Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Die Moral der Geschichte

Es gibt nicht wenige, die die rückwärtsgewandte Debatte über Günther Grass als typisch deutsch einstufen. Die moralische Integrität der Bundesrepublik lebt nach wie vor nicht unerheblich von der andauernden politischen Abrechnung mit dem Terror der Nationalsozialisten. Es geht um das Engagement des Schriftstellers als 15-jähriger bei der verrufenen Waffen-SS, die zweifellos einer der Pfeiler der Vernichtungsmaschinerie der Nazis war. Eine ganze Generation Moralapostel, im Feuilleton und unter den Bedingungen von heute urteilend und nur in wenigen Fällen durch aktuellen Heldenmut angesichts der Herausforderungen dieser Zeit ausgezeichnet, prüft hierzulande, ob der alte Mann mit der Pfeife auch heute noch moralisch als integer anzusehen ist. Diese Debatte wirkt angesichts globalem Mord und Ungerechtigkeit, angesichts Massenhunger und ökologischer Zerstörung irgendwie ziemlich abgehoben.

Das geschichtliche Urteil über die Abgründe der Vergangenheit dürfte heute klar sein, wie steht es aber mit dem hier und jetzt, also unser eigenen moralischen Verortung? Es ist bezeichnend, dass eine ähnlich konsequente und für die Reputation des Betroffenen folgenreiche Moraldebatte, angepasst an die Verhältnisse von heute und im „hier und jetzt“, eher selten stattfindet. Der amtierende Bundespräsident Horst Köhler beispielsweise war zuvor Direktor des Internationalen Währungsfonds IWF. Moralisch ist das eine durchaus fragwürdige Position. Globalisierungskritiker werfen dem IWF vor, mit seinen Strukturanpassungsprogrammen zahlreiche Länder in massive wirtschaftliche Krisen gestürzt zu haben. Der Sachverhalt kann auch unromantischer ausgedrückt werden: Der IWF wird als einer der Mechanismen angesehen, die für Tod, Armut und Verzweiflung in der Welt mit verantwortlich sind.

Unser moralisches Empfinden in Europa lebt heute von der Trennung von Politik und Ökonomie, von politischer und ökonomischer Verantwortung, als hätten diese beide Felder nicht wirklich miteinander zu tun. Die selbstbewusste Berufung der Politik auf die Heiligkeit unserer „globalen“ Werte macht nur Sinn, wenn man ausschließlich innerhalb des politischen Feldes argumentiert. Niemand wird dabei bezweifeln, dass sich die Staaten in Europa innenpolitisch durch rechtliche Errungenschaften auszeichnen. Es gefällt uns, hier zu dozieren, wie die Welt aus der Sicht des Westens – wenn alle nur schnell genug von uns lernen würden – sein sollte. Nur wie ist die Lage auf dem größeren Teil der Erde wirklich? Außerhalb des Limes hat unsere ökonomische Expansion eine beispiellose Schneise der strukturellen Zerstörung hinterlassen. Wie naiv muss man sein, wenn man glaubt, dies sei alles folgenlos?

Moral ist in der Weltpolitik ein großes Wort geworden – aber seien wir doch ehrlich: Wegen der Menschenrechte ist noch kein einziges großes bundesrepublikanisches Geschäft mit einem der Schurkenstaaten dieser Welt gescheitert. Die Trennung der Moral in wertsetzende Felder ist jedenfalls günstig: Niemand im Westen muss für unsere globale Wirtschaftspolitik, die längst Züge eines Feldzuges hat, irgendeine Verantwortung übernehmen. Welche der negativen Eigenschaften, die man dem Islamismus als moderner Bewegung, ob zu Recht oder nicht, zuordnen kann, ist nicht, wenn auch in größerer Potenz, eine genauso zu beobachtende direkte Folge des zügellosen Kapitalismus?

Dieses Phänomen der absoluten Scheinheiligkeit wirft in der islamischen Welt tatsächlich wachsende Zweifel an der moralischen Qualität des technologischen Projektes auf. Die Verwertung der Welt zu Gunsten der endlosen Machtsteigerung, die unglaubliche Anhäufung von Kapital an den Machtzentren fordert nicht nur in der Peripherie den unabhängigen Intellekt heraus. Natürlich ist die Bewertung der neuen Ordnung auch eine Frage der Perspektiven, so wie es ein Unterschied ist, ob man gewohnt ist, Bomben auf Lieferschein zu liefern oder die Totenscheine auszustellen, wenn sie geworfen worden sind. Die neue Skepsis klingt bei Mahmood Mamdami in seinem Buch Guter Muslim, böser Muslim zunächst so:

„Islamischer Fundamentalismus ist eine Reaktion auf die Zumutungen einer imperial auftretenden westlichen Moderne. Dass islamischer Fundamentalismus im Westen häufig ausschließlich als rückschrittliche Bewegung wahrgenommen und zugleich mit dem Terrorismus identifiziert werde, ist nur aus einer Sicht zu begreifen, die aufgrund eigener Herrschaftsinteressen keine Entwürfe zulasse, die nicht ausschließlich auf der Nachahmung der westlichen Moderne und damit auch der Unterwerfung unter diese bestehen. Unabhängige nationale Bestrebungen, die eigene Wege suchen und denen dabei auch das Recht des Irrtums und der Korrektur vorbehalten sei, würden aus dieser Sicht immer denunziert werden müssen.“

Die Wertedebatte gegen den Islam, dem der Terrorismus trotz der hohen eigenen Verluste pauschal zugerechnet wird, stärkt zweifellos das fahle Gefühl einer moralischen Überlegenheit des Westens. Die sozialen Gräben, die Erosion der politischen Solidarität, die der globale Kapitalismus Innen und Außen aufwirft, werden durch die Projektion des scheinbar allgegenwärtigen Feindes leichter überbrückt. Darin liegt die Verführung.

So verleitet der gestenreiche „Kampf gegen den Terrorismus“, so zumindest Peter Sloterdijk, „Gründe zu sehen, warum man eventuell bereit sein könnte, sich mit dem Abdriften der westlichen politischen Kultur in postdemokratische Zustände abzufinden“. Der „war on terror“ besitzt für den Philosophen dabei die bedenkliche Eigenschaft, „nicht gewonnen werden zu können – und daher nie beendet werden zu müssen“. Für die verlorene politische Einheit in Europa fasst Peter Sloterdijk diese neuen willkommenen Wirkungen zusammen:

„Während die kommunistische Drohung, wie bemerkt, eine bedeutende Erhöhung der sozialen Friedenskosten zur Folge hatte, gehen von der Drohung des islamistischen Terrors summarisch kostensenkende Wirkungen aus. Indem er das angegriffene Kollektiv summarisch unter Stress setzt, trägt er dazu bei, dass sich in diesem, trotz jüngst wieder enorm vertiefter sozialer Differenzen, das Gefühl ausbildet, einer realen Solidargemeinschaft, das heißt, einer um ihre Zukunft ringenden Überlebenseinheit anzugehören..“