„Nun kommt wohl die größte Herausforderung auf die Belastbarkeit der europäischen Solidarität auf uns zu: die Flüchtlingskrise. Sorgen über die Zukunft der europäischen Einheit sind also durchaus berechtigt. Europa ist in Bezug auf seine Aufnahmebereitschaft zutiefst gespalten, nicht zuletzt auch, weil das konservative Europa in einer tiefen Identitätskrise steckt und mit dem Fremden ein ideologisch wichtiges Gegenbild findet, ganz nach dem Motto: ‘Wir sind Europäer, weil sie es nicht sind’.“
Die „Ode an die Freude“ ist die große Hymne Europas. Nur: Immer mehr Europäer singen nicht mehr so inbrünstig mit, wenn es dort heißt „Seid umschlungen, Ihr Millionen“. Die Finanzkrise und die umstrittenen Zahlungen an die Griechen hatten die europäische Idee und ihre Fundamente schon ernsthaft erschüttert. Nun kommt wohl die größte Herausforderung auf die Belastbarkeit der europäischen Solidarität auf uns zu: die Flüchtlingskrise. Sorgen über die Zukunft der europäischen Einheit sind also durchaus berechtigt. Europa ist in Bezug auf seine Aufnahmebereitschaft zutiefst gespalten, nicht zuletzt auch, weil das konservative Europa in einer tiefen Identitätskrise steckt und mit dem Fremden ein ideologisch wichtiges Gegenbild findet, ganz nach dem Motto: „Wir sind Europäer, weil sie es nicht sind.“ Am Horizont zeichnen sich, aus muslimischer Sicht, bereits ungute Bündnisse rechter und linker Nationalisten ab.
Natürlich entzünden sich längst die üblichen Debatten rund um die Aufgabe eventuell Millionen neuer Muslime in die EU zu integrieren. Gerne wird dabei die Rolle der Muslime auf ein Sicherheitsproblem reduziert und die positive Integrationskraft der europäischen Muslime unterschätzt, obwohl gerade die Geschichte des Balkans aus den 1990er Jahren zeigte, dass die europäischen Muslime, zumindest in ihrer absoluten Mehrheit, sich in keiner Weise durch Rache oder Terror bestimmen lassen. Und wieder einmal begegnet man dem Denkfehler vieler Europäer, die nicht sehen können oder wollen, dass der Islam nicht nur Teil Europas war und ist, sondern auch Millionen europäischer Bürger Muslime sind und sich in keiner Weise als „Fremde“ oder „Immigranten“ sehen.
Europas Muslime verkörpern letztlich drei große Gruppen: die originär hier lebenden Muslime, sei es auf dem Balkan, Russland oder Andalusien, die in Europa geborenen oder europäische Sprachen sprechenden Muslime und die wachsende Zahl „neuer“ Muslime, die sich aktiv zum Islam bekennen. Alle miteinander erschüttern sie die falsche These, der Islam sei nur einer bestimmten Kultur zuzuordnen, sind sie doch in vielen Fällen begeisterte Vertreter und Erben einer europäischen Kultur. Langsam setzt sich auch die Sicht durch, zum Beispiel in der islamischen Architektur in Europa, selbstbewusst diesen eigenen kulturellen Ansatz sichtbar zu manifestieren.
Während Europa nach seiner Idee sucht, die sich nicht nur in Zahlen ausdrücken lässt und sich nicht nur auf einen profanen Materialismus beschränkt, denken auch Muslime über ihre Eigenschaften nach. Ihre Identität, so hießt es neulich auf einem Treffen europäischer Muslime in Weimar, lasse sich am Besten in einer Art Dreiklang beschreiben: Bürger, Goetheaner, Muslime. Damit entziehen sich Muslime auch einer weltfremden Definition auf ein einziges Merkmal. Sie haben Rechte und Pflichten, lesen die europäische Literatur, beteiligen sich an den Debatten über die europäische Philosophie, sind jenseits jeden Nationalismus zuhause und leben – ganz selbstverständlich – als praktizierende Muslime.
