Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Ist unsere Ökonomie rational?

Der Islam muss sich in der Debatte oft vorwerfen lassen, er sei irrational oder aber die Aufklärung habe die Muslime nicht wirklich erreicht. Im politischen Feld mag diese Dialektik in Zeiten von augenscheinlichem Terrorismus und unter dem Eindruck islamischer Politdinosaurier noch einigermaßen zu begründen sein, dennoch ist es natürlich ein Bild von schlichter dialektischer Einfachheit. Unser europäisch geprägtes Bild nach dem Muster „wir sind rational, weil sie irrational sind“ trügt sogar sehr. Es gibt auch in unserem scheinbar so geordneten Leben in Europa die andere Seite. Wir alle – ob Muslime oder Nichtmuslime – akzeptieren alltäglich ein Wirtschaftssystem, dass sich der Rationalität und damit letztlich auch der Logik der Aufklärung immer wieder entzieht. So zeigt sich in diesen Tagen eine der anderen, irrationalen Seiten der heutigen Bundesrepublik.

Machen wir es kurz: Die Schuldendynamik erreicht inzwischen groteske Höhen. Der Bundeshaushalt 2004 ist nach den Worten von Finanzminister Hans Eichel (SPD) der Etat mit den „größten Risiken“ in seiner fünfjährigen Amtszeit. Der Entwurf sieht Ausgaben von 251,2 Milliarden Euro und 28,8 Milliarden neue Schulden vor. Das sind rund 10 Milliarden mehr als 2003 gesetzlich geplant. Der deutsche Haushalt wirkt dabei im Vergleich zum amerikanischen Haushalt noch recht aufgeräumt und bemüht sich wenigstens noch rhetorisch um „kaufmännische Redlichkeit“.

Der entfesselte Kapitalismus hat auch – vor allem, wenn man von den Wohlstandsinseln aus nach Süden blickt – dramatische und zersetzende Folgen für die Ideale des europäischen Humanismus. Während wir uns in Deutschland um den zerrinnenden Wohlstand sorgen, ist es vor allem der besorgniserregende Zerfall der Moral, der mit dem „Siegeszug“ des globalen Kapitalismus einhergeht. „Die Subventionen für eine europäische Kuh liegen im Durchschnitt höher als das Gesamteinkommen mancher Afrikaner“, führt Weltbank-Präsident James Wolfensohn emotionslos aus. Ein Fünftel der Weltbevölkerung, rund 1,2 Milliarden Menschen, müssen nach Angaben der Weltbank mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. 45 Millionen Menschen werden sich – überwiegend in Entwicklungsländern – in den nächsten sieben Jahren mit dem Aids-Virus anstecken. Die Millenium-Ziele der Vereinten Nationen – Halbierung der Armut bis 2015, Grundschulbesuch für alle Kinder der Welt, Reduzierung der Kindersterblichkeit auf ein Drittel – sind in weite Ferne gerückt. Der Schrecken, der sich hier andeutet, verweist alle Kopftücher der Welt eher ins Marginale. Hier geht es um den Kern der menschlichen Exis-tenz und das Schicksal der uns allen überlassenen Schöpfung.

Ökonomie als Religion Die Wüste wächst. Unsere Schulden und vor allem auch unser Schuldendienst bekommt zunehmend eine eigenständige und beinahe religiöse Dimension. Das ist keine neue Sensation. Walter Benjamin hat dieses Phänomen so zusammengefasst: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“. Das ist wohl die tiefere Bedingung für die Schuldenfalle. Schon lange wird die kollektive Schuld, heute gewissermaßen überkonfessionell, als eine ewige Realität akzeptiert. Millionen Kinder dieser Welt werden längst unbefragt als Schuldner geboren. Ein Schuld-Syndrom braucht um erträglich zu sein natürlich auch ein Erlösungsritual, sozusagen einen jüngsten Tag des Schuldendienstes. Unser andächtiges Hoffen auf diese Erlösung folgt der wiedernatürlichen Idee, dass unsere Wirtschaft eines Tages endlos wachsen könnte. Darauf warten wir nun also. Die ersten Zweifel, vermutlich angeborener Teil des gesunden Menschenverstandes, sind in Europa bereits spürbar. In der ganzen Schöpfung gibt es kein endloses Wachstum, allein die ökonomischen Illusionen und ihre Insignien aus Papier können ohne Ende wachsen. Wer rational denkt, weiß, dass der Dollar längst zur Phantasiegröße entwertet ist, und wer seinen tatsächlichen Wert ahnt beginnt automatisch zu beten. „Wir hoffen und beten, dass die Berichtigung langsam vonstatten geht“ bereitete Wim Duisenberg die Europäer auf die Entzauberung des Dollars und harte Stürme am Währungsmarkt vor. Die Verführung und gleichzeitig der Betrug der modernen Währungen liegt – im Gegensatz zum Gold – in ihrer endlosen Reproduzierbarkeit. Goethe beschreibt dieses menschliche Drama bereits im Faust. Die Finanzblätter der ökonomischen Eliten haben Gold als sichere Anlage schon längst rehabilitiert.

