Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Die Folgen der Folgenlosigkeit

Foto: xtranews.net, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 2.0

„Während Löhne und Renten bestenfalls stagnieren, explodiert der Reichtum des deutschen Geldadels“, kommentierte Sarah Wagenknecht Anfang Oktober die Rangliste „Die 500 reichsten Deutschen 2013“ des Manager Magazins. Die Politikerin der LINKEN, die die Sache der Gerechtigkeit gerne auf ihre Fahne schreibt, war Anfang Oktober dieses Jahres wieder einmal ganz in ihrem Element: Wortgewaltig prangerte sie in ihren zahlreichen Interviews die bekannten sozialen Ungerechtigkeiten dieses Landes an.

Im Grunde läuft sich die derzeitige Vizefraktionschefin der LINKEN Bundestag für höhere Aufgaben warm. Die letzte Bundestagswahl hat nicht nur mit größter Wahrscheinlichkeit die große Koalition hervorgebracht, sondern der brillanten Rednerin Wagenknecht die künftige Rolle einer der wichtigsten Oppositionsführerinnen im Bundestag beschert. Aufmerksamkeit ist ihr also sicher, denn die 44-jährige sieht nicht nur blendend aus, sie kennt auch die Regeln der Mediendemokratie. „Die europäische Union gleicht der Titanic“, schrieb sie gewohnt plakativ in einem ihrer aktuellen Artikel über den drohenden Untergang Europas. Alles natürlich, so heißt es etwas simpel, geschehe dabei nur zugunsten einiger „Finanzhaie“.

Aber Sarah Wagenknecht beherrscht auch in diesem Herbst die leiseren Töne: Ende Oktober schrieb sie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen längeren lesenswerten Beitrag über Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichterfürst ist für Wagenknecht ein Visionär, der sogar die „Gefahren einer durchkommerzialisierten Gesellschaft vor Marx sah„. Ist „Goethe“ für Wagenknecht „also gar ein Vorläufer der deutschen Linken“?

Auslöser der Debatte um die politische Aktualität des wohl größten deutschen Dichters ist die neue Biographie von Rüdiger Safranski. Auf 650 Seiten erzählt der Philosoph über die wichtigsten Episoden im Leben des Meisters, seine Fähigkeiten, Abgründe, Höhepunkte und schafft so eine faszinierende Einführung in das einmalige „Kunstwerk des Lebens“. Goethes Forscherdrang hin zu den Phänomenen, die seltene Hochzeit von Geist und Politik in der Weimarer Zeit, sein unerschöpflicher Gestaltungswille, aber auch seine menschlich-allzumenschlichen Neigungen, Liebschaften und erotischen Abenteuer regen den Leser noch heute an. Und sei es auch nur, um festzustellen, dass so ein Leben heute eben nicht mehr möglich ist. Oder doch?

Auch Sarah Wagenknecht fühlt sich in dem Buch, das die Entwicklungsgeschichten menschlicher Größe in der deutschen Klassik aufzeigt, aber auch die zeitlosen Möglichkeiten von Verwandlung und geistiger Souveränität andeutet, jedenfalls ganz zu Hause. Sie lobt Safranski dafür, in Sachen Goethe nicht etwa der „Kleinmacherei“ verfallen zu sein, sondern die „Selbstbestimmtheit, Souveränität und Freiheit“ dieses Mannes in seiner Alltäglichkeit herausgearbeitet zu haben. Safranski habe, so Wagenknecht, ein ehrliche Biographie geschrieben, die sich Goethe verstehend nähert und es vermeidet, dem Dichter „mit der Brille des 20. oder 21. Jahrhunderts auf der Nase, rechthaberisch Kopfnoten zu erteilen.“

Man spürt, dass die Politikerin Wagenknecht den Tatmenschen Goethe bewundert. Gerade auch, weil er eben nicht – angesichts der menschlichen Not und Armut seiner Zeit – der Versuchung unterlegen ist, „einer zynisch-pessimistischen Weltsicht“ zu folgen.