Neben dieser geistigen Selbstdefinitionen sind Muslime auch ein wichtiges Bindeglied europäischer Regionen. Sie leben in Russland, in der Türkei, auf dem Balkan, aber eben auch in den Staaten des Nordens. Sie könnten also durchaus ein wichtiger Bestandteil der europäischen Völkerverständigung sein. Dieses Engagement geht natürlich über den üblichen Tourismus weit hinaus. Will man den europäischen Islam dagegen selbst verstehen, muss man Bildungsreisen nach Kazan, nach Edirne, nach Sarajevo, Cordoba oder eben nach Köln oder Birmingham einplanen. Auf diesen Reisen wird man völlig unterschiedliche Manifestationen des Islam in Europa erleben, auch wenn es natürlich einen Unterschied macht, ob die Moschee im Stadtzentrum oder in einem Gewerbegebiet steht. Fakt ist, dass der Islam in allen seinen Facetten in ganz Europa sichtbarer wird. Man kann es drehen, wie man will: Muslime gehören künftig zweifellos zu den wichtigen Akteuren auf der europäischen Bühne.
Natürlich wird das Phänomen Islam in Europa auch schon länger in Brüssel debattiert. Lange dachte man, dass der Siegeszug des Säkularismus, wenn nicht die ganze Welt, dann sicher aber ganz Europa umfassen würde. Diese Eindeutigkeit ist heute verschwunden. Viel mehr beschäftigen sich nun auch europäische Institutionen mit der Präsenz des Islam. Muhamed Bascelic hat in seiner lesenswerten Doktorarbeit Der Islam im europäischen Einigungsprozess die rechtlichen, historischen und philosophischen Hintergründe aufgezeigt. Fakt ist, so Bascelic, „der Islam ist schon längst Teil der europäischen Rechtsordnung“. Diese Entwicklung wird auch weitergehen, denn nur mit einer Mitgliedschaft Bosniens, des Kosovo oder Albaniens in der EU wird auf Dauer die Sicherheitsarchitektur in diesen Schlüsselregionen für den Frieden in Europa funktionieren.
Natürlich vollzieht sich der Prozess der Zusammenkunft Europas mit dem Islam nicht über Nacht. In einer Studie für das Europaparlament aus dem Jahre 2007 heißt es hierzu nicht ganz grundlos lapidar: „Nicht einmal den Muslimen der zweiten und dritten Generation in Europa ist es gelungen, in größerer Zahl eine europäische Identität zu schaffen, die es nicht mehr erforderlich macht, sich auf die eigene nationale Herkunft (außerhalb Europas) oder die ihrer Eltern zu besinnen.“
Das Argument spielt auf den richtigen Umstand an, dass tatsächlich viele muslimische Verbände nach wie vor die „Ethnie“ und nicht zum Beispiel die einfache Zakatpflicht als Ordnungskriterium pflegen. Manche Gemeinden und ihre Anlagen wirken daher auf Außenstehende wie ein exterritoriales Gebiet. Diese Abgeschiedenheit ändert sich aber unter dem wachsenden öffentlichen Druck auf die Muslime. Ironischerweise ist es zudem die aktuelle Flüchtlingswelle, die dieses Gefüge weiter erschüttern könnte. Nicht nur Europa muss bunter werden, auch die Verbände können sich dieser Entwicklung nicht dauerhaft entziehen. Eine junge Basis in den Organisationen kann mit der Rückbindung an die ehemaligen Heimatländer der Vorfahren sowieso immer weniger anfangen. Sie helfen auch bereitwillig den Flüchtlingen, dabei ist es ihnen egal, welcher Ethnie sie angehören.
Lange Zeit wurden die europäischen Muslime als Gelehrte oder muslimische Intellektuelle nicht wirklich ernst genommen. Dies ändert sich ebenso. Das Vorurteil, dass europäische Muslime ihren Islam nicht korrekt praktizieren ist nicht haltbar, genauso wenig wie der von außen projizierte, angebliche Gegensatz von liberalen und konservativen Muslimen. In der Alltäglichkeit europäischer Muslime und ihrer Suche nach dem Mittelweg, verbinden sich zumeist Haltungen, die man als liberal und auch als konservativ beschreiben könnte. Natürlich üben Muslime in Europa auch einen starken Einfluss auf die politischen Debatten aus. Muslime, die europäische und islamische Bildung genossen haben, hinterfragen das moderne Konzept der religiösen Diktatur im arabischen Raum, reagieren aus europäischer Erfahrung heraus allergisch gegen Ideologien, sind aber auch nicht naiv, wenn es um die Veränderungen der europäischen Demokratien selbst, sei es durch auswuchernde Finanztechnik oder den wachsenden Sicherheitsapparat, geht.
