Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

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Deutschlandreise

Einer der Vorteile, wenn man eine Zeitung herausgibt, ist die wiederkehrende Notwendigkeit des Reisens. Über die Jahre hinweg sind inzwischen besonders Ausflüge willkommen, die das Fliegen meiden. Diese Woche kam die außergewöhnliche günstige Wetterlage hinzu. Der Italiener am Theaterplatz in Weimar serviert – wie gewohnt – seinen Cappuccino und grüßt, als wäre man noch immer Stammgast wie in den Zeiten, als das beste Eis am Platz nicht nur für die eigenen Kinder ein markanter Anziehungspunkt war. Giovanni mochte auch die muslimischen Kinder, die für ihn ganz natürlich ein Gewinn waren.

Die Frage nach der eigenen Identität lässt sich hier und jetzt leicht beantworten: Muslim, Goetheaner und Deutscher (…) wobei das letztere eher das Wunder der Sprache als die Bewunderung der Nation meint; also das Sprachvermögen und insbesondere den Zugang zu unserer großen Literatur umfasst. Zweifellos: Weimar ist ein Ort, an dem man als Reisender jederzeit zurückkehren könnte – ohne die unangenehme Art der Langeweile, die kleine Städte oft ausmacht.

Aber Stillstand geht nicht. Auf der Autobahn Richtung Süden fällt mir in Erfurt ein „Kreuz“ auf. Der Weg ins badische lässt sich nun abkürzen, indem man äußerst effizient die Fahrt über den Thüringer Wald abkürzt. Früher war der Weg über exotische Orte wie Ilmenau oder Suhl auch mit dem schnellsten Auto eine Odyssee. Jetzt geht es vierspurig über ehemals einsame Wälder hinweg. Brücken und Tunnel schlagen Schneisen und man schwankt wie bei jeder technischen Innovation, die den Eingriff in die Natur überdeutlich macht, zwischen Bewunderung und stiller Abscheu.

In Karlsruhe will ich in das badische Landesmuseum. Der Prachtbau des badischen Großherzogs ist inzwischen entkernt. Es mieft in dem Gebäude, sodass man noch draußen beinahe instinktiv tief Luft holt und sich dann einen Weg durch tausende Exponate bahnen muss. Die badische Landesgeschichte wird noch immer wie eine vergessene Episode im Stil der 1980er präsentiert. Die neueren Erkenntnisse der Museumspädagogik werden hier konsequent verneint. Ist es vielleicht gar ein Politikum, dass der Kern der badischen Geschichte, in dem Wirrwarr von Räumen und Vitrinen eher versinkt?

In den 1950er Jahren wurden die rebellischen Badener ja – in einer nach demokratischen Maßstäben eher fragwürdigen Volksabstimmung – in ein zentraleres Gebilde – Baden-Württemberg – übernommen. Dennoch: Die Geschichte lebt auch so. In einer der großen Glasvitrine wird ein „Warlord“ präsentiert, der „Türkenlouis“ (Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden, 1655-1707), der bei Wien gegen die Türken kämpfte. Eine Schulklasse steht davor, ein Lehrer erklärt sachlich die komplizierten Hintergründe. Ob es ein kollektives Gedächtnis gibt?

In Baden-Baden ist nichts mehr, wie es war. Der kleinste und beste Buchladen der Republik ist weg. Warum gibt es keinen Denkmalschutz für diese seltenen Einrichtungen, Staatsgeld oder Subventionen? Ich verstehe es nicht. Im Geschäft gibt es nun profanen Schmuck. Vermutlich für die betuchten Herren aus Moskau, die auf Dostojewskis Spuren nach den Gewinnen im Spielkasino ihre Damen beglücken wollen. Als ich einige Meter später auch noch in eine Ansammlung russischer Soldaten gerate, kocht es in mir: erst die Krim, jetzt mein Buchladen. Zum Glück merke ich noch rechtzeitig, dass es sich hier nur um eine Satire und Kunstperformance handelt.

Jetzt hilft zur Abkühlung von den Ärgernissen unserer Zeit nur noch die Lichtentaler Allee, die zu den schönsten Spaziergängen Deutschlands gehört. Hier hat sich auch Frieder Burda mit einem beachtlichen Museum ein Denkmal gesetzt. Als Kind habe ich hier Tennisbälle gesucht. Die Reichen, die hier am Wegesrand auf dem Tennisplatz spielten, waren wegen ein paar Pfennigen schon damals nicht über die Zäune gestiegen.