Die Versuchung, möchte man hinzufügen, ist natürlich nach dem schrecklichen Irrweg der Ideologien in Deutschland heute nicht kleiner geworden. Tragisch wirkt bis heute eine Beschreibung Eckermanns über ein Gespräch mit Goethe nach . Man hatte in der Nähe von Weimar ein fröhliches Picknick arrangiert, das auf einer Wiese – ziemlich genau am Ort des späteren Konzentrationslager Buchenwald – stattfand.

Das Ur-Motiv aller künftigen Beschäftigung mit dem Werk Goethes ist den Deutschen wohl für immer vorgegeben, die Auseinandersetzung mit der gewaltigen Faust Dichtung. Natürlich geht auch Sarah Wagenkencht darauf ein. „In Goethes Werk steht Mephisto für den rein negativen und damit letztlich anti-humanen Skeptizismus“, schrieb Wagenknecht. Die Beihilfe Mephistos, als der Unternehmer Faust zum „Menschenschinder“ wird, beschäftigt dabei die Linke besonders. Vor allem im zweiten Teil der Faust-Dichtung finden sich übrigens zahlreiche weitere Anspielungen, die auf verblüffende Weise die drohenden Abgründe des technologischen Projektes vorwegnehmen.

Zweifellos lebte Goethe selbst an der Schnittstelle zwischen der Gestalt alter Traditionen und der beginnenden Modernisierung einer ganzen Epoche. Hier setzt auch Wagenknecht an, die in dem Verhältnis Goethes zur Ökonomie – von ihrem politischen Standpunkt aus gesehen, natürlich nicht ganz absichtslos – das eigentliche Erbe des Dichters wittert und Safranski vorwirft, hier die geschichtliche Dimension Goethes eher zu unterschätzen. Goethe sei zwar kein Technikgegner gewesen, so Wagenknecht, er habe aber die „drohende Zerstörung von Kultur, Zivilisation und Humanität in einer durch kommerzialisierten Gesellschaft bereits lange vor Marx mit mit verblüffender Klarheit vorgesehen“.

Wichtiger dabei als die Frage, ob Goethe in revolutionären Zeiten Demokrat war oder nicht, erweisen sich für das politische Denken Wagenknechts die Hinweise auf die Kernfrage, die schon Goethe damals durchaus bewusst ist: das Problem der Verhinderung zu großer wirtschaftlicher Macht. Tatsächlich wusste Goethe schon in Weimarer Zeiten um die Dynamik der neuen Techniken, den Drang zur Zentralisation, die Verdrängung aller Gründe außer den Materiellen. Treffend beschreibt Wagenknecht den Argwohn des Kunstmenschen Goethes angesichts einer Welt, die von der Ökonomie beherrscht wird und in der – wie Novalis dichtete – „nur noch Zahlen und Figuren die wahren Kreaturen sind“.

Bei aller Sympathie für die Belobigung der Charaktereigenschaften Goethes, die für Sarah Wagenknecht Goethe beinahe schon alleine „groß“ machen, darf man hier allerdings auch nicht den Denker Goethe aus den Augen verlieren. Tatsächlich gehen weder Safranski noch Wagenknecht auf die erstaunlichste technische Innovation, die sich vor den Augen Goethes abzeichnet, und ihn natürlich schwer beschäftigte, näher ein. Die wundersame Geldvermehrung durch die Einführung von Papiergeld beschrieb Goethe eindrücklich im Faust und sieht in ihr die revolutionäre Machtergreifung der „Zettelbanken“. In seinem Münzgutachten von 1794 erklärt er dann auch, dass sich echtes Geld durch seinen „innewohnenden Wert“ auszeichne. Mephistos Planwirtschaft, die die Welt ausbeutet und das Politische in sich integriert, würde ohne die Einführung einer magischen Methode – das heißt, dem Bankensystem – ja wohl auch kaum gelingen können.

