Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Islam und Nihilismus

Wenn man sich die Frage nach Europa, dem Islam und dem Nihilismus neu stellt, dann ist dies für uns nichts anderes als die eigene Frage als Gestalt. Wir sprechen hier heute als europäische Muslime über unsere eigenen Erfahrungen an der denkwürdigen Linie, die den Nihilismus und den Islam trennt.

Das Thema dieses kurzen Vortrags ist die Berührung des Islam mit dem Nihilismus. Ich hoffe wir sehen, warum man sagen kann, dass der Islam eine Einladung ist – ohne die Verneinung des Denkens und des Intellekts – aus der Zone des Nihilismus herauszutreten.

Ich erinnere mich natürlich auch noch an meine persönliche Situation, die dazu führte, den Nihilismus als meine eigene geistige Haltung zu Gunsten des Islam aufzugeben. Diese „gefährliche Begegnung“ mit europäischen Muslimen geschah zu meiner Studentenzeit in Freiburg.

Ich hatte zu dieser Zeit das Christentum innerlich verlassen. Ich bewunderte Albert Camus; den französischen Schriftsteller mit der Zigarette, und las seinen „Mythos von Sysyphos“. Auch andere Bücher wie „Der Mensch in der Revolte“ oder „Die Pest“ fanden meine Aufmerksamkeit. Ich bewunderte den Versuch des Existenzialisten, in einer trostlosen und sinnlosen Zeit zumindest „Haltung“ zu bewahren.

Ich war allerdings auch irritiert, dass Camus selbst, man könnte sagen „absurderweise“, seinen Tod bei einem merkwürdigen Autounfall fand. Er starb auf einer ewig geraden Landstraße. Sein Reifen war „zufällig“ geplatzt und sein Auto zerschellte an dem einzigen kleinen Bäumchen weit und breit.

Ich erinnere mich an eine Andere, „absurde“ Episode in meinen Freiburg Studententagen. Genauer gesagt ging es um einen Vorfall, der die Freiburger Öffentlichkeit empörte und mich ein wenig amüsierte. Der prachtvolle Sitz des Freiburger Bischofs wurde mit großem Aufwand frisch gestrichen und erschien im weißen Glanz. Ein unbekannter Anarch schrieb nun an diese weiße Wand „Gott ist tot“. Der Unbekannte unterschrieb diesen Satz mit „Nietzsche“. Die Wand und der böse Satz wurde natürlich über Nacht eilig weiß überstrichen. In der nächsten Nacht schrieb aber ein anderer Sprayer an gleicher Stelle „Nietzsche ist tot“ und unterschrieb mit „Gott“.

Diese Grundsatzfragen nach dem Sinn des Daseins beschäftigten mich also mehr oder weniger, bis ich europäische Muslime traf. Auf die Frage meines damaligen Lehrers, Schaikh Abdalqadir as-Sufi, der mich geduldig in den Islam einführte, woran ich denn selbst glaube, antwortete ich wahrheitsgemäß: „An nichts. Ich denke Camus hat Recht. Das Leben ist absurd. Es gibt keinen Gott“.

Die Antwort der europäischen Muslime auf diese Feststellung war souverän! Sie zeigten sich nicht etwa provoziert, lächelten sogar, und klärten mich auf, ich bestätigte ja immerhin bereits den ersten Teil der Schahada.

Ich fand so heraus, dass die Feststellung Nietzsches, wonach Gott – im christlichen Sinne – tot sei, philosophisch aus der Sicht dieser Muslime in bestimmter Weise seine Berechtigung habe. Ich staunte! Im Übrigen – so die Muslime weiter – sei die Welt nichts Anderes als eine Art Spiegel, in den man hineinschaue. Was blieb mir übrig, als genauer nachzudenken, wie ich in diesen Spiegel künftig hineinschauen wollte?

Aber kommen wir noch einmal auf Friedrich Nietzsche zurück. Nietzsche, der berühmte Deutsche, der bekanntlich mit dem Hammer philosophierte und der einen gewichtigen Teil des europäischen Denkgebäudes zum Einsturz brachte. Natürlich wollte Nietzsche dabei weder ein gefährliches, neues gottloses Menschenwesen schaffen, noch plump allen Glauben an sich abschaffen.