Natürlich gibt es auch in den Gruppen der europäischen Muslime zahlreiche Unterschiede, aber auch wichtige Gemeinsamkeiten. Die absolute Mehrheit sorgt sich über die Infiltration der europäischen Gemeinschaften mit der so a-historischen wie ortungslosen Ideologie des radikalen Salafismus. Aber es wachsen auch aus diesem Feld die Gegenkräfte, zum Beispiel durch diejenigen Muslime, die eine klassische Ausbildung im Rahmen der anerkannten Rechtsschulen vollzogen haben. Sie können die Widersprüche des ideologischen Salafismus aufarbeiten und zurückweisen. Kenntnisse über diese anerkannten Traditionen des verstehenden Zugangs zu den Ursprüngen des Islams verbinden sich auch mit Kritik an den Orten der Lehre in aller Welt, die sich als „Staatsislam“ offensichtlich keine Unabhängigkeit gegenüber der Korruption leisten konnten. Schon jetzt konkurrieren „freie“ europäische Standorte mit den alten Stätten der Wissensvermittlung.
Leider sind die europäischen Muslime – mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel FEMYSO oder EMU – bisher kaum auf europäischer Ebene effektiv organisiert. Das verwundert, sind doch Muslime potentiell eher überzeugte Europäer als etwa stramme Nationalisten. Hinzu kommt noch die aktuelle politische Gefahrenlage. Europäischen Muslimen dürfte klar sein, dass ein aufkeimender Nationalismus in Europa auch auf Kosten einer negativen Dialektik gegen den Islam entsteht. Durchsichtig ist der Versuch, den Islam aus der Geschichte Europas und die Muslime aus der Öffentlichkeit zu drängen. Von ihrer reinen Zahl her sollte sich der Einfluss der Muslime eines Tages aber auch im Europäischen Parlament wieder spiegeln.
Wegen der gemeinsamen Interessenlage ist auch eine europäische Solidarität zwischen den in Europa lebenden Muslimen wichtig. Ein Blick auf das EU-Land Bulgarien zeigt dies einmal exemplarisch. In dem Land lebt mit über einer Million Muslime eine der größten europäischen Communities. Alle muslimischen Volksgruppen, also türkische Bulgaren, Pomaken und Roma, haben selbstverständlich europäische Pässe. Hier kämpfen die Muslime noch um ihre Rechte und ihren legitimen Platz in der bulgarischen Gesellschaft. Bemerkenswerterweise sind die Roma, die wohl größte Bevölkerungsgruppe der Zukunft, auch Gegenstand biopolitischer Erwägungen um die künftige religiöse Identitätsbildung dieser Europäer.
Nebenbei findet sich in Bulgarien inzwischen auch ein typisch europäisches Problem, viele junge Muslime und junge Imame (Durchschnittslohn 250 EUR) flüchten inzwischen nach Deutschland und Westeuropa. Besuche von Muslimen aus anderen europäischen Ländern in dem faszinierenden Land sind dagegen eher selten.
Dabei gibt es in dem Land einiges zu lernen. Eine beinahe 500-Jahre lange islamische Geschichte lehrt Techniken der Toleranz, bis hin zu einer klugen Städteplanung und einer beachtlichen Infrastruktur für alle religiösen Gruppen. Das etwas simple Geschichtsbild der Kommunisten, welches die islamische Geschichte des Landes verdrängt hatte, wird gerade behutsam revidiert. Das Verhältnis Islam und Europa ist tatsächlich komplexer als es Ideologen jeder Façon zugestehen wollen.
Hier, im Osten Europas, könnte man durchaus lernen, wie die soziale Kompetenz der Muslime effektiv und zum Wohle der Allgemeinheit in die Zivilgesellschaften eingebracht werden könnte. Oder wie es schön im Fazit von Bascelics Arbeit heißt: „Die historischen Ereignisse der Begegnung zwischen dem Islam und dem Christentum in Europa vermitteln zwar vielfach den Eindruck einer zugespitzten Rivalität, die Geschichte vermeldet aber immer wieder auch ein gelungenes Miteinander im europäischen Raum.“