Immerhin: Obwohl Nietzsche das Denken Goethes als einen – für die Deutschen – „Zwischenfall ohne Folgen“ definierte, beruft sich heute sogar der Chef der deutschen Bundesbank auf das diesbezügliche finanzpolitische Credo des Dichters. Mehr noch: „Goethe und das Geld“ war sogar 2012 Thema einer wichtigen Ausstellung inmitten des Finanzzentrum Frankfurt. Safranski mögen diese Zusammenhänge nicht wirklich interessieren, aber ist es ein Zufall, dass Sarah Wagenknecht das wichtige „Geldthema“ inmitten der aktuell wütenden Banken- und Eurokrise übersieht?

Es lässt sich trefflich streiten, ob Goethe heute noch als Vordenker für ein anderes politisches Verständnis gelten kann. Angesichts der Ohnmacht gegenüber den gewaltigen Umgestaltungen seiner Epoche blieb er immer mehr Dichter als Politiker und wohl schon deswegen auch zeitlebens den religiösen Fragen zugewandt. Will man das Politische, wie es ein Carl Schmitt zu tun pflegte, „als die eigene Frage als Gestalt“ definieren, dann gehören für das ganzheitliche Denken Goethes immer auch der aktive Austausch mit Dichtung und Offenbarung dazu. Sein Erkenntnisverfahren ist immer auf das gleichberechtigte Erfahren von Innerem und Äußeren gerichtet: „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt erkennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.“

Der heute oft zu beobachtende Rückzug ins rein Geistige oder ins Private wären für einen Goethe also keine Option gewesen. In den politischen Dingen blieb er dennoch Realist, eher ein, den konkreten, lokalen Fragen zugewandte Praktiker. Er war sich zeitlebens bewusst, dass die Macht des Einzelnen grundsätzlich begrenzt ist. Die großen politische Systeme, mit denen forsche Ideologen den künftigen Lauf der Dinge gestalten wollten, blieben ihm fremd. Der sich anbahnende Nationalismus war dem Freund der Weltliteratur sowieso ein Ärgernis. Safranski fasst in seiner Biographie diesen Aspekt seiner Überzeugungen so zusammen: „Wenn man sich allzu sehr mit einem politischen Ganzen identifiziert, gerät man in die Gefahr des Kollektivismus.“

Überliefert ist eine Teerunde, in der Hegel über das Wesen der Dialektik dozierte, der – so Hegel – als Widerspruchsgeist jedem Mensch innewohne und als Gabe „Wahres“ von „Falschem“ unterscheiden ließe. „Wenn nur“, wandte Goethe trocken ein, „solche geistigen Künste nicht häufig gemissbraucht und dazu verwendet werden würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!“ „Theorien“, schrieb Goethe an anderer Stelle spöttisch, „sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte“. So wirkt die tiefere Beschäftigung mit Goethe nach wie vor gegen die Anmaßungen, die jede, mit religiösem Eifer vorgetragenen Überzeugung – und sei es die Verlesung von Börsennachrichten – mit sich bringt.

Es ist zweifellos ein Phänomen und ein bleibender Verdienst Safranskis , dass die neue Biographie Goethes bereits in den Bestsellerlisten ganz oben steht. Das Vermächtnis des großen Mannes könnte – dies zeigt auch letztlich der Beitrag Wagenknechts – neue Debatten über die – je nach Sicht – Folgen oder Folgenlosigkeit des Wirkens dieses Genies anstiften. Gerade die Politik dürfte dabei von einer Auseinandersetzung mit Goethes Gestalt und Lebenswerk profitieren, denn sie muss sich und anderen erklären, wie sie mit der ungeheuren Integrationskraft der globalen Finanztechnik umzugehen gedenkt. Die Welt der Technik hat längst die alten Ideen von Religion, Kultur und Nation ad absurdum geführt.

Ein anderer großer Denker, Martin Heidegger, hatte angesichts der schwindenden Gestaltungskraft des politischen Menschen ja bekanntermaßen und eher pessimistisch ausgerufen: „Nur ein Gott kann uns retten.“