Unfrei durch Schulden? Politisch grenzt der Schuldenberg und im Schatten davon unsere Schulden-Philosophie das abendländische Ideal der Freiheit bereits dramatisch ein. „Politik reagiert, sie hört auf zu agieren“ fasste ein nachdenklicher Politiker unlängst die Dynamik der Schuldenfalle zusammen. „Funktioniert das Projekt der Demokratie dauerhaft ohne Konjunktur?“ wird mit Sorge gefragt. Der wachsende Schuldenberg gefährdet inzwischen beinahe alle modernen Demokratien. Die Politik hat schon heute Angst vor den künftigen unzufriedenen Massen, die keine Arbeit mehr haben oder nicht mehr konsumieren können. Die meis-ten der heutigen Anti-Terror-Gesetze treffen bereits den ganz normalen Bürger. Dies sind unheimliche Vorbereitungen, betrieben ohne echte Opposition. Wie bei einem Tumor im Endzustand macht sich die Ratlosigkeit breit. Niemand hat ein einfaches Patentrezept; aber nehmen wir an, wir hätten einen Freund, der sich jedes Jahr mit mehreren Millionen verschuldet, aber immer noch hofft, diese durch Steiger-ung seiner Produktivität zurückbezahlen zu können, was wäre unser Urteil? Natürlich wollen wir uns bei unserem „auf seine Rationalität pochenden Kranken“ nicht mit einem spaßigen Rat wie „Druck doch einfach neues Geld!“ begnügen. Wir sollten hier lieber ein ernstes Gespräch über den geis-tigen Zustand unseres Freundes beginnen. Was haben wir als Muslime ihm zu sagen?

Der Dialog mit dem Islam über Wirtschaftsfragen ist ein so offenes, wie auch interessantes Gespräch – jenseits von den ideologischen Schützengräben und national-antiquierten Befreiungskriegen der letzten Jahrhunderte. Hier zählen nur nachvollziehbare Alternativen, nicht Ideen. Natürlich wird man sagen und vor allem glauben, es gäbe keine Alternative zu unserer „aufgeklärten“ und „modernen“ Art zu wirtschaften. Viele Muslime denken heute nicht anders und bezeugen recht schnell, dass es sogar unmöglich sei „Halal“, also erlaubt zu wirtschaften. „Der Handel ist der Dreh- und Angelpunkt, der über den Erfolg der globalen Armutsbekämpfung entscheidet“ heißt es bei der Weltbank. Das ist wahr und korrespondiert mit der qur’anischen Offenbarung: Dort liest man: „Allah hat den Handel erlaubt und den Wucher verboten“.

In der westlichen, wirtschaftlich längst abgeschotteten Welt herrscht allerdings die Umkehrung dieses Glaubenssatzes. In Europa ist die Zinsnahme erlaubt, der Handel zunehmend durch die Monopole ersetzt. Hier, an dieser Stelle, findet die eigentliche zeitgemäße Begegnung mit dem Islam und dem Kern der Offenbarung statt. Erinnern wir uns, in ihren Blütezeiten war die islamische Welt immer auch eine Welt des freien Handels. Haben wir Muslime die ökonomischen Gesetze dieser Welt, die uns kaum gelehrt wurden, wirklich vollständig verstanden? Der Kapitalismus begreift sich heute offen als alternativlos und ist insofern eine tendenziell totale Sichtweise. Wenn sich politische Gebilde dieser Haltung verschreiben, neigen sie dazu, mit der angeblich fehlenden Alternative zum Kapitalismus auch totalitäre Maßnahmen zu legitimieren. Die moralische Überlegenheit, die das eigene Wirken mystisch verklärt, wird so schnell zum einfachen rhetorischen Taschenspielertrick: Das, was (bedauerlicherweise) ist, wird mit dem gerechtfertigt, was eines Tages sein soll.