Nietzsche bewegte vielmehr die Not, den Menschen auf eine neue Welt – ohne den bisher gewohnten „christlichen Gott“ – vorzubereiten. Mit anderen Worten: Nietzsche dachte über den Nihilismus nach, ohne selbst einfach nihilistisch zu sein.

Dass es zu kurz fasst, Nietzsche als „Ungläubigen“ abzustempeln, zeigt eine andere Episode seines Denkens. Vor seinem Tode erklärte Nietzsche, er verstehe nicht, warum die Deutschen nicht den Islam statt dem Christentum angenommen haben. Europa, so Nietzsche polternd, habe zwei Probleme: „Alkohol und Christentum.“

In seiner berühmten Abhandlung „Der Antichrist“ führt Nietzsche aus: „Das Christentum hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht, es hat uns später wieder um die Ernte der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare maurische Kulturwelt Spaniens, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten.“

Salopp gesagt ging es Nietzsche schlicht darum, nicht mehr „christlich zu empfinden“ und einen neuen „Spirit“, einen neuen Geist, zu schaffen. Dieser neue Geist musste durch eine veränderte Welt ohne Gott tragen.

Bis heute klingen die düster klingenden Warnungen Nietzsches im Ohr, die in dem berühmten, viel zitierten Satz gipfelt: „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Nietzsche erkannte natürlich am Horizont Europas die eigentlichen Gefahren für die innere und äußere Wirklichkeit des Menschen:

Der neue Nihilismus ging im Inneren einher mit dem Austrocknen tiefer Spiritualität, der Aufgabe des Lebensmutes, der Umkehrung aller Werte und der Schaffung eines Menschentypes, der nicht mehr göttlich genug war, um das Göttliche zu erkennen.

Auf der anderen Seite lebte und erlebte Europa die ersten Ansätze einer planetarischen, machtvollen Technik. „Macht euch die Erde untertan!“ – diese Losung erfolgte zunehmend mit schwerem Gerät, Maschinen und neuer Technik. In einem Brief des Dichters von Kleist an seine Verlobte aus dem Jahre 1801 findet sich eine treffende Beschreibung der persönlichen Erfahrung des Nihilismus dieser Tage.

Kleist beschreibt in dem Brief die radikale Konsequenz des neuen Denkens, die Relativierung der Möglichkeit jeder Wahrheit: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrscheinlich Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich-. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich hab nun keines mehr-.“ Keine Ziele, Keine Wahrheit – was folgt aus den Worten des jungen Dichters?

Geradezu Unglaubliches sollte nun gelten. Statt einer allgemein verbindlichen Wahrheit bleibt dem Menschen nur noch eine Art Subjektivität! Politisch blieb einer ganzen Generation von „jungen Dichtern, ohne objektiven Wahrheiten“ nur der aufkommende Nationalismus, eine aufbrausende Gefühlsregung und gefährliche Selbstüberhöhung zugleich, die Millionen Europäern als künftiger Religionsersatz dienen sollte. Aber nicht nur Gott befand sich in Auflösung, auch das eigene „Ich“ – und damit eigentlich alle überkommenen Vorstellungen von der Ordnung dieser Welt. Was für eine Revolution!

Nur drei wichtige Aspekte der großen Denkereignisse und ihrer Umkehrung seien genannt:

1. Aus der Sicherheit des Glaubens wurde die Skepsis der Wissenschaft.

2. Die metapyhsische Position des allmächtigen Gottes übernahmen zunehmend Staat, Nation und Bank.

3. Der Mensch wurde zu einem Individuum, das man anhand subjektiver Ideen organisieren konnte.

Dostojewski stellte nun eine weitere radikale Frage: Ob in einer Welt ohne Gott nicht auch alles erlaubt sei? Eine Jahrhundertfrage, die einige Brisanz haben sollte. In der neuen gottlosen Welt standen sich ja plötzlich hochgerüstete, vom Nationalismus beseelte, subjektiv denkende Völker gegenüber. Einige Jahrzehnte später, im Angesicht des anrollenden 1.Weltkrieges, rief der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke erschrocken aus: „Die Erde ist endgültig dem Menschen in die Hände gefallen.“

Die verheerenden Weltkriege und ihre furchtbaren Bilder sind es ja auch, die bis heute der verbreiteten nihilistischen Grundhaltung einiges an Argumenten liefern. Man denke nur an die industrielle Vernichtung von Menschen, den Holocaust und die Atombomben. Hannah Arendt kommentierte angesichts Ausschwitz und dessen Folgen für den Humanismus nur: „Dies hätte nicht passieren dürfen“.

