In Stralsund stimmte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den kommenden Bundestagswahlkampf ein. Mit zwei entscheidenden Sätzen positioniert sich die Rede Merkels in ihrem konservativen Lager. Zum einen sei das „Volk jeder, der in diesem Land lebt“ und zum anderen, so erklärte sie weiter, sei „die CDU nicht für zentrale Lösungen“, sondern glaube, dass die Dinge vor Ort gelöst werden müssten.
Foto: Pixabay.com | Lizenz: CC0 Public Domain
Mit beiden Bestimmungen dürfte sie Lob und Tadel einfahren. Das Dilemma für die Kanzlerin ist greifbar: Sie will sich abgrenzen von einer völkischen Volksinterpretation, in einem Bekenntnis zu einem „Wir“, das nicht exklusiv gedacht ist, gleichzeitig fügt sie aber auch eine nationale Komponente ein, die im Zeitalter der Zentralisierungen für die verunsicherte Klientel auch so etwas wie Heimat stiften will.
Nach der Wiedervereinigung steht die aktuelle Flüchtlingskrise für eine weitere Zäsur der bundesrepublikanischen Geschichte. Nach der Integration der Ostdeutschen in ein Deutschland in einem vereinigten Europa, geht es nun um den Umgang mit dem Zuzug Hunderttausender Immigranten. Wieder stehen die Deutschen vor einer ihrer wiederkehrenden Fragen: Wer sind wir eigentlich?
Gerade Muslime dürften wohlwollend zur Kenntnis nehmen, dass ihre Kanzlerin nicht der Versuchung erliegt, einem groben Nationalismus das Wort zu reden. Aber, sie steht nicht alleine in der Partei, vielen anderen Parteivertretern geht die vaterländische Rhetorik der Parteichefin nicht weit genug. Gerade die Gegnerschaft zum Islam, obwohl nur ein Bruchteil der Flüchtlinge ihn wirklich praktiziert, ist dabei für viele Konservative zu einem wichtigen Identitätsmerkmal geworden.
Fakt ist, die Folgen der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte für Demokratie und Gesellschaft, das ökonomische Klima der Globalisierung überhaupt, haben auch die Konservativen im Land zutiefst verunsichert. Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Bewältigung der Bankenkrise zur Entstehungsgeschichte der konservativen Konkurrenzpartei zur Regierungspartei, der AfD, geführt hat.
Inzwischen geht es aber im ganzen konservativen Lager vor allem um die Position gegenüber der Zuwanderung und – im Kern – um das künftige Verhältnis zum Islam. Es gehört zur Tragik, dass die Dramatik der Flüchtlingskrise und das unterschwellige Verlangen der Deutschen, sich wieder ihrem eigenen Gefühl des Identitätsverlustes stellen zu müssen, zusammenfallen. Die Gefahr darin beschrieb der Philosoph Kurt Hübner: „Identitätsverlust bewirkt Neurosen, und Neurosen sind bekanntlich keine besonders gute Grundlage für ein friedliches Miteinander.“
Längst sehen sich die Muslime in Deutschland einer politisierten Debatte ausgesetzt, die im Ergebnis Muslime in „verdächtige Islamisten“ oder „harmlose Esoteriker“ einteilt. Hinzu kommen so hitzige wie kontroverse Ausführungen um die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland. Zudem hat die Identitätskrise der größten türkischen Verbände die Debatte verkompliziert. Viele türkischstämmige Muslime sind zwar längst deutsche StaatsbürgerInnen, aber auch über ihre Organisationen mehr oder weniger stark mit der Türkei vernetzt.
Während die deutsche Gesellschaft unter einem natürlichen Veränderungsdruck steht, stagnieren einige der Verbände im Organisationsmodus der 1970er Jahre. Nach wie vor sind sie ethnisch abgegrenzt und nicht wirklich vorbereitet für die aktuelle Lage. „Die alten Organisationsformen funktionieren nicht mehr richtig, die neuen sind noch nicht da“, mag man denken, wenn man die aktuellen Debatten über den Status der DITIB nachvollzieht.
Im Ergebnis treffen sich unterschiedliche Fragen nach der Rolle von Identität in der modernen Gesellschaft, die heute von muslimischen und nichtmuslimischen Akteuren beantwortet werden müssen. Für das künftige Zusammenleben sind diese Fragen nach dem „Wer sind wir“ elementar. Der amerikanische Sozialpsychologe Clay Routledge beschreibt das Problem wie folgt: „Identitätspolitik macht die Beziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen schwieriger, weil die jeweiligen Gruppenmitglieder fortlaufend an die trennenden Identitätsmerkmale erinnert werden.“ Wissenschaftliche Untersuchungen belegen zudem, dass die Betonung einer bestimmten Identität eine Opfermentalität in den Gruppen begünstigt. In den sozialen Medien lässt sich dieser Trend gut beobachten. Nach dem Trauma der terroristischen Anschläge in Europa, die von Muslimen durchgeführt worden sind, betonen Muslime, nach der Distanzierung von religiös motiviertem Terror, nunmehr verstärkt ihre eigene Opferrolle, fühlen sich – natürlich mit guten Gründen – gesellschaftlich diskriminiert und selbst verfolgt.