Reichtum für alle „Reichtum für alle“ ist der passende Welt-Slogan einer allgemeinen Welt-Wohlstands-Partei. Man fühlt sich hier an den Hölderlin-Satz erinnert, „wer den Himmel auf Erden verspricht, hat zumeist die Hölle geschaffen“. Der Alltag folgt eher der kalten Lehre des wirtschaftlichen Pragmatismus. Bis zum quasi-paradiesischen Zeitpunkt globalen Wohlstandes scheitert bequemerweise keines unserer profitablen Geschäfte am Respekt an den Menschenrechten. „Business as usual“ heißt es heute, wenn unsere Politiker in Peking, Moskau oder Riad vorbeischauen. „Wer Moral zeigt, den bestraft eben die lauernde Konkurrenz“ heißt es achselzuckend. Wer so den Weltzustand charakterisiert, muss nicht gegen irgend jemanden sein. Es sind nicht etwa Bösewichte, die diese Welt zu verantworten haben – es handelt sich vielmehr um die Offenbarung einer lange schon entzauberten Welt. Philosophisch stellt sich seit Heidegger, man denke nur an die Schrift „Die Technik und die Kehre“, die Frage nach den menschlichen politischen Möglichkeiten, den entfesselten Geist der Technik zu begrenzen. Ist der profane, ja endgültige Sinn des Daseins, eine unsichtbare Schuld zu begleichen? Hier verorten sich die aktuellen Glaubensfragen. Und wir glauben notgedrungen alle.

Verständnis der Technik „Niemand hat die Technik in der Hand, sie hat uns in der Hand“ – diesen Skeptizismus findet man heute nicht nur in der Philosophie. Muslimen ist diese Skepsis gegenüber der Machbarkeit noch eher fremd. Noch immer wird der Traum der politischen, nationalen Souveränität geträumt. Aber, wie man heute weiß, muss jede politische Ideologie und ihr „Gut gegen Böse“ letztlich scheitern, auch wenn sie im Sportpalast oder Stadion noch so „islamisch“ tut. Der Islamismus und seine Machenschaften missversteht nicht nur die Offenbarung, sondern auch den modernen Kapitalismus und die Technik, die als etwas neutrales, zur Verfügung stehendes und der eigenen Machtgewinnung dienendes verstanden wird. Die Offenbarung wird so weder im Ganzen gehört noch verstanden, ja letztlich verleugnet und dem Nationalismus, dem Bruder des Islamismus, untergeordnet. Der kommende Weltstaat wird den Islamismus in Teilen zerstören und ansonsten integrieren. Was allein bleibt ist die Offenbarung selbst. Die Offenbarung zeigt ihre zeitlose Brisanz, wenn sie auch die ökonomische Situation des Menschen reflektiert. In der islamischen Welt – von Tariq Ramadan bis Mahathir – hat die kons-truktive Reflektion über das Verhältnis des Islam zum Kapitalismus längst begonnen. Nachdem man die Offenbarung beinahe ein Jahrhundert lang nur „politisch“ hören wollte, besinnt man sich nun wieder auf den klassischen, ganzheitlichen und damit auch ökonomischen Sinnzusammenhang.

Freiheit von Schulden Zweifellos hat Mahathir die Souveränität als „Unabhängigkeit vom Schuldendienst“ zeitgemäßer definiert als der naiv-staatsgläubige moderne Islamismus. Ein Jahrhundert lang hat die arabische Welt ausschließlich westliche Denkmodelle mit dem Wort „islamisch“ versehen und kopiert. Islamisches Denken in der arabischen Welt ist heute oft genug nur noch eine Art „anti-israelische Polit-Esoterik“. Wenn Tariq Ramadan bemängelt, dass die Globalisierungsgegner den Islam noch nicht wahrgenommen hätten, dann hat er zwar Recht, nur liegt die Schuld bei den Muslimen selbst. Wo ist denn unser innovativer Beitrag? Haben nicht arabische Muslime einen Islam in alle Welt exportiert, der den Eindruck erweckt, als gehe es im Islam vor allem um Kopftücher – weniger aber um die Menschheit bewegende Grundfragen?