Nach den Weltkriegen wurde die Frage nach dem „Ausweg aus dem Nihilismus“, die Frage nach einem neuen Geist, der ja nach Schiller bekanntlich den Körper formt, beinahe verzweifelt gestellt. Welche geistige Haltung sollte man annehmen, wenn Nietzsches Satz, wonach „die Wüste wächst“, sich nun allzu deutlich manifestierte?

Die Gründe für eine mögliche nihilistische Haltung sind – wie gesagt – bis heute evident. Genau genommen gefährden uns alle seine Zustände jeden Tag!

Wir stehen in der Not, nicht zu wissen, was der Mensch angesichts von Leid und Umweltzerstörung überhaupt noch ausrichten kann. Nach dem Krieg erleben wir eine neue Form der Herrschaft der allmächtigen Technik und der Finanztechnik, die weder dem Menschen noch Gott unterstellt zu sein scheint. Sie ist nach Heidegger aber auch nichts anderes als ein gewaltiges „Herausfordern“ der Schöpfung.

Wir erleben dieses „Herausfordern“ – ich erinnere nur an das Öl-Debakel im Golf von Mexiko – beinahe alltäglich. Wir wollen uns nicht allzu Lange mit den so depremierenden wie bekannten äußeren Katastrophen und Bedrohungen unserer Zeit aufhalten. Hier in diesem Vortrag soll es ja eher um unsere innere Landschaft, also um unseren Glauben, gehen.

Dennoch, eine weitere drastische Beschreibung der „condition humaine“ möchte ich uns nicht ersparen. Sie stammt von dem UN-Beauftragten Jean Ziegler: „Goldberge steigen im Westen und die Leichenberge im Süden. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 47.000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger und mehr als eine Milliarde Menschen, fast ein Sechstel der Menschheit, sind permanent schwerst unterernährt.“

Natürlich möchte man hier schreien: „Was tun?“ Nur, und insofern nähern wir uns dem eigentlichen Dilemma, das den Nihilismus kennzeichnet: Obwohl wir wissen, können wir nicht handeln! Uns scheinen sprichwörtlich die Hände gebunden!

Neue Zweifel an der Macht des Menschen erscheinen also; kann etwa eine globale Politik aus der Not helfen? Gerade die aktuelle Finanzkrise zeigt aber doch die Rolle der politischen Souveränität. Sie ist verloren! Weder Nationen, noch Parteien haben die Macht, wie wir heute sehen, die globale Kraft der Finanzökonomie substanziell zurückzuweisen.

Schlimmer noch: Jedem Widerstand – wie der Anti-Globalisierungsbewegung – droht der „Spirit“ auszugehen. Jeder, ob allein oder in Gruppen, der versucht, mit einigem Idealismus sich der „Wüste“ entegenzustellen droht der „Spirit“, die nötige Geisteskraft auszugehen. Ist das etwa die geheimnisvolle, lähmende Kraft des Nihilismus?

Schon im postmodernen Deutschland stritten sich der Philosoph Martin Heidegger und der Schriftsteller Ernst Jünger über die Folgen des Nihilismus. Sie diskutierten die alten, neuen Fragen unsere Zeit: Kann man noch gegen den Nihilismus handeln; und wenn ja, wo, wer und wie?

