Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Jenseits der Parteilichkeit

Es ist ein denkwürdiger Zug unserer Zeit, dass sich viele politisch artikulierende Zeitgenossen in die Logik von Parteiungen flüchten, statt die klar zu Tage tretenden Widersprüche auf allen Seiten – und seien es die eigenen – auszuhalten. Dass niemand vollständig Recht haben kann ist weiß Gott kein Übel, sondern eher ein Hinweis auf die Möglichkeit einer der Tagespolitik übergeordneten Bedeutung. Die aktuelle Krise in der Ukraine gibt für diejenigen, die das Geschäft des „Agitierens mit Tatsachen“ betreiben, ausreichend Vorlagen, aber tieferen Sinn mögen diese subjektiven Positionen dabei nicht wirklich zu stiften.

Es geht auch anders: Angenehm unparteiisch und damit auf der richtigen Spur, wie ich finde, ist zum Beispiel ein aktueller Beitrag von Ludwig Greven in der ZEIT. Seine Analyse über „ein neues Spielfeld für kalte Krieger“ ehrt den Intellekt, da Greven souverän genug ist, auf beiden Seiten des Spielfelds listige Manöver zu sichten. Diese eher seltene Vorgehensweise ist an eine Bedingung gebunden, die schon Aristoteles, der Begründer der Politikwissenschaften, in einen denkwürdigen Leitspruch fasste: „Es ist das Kennzeichen eines gebildeten Geistes in der Lage zu sein, auf einen Gedanken einzugehen, ohne ihn zu akzeptieren.“

Das Urteil Grevens ist dann auch differenziert und meidet das leider üblich gewordene Freund-Feind-Schema: „Die Ukraine wird geteilt, die Bevölkerung zerrissen. Und alles unter dem Deckel hehrer europäischer beziehungsweise russischer Ideale!“ In diesem Fazit liegt gleichzeitig der eigentlich schmerzhafte Punkt verborgen, der sich nicht nur in der Ukraine zeigt und dem es sich als Europäer zu stellen gilt; ganz egal, ob man Russe, Ukrainer oder Deutscher ist. Es sind genau diese politischen „Ideale“, die wir letztlich vor unseren Augen untergehen sehen.

Es ist nicht nur ein Nebensatz wert, dass in Sachen Russland Muslime nicht zur verbreiteten politischen Romantik neigen. Wenn man über 100 Völker herrscht und sich zur Rechtfertigung seiner Machtpolitik auf „Nationalstolz“ und „Nationalismus“ beruft, muss ein derartiges „Reich“ ja beinahe zwangsläufig auf Kosten von Minderheiten aufgebaut sein. Wer einseitig Partei für Russland nimmt, muss das Schicksal der Muslime in dem Vielvölkerstaat ignorieren. Assimilierung und Gewalt, die im Moment zum Beispiel die Krimtataren wieder fürchten müssen, sind ja schließlich nicht nur bösartige Erfindungen einer westlichen Feindpropaganda. Darüber hinaus mögen die bunten Flaggen wie zu den großen Zeiten Moskaus im Wind flattern, dahinter aber ist die politische Wirklichkeit doch eher profan: antiquierter Nationalismus + autoritärer Kapitalismus + Komfortzonen für Oligarchen.

Sollte Russland sich aber tatsächlich zu einem Bündnis mit China gezwungen sehen, könnte dadurch eine Geopolitik real werden, die sich nicht einmal mehr rhetorisch der Idee von „Werten“ verpflichtet fühlt. Man sollte, auch angesichts der humanitären Krisen in Syrien und anderswo, nicht denken, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte. Das transatlantische Bündnis würde durch diese Art des Gegensatzes wohl beinahe notgedrungen aufleben. Es könnte sogar sein, dass unter diesen Bedingungen, auch für Muslime, zumindest denjenigen, die nicht im Blockdenken fixiert sind und sich vor vollständiger Assimilierung in neuen Imperien fürchten, eine Zäsur und ein Perspektivenwechsel nötig wird.

Es geht bei dem Abstand vom politischen Gezänk nicht darum, sich vom politischen Geschehen an sich abzuwenden. Nur, wer sich weniger in den Gegensätzen das Politischen heimisch fühlt, sondern sich eher in der Religion, Philosophie oder Literatur verortet, dem gelingt es eben leichter, sich eine notwendige Position der Überparteilichkeit zu bewahren. Man muss andererseits unstrittige Fakten zur Kenntnis nehmen: Zum Beispiel, dass die Finanz-, Energie- und Machtpolitik der „Großräume“ längst die alte Idee nationaler Demokratie relativiert.

Im Angebot sind verwandte Spielarten des autoritären Kapitalismus, mit mehr oder weniger großen Achtung vor Menschen- und Bürgerrechten, mit mehr oder weniger großen lokalen Freiheiten, wie das Ernst Jünger in seiner Abhandlung der „Weltstaat“ bereits voraussah. Aber eben keine grundsätzlich unterschiedlichen Systeme oder gar alternative Lebensformen.

Hier gilt es in die Klammer zu setzen, dass der Islam wiederum, was ja oft verdrängt wird, nie ein System, schon gar keine Ideologie war, sondern eine Lebenspraxis zwischen Moschee und Markt, die nicht auf feste Grenzen oder Feindschaft setzte, sondern auf die Offenheit eines fairen und schon immer auch globalen Handel. Der Treibstoff, der die Titanen unserer Zeit letztlich antreibt, das Papiergeldsystem und das aggressive Postulat ewigen Wachstums, findet in der überlieferten, gemäßigten ökonomischen Vernunft der Muslime keine Bestätigung. Der Vorschlag, dass der Islam selbst im Kleid von „Parteien“ Alternativen vermitteln könnte, ist dagegen kolossal gescheitert.

Wenn wir also zur Analyse zurückkehren, müssen wir feststellen, dass zu Beginn dieses Jahrhunderts – und nicht etwa erst seit den „Platzrevolutionen“ unserer Tage – eine besondere Form des Kalten Kriegs tobt: der Weltwirtschaftskrieg. Ein neuer Nomos, der gleichzeitig eine echte Friedensordnung wäre, ist nicht in Sicht, auch keine Politik, die noch souverän genug wäre, beispielsweise nach einer Friedenskonferenz alten Stils zu rufen. Der politische Mensch, der vormals nach kollektiver Freiheit strebte, sichtet nun am Horizont die Barrieren der Finanz- und Atomtechnik.

Für Einsame mag unter dem Eindruck der Krisen der Rückzug ins Private oder ins Virtuelle zur Norm werden, wenn auch einem Trugschluss folgend, da gerade durch den Rückzug die Macht des Öffentlichen bestätigt wird. Wir Muslime sind, solange wir uns noch zum Gebet versammeln und die Zakat bezahlen, vor der vollständigen Vereinzelung geschützt.

Die Lage, überhaupt die Not, die sich darin äußert, korrespondiert zweifellos mit der philosophischen Frage nach dem Wesen des Nihilismus, ist aber auch ohne eine Flucht in die geschlossene Welt der Parteiungen nicht per se hoffnungslos. Und: Wo viel Untergang ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Offenbarung und der in der Transzendenz wohnende Glaube an das Schicksal sind nicht nur zeitlose Inspiration, sondern zweifellos dem Menschen zugeeignete Rettungsanker.

Auch tröstet noch immer Ovid:
Nichts, was Gestalt hat, behält sie.
Aus Liebe zum ständigen Wandel
formt die Natur alles um.
Entwirft sie stets neu, zwar verändert –
doch in der Welt des Kosmos, glaubt mir,
geht nichts je verloren.