Es gibt zwei Gründe, Staufen im Breisgau zu besuchen. Zum einen die wunderschöne Altstadt, über die auf einem alten Weinberg die historische Faust-Burg thront. Zum anderen das Café Deckert mit einer Kuchentheke, die in Deutschland seinesgleichen sucht. Tragisch wirkt die Gefährdung der Altstadt, die, durch gewagte geothermische Bohrungen verursacht, sich hebt und senkt und in die altehrwürdigen Gebäude tiefe Risse gezogen hat. Sicher hätte auch den alten Goethe dieses Phänomen rund um die spektakuläre Gewinnung von Energie interessiert.

In meiner Schwarzwälder Heimatstadt gibt es seit einigen Jahren Gott sei Dank die Ulu Cami. Der freundliche Imam wartet heute, bis ich – der merkwürdige Fremde – seine Reisegebete verrichtet hat. Wir sprechen auch nach dem Nachmittagsgebet nicht, reichen uns aber einfach die Hand. Sitzen für einen Moment still. Ich habe hier Abitur gemacht und ich weiß, als sicheres Zeichen meiner Herkunft, eigentlich auch nur hier, wie jeder einzelne Berg und Hügel rund um die Stadt heißt. Der Imam entschließt sich spontan, zum Abschied, ein Dua für den Reisenden zu machen. Er hat Recht, ich bin hier nicht mehr wirklich zu Hause.

In Bonn treffe ich Dr. Murad Hofmann, den ich ab und zu besuche und als Mann schätze. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein deutscher Muslim, der einst aus dem diplomatischen Dienst für sein Land heraus eine höhere Mission gefunden hat. Wir sprechen bei Kaffee und Kuchen natürlich über unsere geliebte Lebenspraxis, die wir so gut es geht, zu verkörpern versuchen, aber auch über unser Wohlwollen für das Land, in dem wir leben, wenn auch unsere Reisen nach Mekka und Madina den Horizont jenseits der Grenzen längst auf das Ganze erweiterten. Uns schmerzt der Ruf der deutschen Muslime, der heute durch Extreme definiert wird und oft das kluge Gespräch behindert. Mit seinen 83 Jahren wirkt Murad, der Arabisch spricht und dreizehn Bücher geschrieben hat, auf mich jugendlich und altersmilde zugleich.

In Köln auf der LitCologne geht es auf das Kulturschiff. Roger Willemsen stellt in einer Lesung mit zwei weiteren Sprechern sein neues Buch, das „Hohe Haus“  vor. Für ein Jahr hat Willemsen den deutschen Bundestag beobachte und über 50.000 Seiten Protokolle studiert. „Das Öffentlichste ist das Geheimste zugleich“, sagt er. Dem Schriftsteller gelingt es an dem sonnigen Freitagnachmittag, mit einer intensiven Rede alle Altersklassen – Jugendliche, Studenten und Rentner – in den Bann zu ziehen.

Trotz der schönen Fahrt auf dem Rhein entlang der Kulturgüter einer der ältesten Städte Deutschlands schaut niemand aus dem Fenster. Es ist gute Unterhaltung, wenn Willemsen die menschlich-allzumenschlichen Seiten des Abgeordnetenlebens aufzeigt. Es ist tiefer Ernst, wenn er die charakterliche Disposition der politischen Klasse bei Schicksalsfragen wie Krieg, Tod und Armut demaskiert. Hier wirkt die Sprache als das Politische selbst, weil erst in der präzisen Benennung, die Situation, in der wir uns befinden, greifbar wird.

Da heißt es Pläne schmieden. Mit einem Freund bespreche ich noch in Köln die Idee, die Frage nach der Identität der deutschen Muslime – aber auch die Frage des Zusammenspiels mit unserem Land – auf eine andere Bühne zu bringen. Wo ginge dies besser als in Weimar? Vielleicht könnte man so die Sprachlosigkeit, die zwischen den Eliten unterschiedlicher Konfession herrscht, und die uns oft noch wie Fremde aneinander vorbei leben lässt, überwinden helfen. Hier wären dann auch die besten Sprachakrobaten und Schriftsteller im Sinne der gegenseitigen Bespiegelung wirklich nützlich.