Aber, bei allem Verständnis über die Empörung gegenüber islamfeindlichem Rassismus, Muslime sollten auch erkennen, dass sie selbst zunehmend in einer Identitätspolitik verfangen sind, die exklusive Züge trägt und zum Teil ebenso wie die rechte Identitätspolitik auf ethnische oder völkische Komponenten setzt. Wie lange noch können, um nur ein Beispiel zu nennen, islamische Organisationen selbst an der ethnischen Trennlinie als Identitätsmerkmal festhalten?
Gerade die Jugendverbände der islamisch-türkischen Organisationen haben dies erkannt. Sie sind in Deutschland angekommen, sie sind die Basis der künftigen Community und wollen hier in Deutschland mitentscheiden. Dies schließt natürlich ein gutes Verhältnis zu muslimischen Ländern nicht aus. Wichtiger noch aber als die künftigen Organisationsformen ist das Verständnis dieser jungen Muslime über die eigene Identität. Sie entwickeln einen Lebensstil, der islamische Lebenspraxis mit erfolgreicher Partizipation in Berufs- und Gesellschaftsleben verbindet. Hier wird auch das Bekenntnis der Bundeskanzlerin für einen offenen „Volksbegriff“ positiv als eine Chance vernommen.
Aus muslimischer Sicht jedenfalls lässt sich die Frage nach der eigenen Identität nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe reduzieren. Die eigene Identität ergibt sich vielmehr aus dem Sprachvermögen, dem prophetischen Vorbild und der islamischen Lebenspraxis an sich. Heute sind sich Muslime bewusst, dass sie auf die Eigenschaft, Bürger zu sein, in einem modernen Staatswesen nicht verzichten können. Sie müssen nun auch erkennen, dass sie als Subjekte an Diskursen teilnehmen und durch sie definiert werden. Es liegt an ihnen selbst, auch eigene Debatten anzustoßen oder sich an gängigen Fragestellungen zu beteiligen.
Einer der größten Mängel der bestehenden Verbandslandschaft liegt wohl an dem Unvermögen, sich in den typisch deutschen Debatten, sei es die Frage nach der Technik, die soziale Frage oder eben die Frage nach der deutschen Identität, Gehör zu verschaffen. Der türkisch-deutsche Schriftsteller Zafer Senocak findet für den Sprachverlust drastische Worte: „Die Sprache der muslimischen Verbandsvertreter und der Geistlichen gleicht dem Morsealphabet auf einem sinkenden Schiff. Die gleichen Töne überall, die vorfabrizierten Floskeln, inhaltliche Leere der Gedanken.“
Auch wenn man es weniger hart als Senocak formulieren will, intellektuell ist die Führungsebene vieler Verbände nach wie vor zu stark auf ihre ehemaligen Heimatländer bezogen. Die Publikation von Presseerklärungen ersetzt nicht die Macht der öffentlichen Rede. Gerade hier, in der Debattenfähigkeit, zeigt sich aber, ob man wirklich in Deutschland angekommen ist. Überfällig sind inhaltliche Beiträge, die die ökonomischen und sozialen Lösungsansätze des Islam betonen und die Sicht auf die Rolle der Muslime im geistigen Leben hierzulande verändern.
Wo immer aber das nationale Pathos erklingt und den Inhalt ersetzt, sei es bei Deutschen, Türken oder Arabern, empfiehlt es sich, genau nachzufragen, was denn wirklich gemeint ist. Es ist kein Zufall, dass nationalistische Überzeugung meist mit einem Mangel an Bildung zusammenfällt.
Bei Vertretern von identitären Bewegungen (aller Couleur) macht man oft die Erfahrung, dass es ihnen auf Nachfrage gerade schwerfällt, wirklich sinnvoll zu begründen, was ihre eigene Identität positiv ausmacht. Der romantisierende Blick in die Vergangenheit beantwortet noch nicht, wie man in den modernen Konsumgesellschaften, die sich weltweit durchsetzen, Kultur und Solidarität bewahren will.
In diesen Tagen veröffentlicht der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer ein für diesen Kontext wichtiges Buch, das sich um die berühmte Frage „Was ist deutsch?“ dreht.
Auf – bezeichnenderweise – beinahe 1000 Seiten stellt der Gelehrte die Widersprüche, Herausforderungen und Veränderungen der Geschichte deutscher Selbstbestimmung vor. Man würde sich wünschen, ganz nach dem Vorbild Goethescher Forderung nach einer Weltliteratur, dass dieses Buch eine breite Debatte stimuliert. Die kritische Frage, „Was ist türkisch?“, oder „Was ist arabisch?“, müsste ergänzend herangezogen werden, um in einer künftigen, bunteren Gesellschaft bedeutende Gemeinsamkeiten und ein neues Wir-Gefühl auszuloten.
Borchmeyer erinnert in seiner Übersicht nicht zuletzt an die klassische Sicht: „Deutsch-Sein heißt eigentlich übernational, heißt europäisch, heißt weltbürgerlich denken. So ist es nämlich in allen klassischen Definitionen des Deutsch-Seins der Fall gewesen.“
Nimmt man diese Formulierung ernst, fällt auf, dass in dieser Definition „Deutsch-Sein“ und „Muslim-Sein“ ohne jeden Sinnverlust auswechselbar sind. Vielleicht treffen sich hier die Bemühungen der Muslime, ihre Mitte zu finden, mit dem Ideal eines vereinigten Europas. Wie immer die Identitätsdebatten sich weiter entwickeln, Muslime werden wohl kaum auf Seiten derjenigen stehen, die einen Rückfall in das Zeitalter der Nationalstaaten befürworten.