Was Jünger als Aktion gegen den Nihilismus vorschlug, war eine Art heldenhafter individueller Widerstand, eine Art extreme Auseinandersetzung mit dem Nichts, das dann, so Jünger, „nach seiner Überwindung jene Schätze freisetzen wird, die es ehemals verborgen hielt“. Jünger sah also durchaus Grund für Optimismus. In seiner berühmten Schrift „Über die Linie“ schrieb Jünger: „Die metaphysische Beunruhigung der Massen, das Auftauchen der Einzelwissenschaften aus dem kopernikanischen Raum und das Auftreten von theologischen Themen in der Weltliteratur, sind Positiva hohen Ranges, die man einer rein pessimistischen oder auf Untergang gerichteten Lagebeurteilung mit Recht entgegenhalten kann“.

Aber natürlich wusste auch Jünger, dass der Nihilismus nicht einfach mit ein wenig „gutem Willen“ überwunden werden kann. Auch Jünger sah, dass es dazu mehr brauchte als „nur“ eine menschliche Entscheidung. Den Menschen kann überhaupt nur noch – wie es Heidegger später mysteriös im „Spiegel“-Interview formulierte – ein „Gott“ retten. Ein Gott? Was meint aber das Wort „Gott“ für den Nietzsche-Verehrer Heidegger?

Heidegger sah den Menschen zweifellos in seiner tiefsten Not. Angekommen. Heidegger, insofern radikaler denkend als Jünger, setzte den vollendeten Nihilismus, die vollkommene Seinsvergessenheit mit der vollständigen Entmachtung der Subjektivität gleich!

Heidegger erklärte in einem Briefwechsel mit Kästner: „Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden?“

Die Werke Jüngers und Heideggers fassten aber immerhin einige wesentlichen Voraussetzungen für einen neuen Anfang und ein neues Denken. Man könnte diese so zusammenfassen: Ein neues Denken kann nicht im alten Subjekt-Objekt-Verhältnis denken. Nötig ist kein blinder Aktionismus, sondern das Überdenken der europäischen Geistesgeschichte und – als DIE Komponente jenseits des menschlichen Willens: Es braucht hierzu natürlich ein gutes Schicksal.

Aber gehen wir nun – wenn Sie erlauben – einen Schritt weiter auf den Islam zu. Die Fragestellung ist dabei klar: Weist der Islam uns Europäern etwa einen Weg aus dem Nihilismus und wenn ja, mit welcher denkerischen Berechtigung? Sind unsere europäisch-muslimischen Gemeinschaften gewissermaßen Oasen in der „wachsenden Wüste“? Was ist überhaupt die Rolle des Islam in der Situation der Herrschaft der planetarischen Technik?

Zweifellos ist es die islamische Lebenspraxis selbst, die das Dasein zu ganz neuen, fundamentalen Wahrnehmungen führt. Im Kern dieser Wahrnehmung, jenseits von Subjekt und Objekt, jenseits von Ich und Gott, steht ein denkwürdiger Satz Ibn Al-Arabis: „Allah regiert die Schöpfung aus sich selbst heraus.“ (Ibn Al-Arabi).

Wie kommen wir an diesen Ort, der jenseits von „Innen“ und „Außen“ liegt und sich nicht finden lässt, wenn man sich als ein Gegenüber eines Gottes versteht? Imam Al-Dschunaüd sagte über diesen denkwürdigen Vorgang, der so schwer in Sprache zu fassen ist: „Tasawwuf ist, dass du mit Allah bist ohne Verbindung, und dass Seine Wahrheit dein Ich verschwinden lässt und dann dich mit Ihm zurück zum Leben bringt“.

Bedenken wir aus dieser neuen Sicht heraus nochmals die Lebenspraxis des Islam. Die aufregende Frage ist dabei: Steht diese Praxis tatsächlich im Widerspruch zu den Einsichten der europäischen Philosophie?

Gestatten sie uns einen kurzen Blick auf die 5 Säulen des Islam:

Da ist zunächst die Schahada, die, wie ich bereits erwähnt hatte, in ihrem ersten Teil die Verneinung der christlichen Metaphysik umschließt. Das Glaubensbekenntnis bestätigt die absolute Einheit und verneint – im Gegensatz zum Christentum – die Möglichkeit der Trinität. Das Glaubensbekenntnis bestätigt zudem die Propheten und die Nachfolgeschaft des Menschen.

