschluss, zum wichtigen Beitrag der europäischen Muslime, die kulturellen Besetzungen und Verfehlungen des islamischen Lebens in Europa aktiv herauszufiltern. Dies gilt besonders dann, wenn uns manchmal etwas vorschnell Kultur als Islam „verkauft“ wird.

Natürlich ist, um nur ein Beispiel zu nennen, das Tragen der „Burka“ für die deutsche, korrekt praktizierende Muslima kulturell, aber auch islamisch völlig unhaltbar. Ein Studium der jahrhundertelangen Hochphasen des Islam in Al-Andalus zeigt, dass die Kleiderordnung gerade bei den Frauen nicht nur flexibel gehandhabt wurde, sondern auch immer wieder wechselte. Wahrscheinlich gab es auch schon in Zeiten der Mauren wichtigeres.

Wenn wir uns hier heute in dieser schönen Moschee treffen, dann auch, um anzudeuten, welche geistigen Inspirationen zwischen Denkenden und Glaubenden möglich sind. Indem wir uns gegenseitig einladen, tun wir, nicht nur nebenbei, auch letztlich das Gegenteil von dem, was Terroristen oder Ideologen tun, die den Anderen fürchten, meiden und bekämpfen müssen, um die eigene Identität zu bewahren.

Heute werden der Islam und der Terror leider in einem Atemzug genannt. Der Nihilismus der Selbstmordattentäter hat uns dies eingebrockt. Bei allem Verständnis über die aktuellen Debatten seit dem 11. September, sollte man allerdings auch die Beobachtung des Denkers Peter Sloterdijk im Blick behalten:

„Der Terrorismus wird bei uns geradezu sakralisiert. Denken Sie an das Buch ‘Powers of Ten’: Da sieht man eine Reise durch den Kosmos – vom Größten bis zum Kleinsten – wobei man den immer gleichen Bildausschnitt beibehält, ihn aber jedesmal um eine Zehnerpotenz vergrößert darstellt. Erst sieht man Galaxienhaufen, dann die Milchstraße, die Erde, ein Land, eine Stadt, einen Garten, dann liegt da ein Paar auf der Wiese, schließlich fährt die Kamera in die mikroskopische Welt hinein und holt die Elementarteilchen an die Oberfläche. Da erlebt man plastisch die Macht der Vergrößerung. Etwas ganz Ähnliches geschieht heute mit dem Terror: Nadelstichgroße Effekte im Realen werden durch unsere Medien bis auf das Format von interstellaren Phänomenen vergrößert.“

Erlauben wir uns heute eine andere Perspektive, erlauben wir uns einmal, positiv über das Verhältnis Islam und Europa zu denken, natürlich ohne die natürlichen Probleme der Integration von Millionen unterschiedlichster Muslime zu verdrängen. Hoffen wir einfach gemeinsam, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Muslimen nicht nur als normal, sondern auch als ein traditionell inspirierender Brückenschlag noch mehr in Erinnerung gerufen wird.

Denken wir nämlich über den Islam in Europa nach, dann müssen wir sofort an die großen Städte und Stätten der europäischen Kultur erinnern. Man denke nur an Sarajevo, Cordoba oder Weimar. Insbesondere Weimar, die Stadt der deutschen Klassik, die uns als Deutsche besonders am Herzen liegt, hat mit der großartigen Figur Johann Wolfgang von Goethes die Begegnung Europas mit dem Islam längst vorgedacht.

In der Neuen Zürcher Zeitung schreibt Manfred Osten am 22.05.2002 über diesen alten-neuen Dialog mit dem Islam treffend und zusammenfassend:

„Ein Dialog von weit vorauseilender Modernität? Goethe war sich offenbar früh des kulturellen Schismas zwischen dem Islam und dem Westen und der daraus resultierenden Notwendigkeit des großen Gesprächs bewusst. Für seinen Versuch eines solchen Gesprächs, den 1814 entstandenen Gedichtzyklus ‘West-östlicher Divan’, mag allerdings nach wie vor Nietzsches Verdikt gelten, Goethe sei in der Geschichte der Deutschen „ein Zwischenfall ohne Folgen“. Noch heute begegnen viele Germanisten dem interkulturellen Geniestreich mit Vorbehalten. Immerhin hat Goethe mit diesem Werk schon vor rund 200 Jahren nichts Geringeres vorbereitet als den Dialog mit dem Islam. Die Strategie, die er hierbei verfolgt, beruht auf gründlicher Beschäftigung mit dem scheinbar Fremden. Bei Goethe endet sie in Anerkennung, ja in der Überzeugung, dass der Koran das wichtigste religiöse Dokument der Menschheitsgeschichte neben der Bibel sei.“

Was hat Goethe am Islam wirklich interessiert? Eine spannende, nach wie vor offene Frage. Goethe, das Jahrhundertgenie, fand im Islam zweifellos seine Sehnsucht nach der Einheit und seinen tiefen Glauben an das Schicksal bestätigt.

So bewundert Goethe, um nur ein Beispiel zu nennen, in den berühmten Gesprächen mit Eckermann, die diesbezügliche, ganzheitliche islamische Erziehung.