Man muss schon blind sein, ob Muslim oder nicht, wenn man die Erosion der demokratischen Ideale im Wirbelsturm des Kapitalismus nicht sehen mag. Hier tut Aufklärung Not. Die muslimische Intelligenz ist sich heute im Klaren, dass der radikale Islamismus natürlich die Demokratie gefährdet, aber – und das ist das Neue im muslimischen Denken der letzten Jahre – der globale Kapitalismus tut dies eben auch. Es passt hier ins Bild, dass die demokratischen Ideale bei muslimischen Jugendlichen größeren Enthusiasmus finden als bei ihren konsumierenden Altersgenossen. Man darf nicht vergessen, dass jeder Ismus – da sind sich Freund und Feind ja einig – letztlich ein Menschenwerk ist. Wenn es stimmt, wie zum Beispiel der Amerikaner Berman nicht ganz zu Unrecht behauptet, dass der totalitär-moderne Islamismus die faschistoiden Ideologien beerbt habe, dann muss man zur schockierenden Vollständigkeit des dramatischen Bildes allerdings noch hinzudenken, dass der aktuell von uns geduldete Kapitalismus in der nicht weniger abgründigen Tradition der Produktion unfasslicher Opferzahlen steht. Das Recht zur Empörung über diese Umstände ist heute für niemanden exklusiv zu haben und verbindet die Denkenden. Man muss es vielleicht nicht so radikal formulieren wie es die Initiative „2015“ tut, welcher der frühere CDU-Entwicklungspolitiker Winfried Pinger und der Cap Anamur-Gründer Rupert Neudeck angehören. Dort heißt es in einer aktuellen Erklärung zur Armut: „Vor drei Jahren haben sich 189 Staats- und Regierungschefs der UNO ein neues Ziel gegeben. Bis 2015 wollen sie die extreme Armut von 1,2 Milliarden Menschen halbieren. Bis heute ist wenig geschehen, um dieses Ziel politisch wasserdicht zu machen. Drei Jahre sind verbummelt worden. Der sog. ‘Umsetzungsplan’ für den deutschen Beitrag liegt noch nicht vor. 800 Millionen unserer Mitmenschen hung-ern. An diesem Tag verhungern 24.000 Menschen. Drei Jahre mit den gleichen Mord- und Hungerzahlen.“ Wie gesagt, die Sicht auf diese Dinge begründet keine exklusive moralische Überheblichkeit, eher ruft das uns Menschen verbindende Gewissen in die Erfahrung existentieller Not. Ohne entsprechende Not kann sich auch dem Menschen nichts Relevantes offenbaren.

Wir erleben nach dem 11. September die innere und äußere Mobilisierung der Staaten gegen die politisch denkenden Feinde der Aufklärung. Moderne Staaten sind für diesen Kampf gegen den Terrorismus beinahe perfekt aus- und hochgerüstet. Der absolute Willen wird hier – ganz zeitgemäß – nur noch durch die Finanzierbarkeit begrenzt. Dieser Kampf wird, so hören wir, wohl Jahrzehnte benötigen, ungeahnte Ausnahmerechte erfordern und doch durch die Entstehung von Zonen ohne jeden Nomos wie ein Waldbrand immer wieder neu entfacht werden. Auch wer zufällig neben dem Terroristen an der Ampel steht, kann künftig ermordet werden. Für die aktuelle Gefahr der schleichenden Ent-Demokratisierung durch den Kapitalismus selbst sind wir dagegen weniger gut vorbereitet.

Die Mobilisierung der Globalisierungsgegner ist bisher eine bunte Revolte mit Charme, doch noch fehlen ihr die klaren Inhalte. Die Muslime sind gefordert, nachvollziehbare Inhalte beizutragen. Wenn er nicht mehr weiter weiß, besinnt sich der Mensch ganz natürlich auf die Möglichkeit des göttlichen Beistands und der Vorsehung. Sind solche Menschen weniger oder mehr irrational als ihre Mitmenschen? o