Aus ihr folgt, das Gebet, das eine völlig neue Wahrnehmungsebene eröffnet. Das Gebet beginnt mit Feststellung, dass Allah nicht nur groß, sondern größer ist! Uns eröffnet sich eine dynamische, nie ganz zu fassende Wirklichkeit. Auch hier sei ein schöner Nietzsche-Satz in Erinnerung gerufen: „Mancher findet sein Herz nicht eher, als bis er seinen Kopf verliert! Wir erkennen in den spirituellen Übungen des Islam, einem essentiellen Grundsatz des Sufismus folgend, dass Allah in dem Maße erscheint, als sich das „Ich“ verabschiedet.

Wir erfahren auf der Hadsch die Substanz der menschlichen Existenz, herausgelöst aus den Gegensätzen von Raum und Zeit, Vergangenheit und Zukunft, ein Kreisen, die Auflösung der Gegensätze, das Ende der Dialektik von Raum und Zeit.

Die Zahlung der Zakat, zu der wir verpflichtet sind, nötigt uns auf, „Dinare“ beziehungsweise echtes Geld zu drucken, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Das Verbot der Zinsnahme, das uns Allah befiehlt, eröffnet uns die Möglichkeit einer neuen gerechten Wirtschaft! Und schlussendlich: Das offenbarte Konzept einer funktionierenden ökonomischen Ordnung eröffnet die Möglichkeit eines neuen Nomos.

Im Monat des Ramadan, dem wir mit Freude entgegensehen, erleben wir die Möglichkeit der Freiheit und das Zutrauen in die versprochene Versorgung.

Ist es also diese Lebenspraxis des Islam, die den Nihilismus überwindet?

Das heißt übrigens nicht, dass die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Nihilismus für uns Muslime nicht mehr zu spüren wäre und dass man vor nihilistischen Zuständen als Muslim immer sicher wäre. Der Nihilismus ist tatsächlich ein so mächtiger Gegner, dass man ihm nicht alleine und ohne Hilfsmittel gegenübertreten kann. Im Islam und der Sunna des Propheten finden sich die Grundlagen für ein Miteinandersein, für die Erfahrung der Einheit und eine Sammlung von Handlungsanweisungen, die im Zusammenspiel an den Ort jenseits des Nihilismus führt.

In der Offenbarung des Qur'ans ist diese Botschaft einstimmig und eindeutig zusammengefasst. Sie steht der Offenbarungsform der Technologie, also der Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit des Internet gegenüber. In der Rezitation des Qur'ans, in der Feier der Sprache, wurzelt auch das Gegengift gegen die Stimmung der Langeweile und Lähmung, die sich im Nihilismus notwendigerweise breit macht.

Ibn Al-Arabi, eine andere große europäische Figur, betrachtete die Langeweile als etwas im Islam Unvorstellbares. Sein Motto ist wahrhaft griechisch: „Alles fließt.“ Aus diesem Grund möchte ich dieses philosophisch wichtiges Zitat aus den „Mekkanischen Offenbarungen“ Ibn Al-Arabis anführen: „Manche Leute wissen nicht, dass Allah sich Selbst in jedem Augenblick neu offenbart und dass eine jede dieser Offenbarung anders als die vorherige ist. Fehlt es jemandem an dieser Wahrnehmung, dass kann er sich endlos mit ein einer einzigen Offenbarung aufhalten, deren Bezeugung ihm verlängert erscheint. Er wird dann von Langeweile überwältigt. Und dies, obwohl Langeweile an jenem Ort ein Mangel an Respekt für das Göttliche ist, denn 'sie zweifeln an dieser neuen Schöpfung' in jedem Augenblick (Qur'an 50, 15). Sie glauben, dass sich die Lage nicht verändert. Also wird ein Schleier vor ihnen aufgezogen und dies führt zu einem Mangel an Respekt – sobald Allah ihnen Wissen über sie selbst und über Sich selbst entzogen hat. Daher stellen sie sich vor, sie seien in jedem Augenblick die selben.“

Rainer Maria Rilke – der bis sehr nahe an das Tor des Islam rückte, dichtete unter dem Eindruck des Nihilismus: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“.

Jeder, der nur einmal in Mekka war, weiß, was gemeint ist.