„…[Es] ist höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, dass dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren.“

Im Glaube an das Schicksal erkennt Goethe somit das eigentliche Bindeglied aller Gläubigen. So fährt er denn auch fort….

„… im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! …[Es ist] eine Lehre … [der] Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.“

Mit diesem schönen Zitat bestätigt Goethe das Verbindende zwischen den Menschen, die nach Goethe sowieso und doch viel besser offene Weltbürger, als engstirnige Nationalisten sind.

Goethe, der Schöpfer des „West-Östlichen Divans“ der ja berühmterweise „den Verdacht nicht ablehnt, selbst ein Muselmann zu sein“ zeigt sich sogar als Kenner islamischer Denkmethodik. Er erinnert uns Muslime daran, dass wir innerhalb unserer Offenbarung nicht „dialektisch“, sondern „ganzheitlich“ denken.

So argumentiert Goethe:

„Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.“

Goethe dann weiter über diese Souveränität islamischen Denkens:

„Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.“

Es ist vielleicht genau dieses geistige Selbstbewusstsein, die Freude am denkerischen Wettstreit, die Gelassenheit und die Souveränität, Gegensätze auszuhalten, die uns Muslime heute manchmal fehlt. Nur im aktiven Umgang mit dem Denken, den Argumenten und Gegensätzen der Moderne können wir als Muslime unseren eigenen geistigen Ort finden und bewahren. Das ist zumindest der Rat des alten Dichters.

Natürlich ist die Sprache und das Sprachvermögen Bedingung für eine solche Begegnung hier in Deutschland, dem Land der „Dicher und Denker“. Welche muslimischen Eltern können eigentlich nicht wünschen, dass ihre Kinder diese, unsere Sprache sprechen?

Manchmal ist es dabei sogar die Sprache des Anderen, die uns hilft, das eigene Wertvolle besser zu fassen. Einfach schön ist beispielsweise die Einsicht unseres weltberühmten Dichters Rainer Maria Rilke. Er definiert in wunderbaren Worten das Wesen der Religion:

„[…] Religion ist etwas unendlich Einfaches, Einfältiges. Es ist keine Kenntnis, kein Inhalt des Gefühls […], es ist keine Pflicht und kein Verzicht, es ist keine Einschränkung: sondern in der vollkommenen Weite des Weltalls ist es: eine Richtung des Herzens. […] Daß der Araber zu gewissen Stunden sich gegen Osten kehrt und sich niederwirft, das ist Religion. Es ist kaum . Es hat kein Gegenteil. Es ist ein natürliches Bewegtwerden innerhalb eines Daseins, durch das dreimal täglich der Wind Gottes streicht, indem wir mindestens dies: biegsam sind […]“

Diese Weltoffenheit Rilkes ist heute wahrlich beispielhaft. Die Begeisterung ist dabei durchaus gegenseitig und nicht auf die deutsche Sprache beschränkt. So schreibt Rainer Maria Rilke am 19.12.1912 an Lou Andreas-Salome aus dem andalusischen Ronda:

„..hier les ich den Koran und staune, staune, staune – und habe wieder Lust zum Arabischen“.

Ist es etwas Anderes als dieses Staunen, das wir Muslime in unseren Moscheen heute vermitteln wollen? Das Staunen über das Schicksal, das Staunen über die Sprache, das Staunen über die Schöpfung. Vielleicht auch das Staunen über die menschlichen Gemeinsamkeiten, die jede große Dichtung uns allen, jenseits unserer Konfessionen, immer wieder offenbart.

Es ist auch genau dieses Staunen, das der Erfahrung des Nihilismus, dessen Grunderfahrung nach der modernen deutschen Philosophie die Langeweile ist, entgegensteht. Nur wenn unsere Moscheen offen, unser Beten, Denken, Handeln lebendig ist, wird es uns gelingen, dass es unserer Jugend in unseren Moscheen nicht langweilig wird.

Ibn al Arabi, eine andere große europäische Figur, hat die Langeweile als etwas ganz Denkunmögliches im Islam angesehen. Sein Mottto ist wahrlich griechisch: es lautet „Alles fließt“. Ich möchte daher mit diesem, philosophisch wichtigen Absatz aus den Mekkanischen Offenbarungen des Ibn ‘Arabi schließen:

„Manche Leute wissen nicht, dass Allah Sich in jedem Augenblick [neu] offenbart, und jede dieser Offenbarungen ist von der ihr vorangehenden verschieden. Wenn es jemandem dieser Wahrnehmung mangelt, mag er ohne Ende in einer einzigen Selbstoffenbarung [Allahs] verweilen und ihre Bezeugung für ihn langwierig werden. Dann wird ihn die Langeweile überkommen, doch Langeweile in diesem Aufenthalt ist Mangel an Ehrfurcht gegenüber der Göttlichkeit, denn „sie sind, was eine neue Schöpfung“ in jedem Augenblick „betrifft, im Unklaren.“ (50:15). Sie haben die Vorstellung, dass sich die Lage nicht ändert, also wird ein Schleier über sie verhängt und dies führt zum Mangel an Ehrfurcht, nachdem Allah ihnen Wissen um ihrer Selbst und Sich entzieht. Also stellen sie vor, dass sie zu jedem Augenblick gleich sind.“

Herzlichen Dank für Ihre Geduld.