Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

„Marteria“

Es wird den meisten Eltern junger Leute so gehen: Der alte Begriff «wir sind zu Hause» ist im Internetzeitalter irgendwie relativ geworden. Wenn wir in die Nähe von den Computern, Laptops oder Smartphones unserer Zöglinge geraten, herrscht schnell eine Art Ausnahmezustand. Nur ungern lassen sich unsere Jungen über die Schulter schauen oder gewähren «freiwillig» Einblicke in das, was sie in YouTube, WhatsApp oder Facebook in den Bann zieht.

Nur eines ist sicher: Immer seltener liegt ein aufgeschlagenes Buch neben Betten oder Schreibtischen. Stattdessen sind natürlich alle immer «online» und werden so Teil einer undurchdringlichen jugendlichen Parallelwelt. Schlimmer noch, will man als durchschnittlicher Oberlehrer argwöhnen, als Onlinenutzer sind wir nicht nur Objekte einer monotonen Überwachung, sondern auch ein gigantischer Bestand von Konsumenten, um den sich die diversen Industrien kümmern.

Allerdings mag es in vielen Chats, Foren oder Spielekonsolen um Banales und Oberflächliches gehen, aber es gibt durchaus auch eine neue, philosophisch inspirierte Sparte im Internet, eine Kunstzone, die offensichtlich auch junge Leute faszinieren kann. Zu den erfolgreichsten Darstellern neuer Medien gehören immerhin Sprachakrobaten, Blogger und Musiker, gerade auch mit deutschen Texten. Die Faszination von Sprache, sie wirkt also immer noch.

Natürlich mag man als Muslim über manchen dieser Beiträge die Nase rümpfen, sei es wegen der unorthodoxen Wortwahl oder flippigen Bildern in manchen Videosequenzen. Bevor die moralische Empörung in uns aufsteigt sei der Gedanke erlaubt, dass man auch selbst einmal jung (und noch kein Muslim) war. Und, wenn man die virtuelle Kunst einmal unvoreingenommen auf sich wirken lässt, dann  erinnert das präsentierte Lebensgefühl eigentlich nur an den ersten Teil der Schadada: «Es gibt keinen Gott.» Ansonsten herrscht der alte Kampf zwischen dem Gefühl der Langeweile und dem göttlichen Funken, der unsere Augen, Ohren und Seelen jederzeit und durch alles Mögliche erreichen kann.

Es liegt also an uns Muslimen, Jugendliche gerade dort abzuholen, wo sie eben sind. Hierzu gehört auch sich nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaften oder in einer weltfremden Theologie zu verschanzen, sondern eben zu schauen, was junge Leute anregt und nicht wegzusehen, wo sie offensichtlich Ihre Inspirationen holen.

Ein faszinierendes Beispiel ist die 21-jährige Julia Engelmann. Auf YouTube wurde ihr Auftritt «slamt» im Hörsaal einer deutsche Uni von der atemberaubenden Zahl von über 4 Millionen Menschen angeklickt. «Mein Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft mich auf», reimt die Psychlogiestudentin über ihre Empfindungen angesichts unserer «condition humaine». Ja, ihre Performance wirkt zunächst ein wenig nervös, sie wird dann aber von Wort zu Wort immer selbstsicherer. Die Sprache spricht!

Erstaunlich ist auch, dass im Saal, der auf unverbindliche Unterhaltung eingestellt ist, schnell beinahe ehrfürchtige Stille herrscht, auch, wenn es im Redebeitrag der Studentin eigentlich «nur» um die «Baseline ihres Alltages» dreht. Der eigene Ruhm ist der Sprachkünstlerin übrigens bisher eher umheimlich, lehnt sie doch alle Anfragen nach Interviews tapfer ab. Zu diesen gelungenen 10 Minuten kann man eben nicht so einfach etwas hinzufügen.

Unabhängig davon, ob man nun den Vortrag als «Gelaber» oder «Dichtung» qualifizieren will, er dreht sich gewiss und das mit einigem Erfolg um das Grundgefühl einer Generation; irgendwo zwischen Langeweile, Party und Leistungsdruck, aber jedenfalls nicht taub gegenüber den zeitlosen Grundfragen der Existenz. Nicht zufällig haben den größten Erfolg die Künstler, die das Lebensgefühl der Generation treffen. Vielleicht oder gerade auch, weil sie die ganz großen Antworten erst einmal außen vor lassen. Aber die Fragen, immerhin, sie werden gestellt.

Die Linien zwischen den ideellen und kommerziell motivierten Beiträgen sind im Internet natürlich fließend. Ein anderes Beispiel für eine junge Kunstform, die aktuell Millionen Jugendlicher bewegt, ist die Musik des Rostockers Marten Laciny, der unter dem Namen «Marteria» für Furore sorgt. Der Mann war mir völlig unbekannt. Ich entdecke ihn und seine Geschichte zufällig in der Lokalzeitung.

Spätestens mit dem Ohrwurm «Lila Wolken», so lese ich, wurde der 31-jährige einem breiteren Publikum bekannt. Aha. Der Musiker verzichtet dabei wohl – so wirkt das zumindest auf mich – auf die eher dumpfe Egozentrik eines Bushido, der sich angestrengt um sich selbst dreht, er meidet auch – und das ist mir sympathisch – den verbreiteten Gossenslang. Er, so klingt das auch im Interview an, schafft vielmehr einen eigenen, beinahe nachdenklichen Ton.

Also setze ich den Kopfhörer auf und beschließe einfach mal reinhören, was der böse Bube da so treibt. In Songs wie «Kids» (8 Millionen Klicks!) nimmt der Rapper die politische Korrektheit überhaupt und – wie Martin Heidegger sagen würde – das allgegenwärtige «man» auf die Schippe. «Man wird heute nicht mehr Gangster, sondern Zahnarzt, man fährt nach Schweden, nicht mehr nach Malle», heißt es in den brillanten Punchlines seines Songs.

Ich kann verstehen, warum «Marteria» den Puls einer Generation trifft, die zu Recht versucht eigene, statt immer mehr vorab definierte Werte zu leben. Langeweile – nach der Philosophie das Grundgefühl des Nihilismus – ist überhaupt ein wichtiges Thema in vielen seiner Titel. Die Einsicht, dass die Zeit in den Fingern zerrinnt, das Materielle wenig Halt bietet, bleibt seit den alten Griechen ein zeitloses Thema. Nur die Übersetzungen ändern sich.  In «Sekundenschlaf» (das Video hat der Musiker in Bangkok aufgenommen) geht es dann auch ganz einfach um die Urfragen der Existenz: die Relativität von Zeit und den Sinn des «Seins zum Tode».

Der Star hat aber durchaus auch Interesse an politischen Fragen. Das Lied «bengalische Tiger» wurde konkret von einem Erlebnis in Uganda inspiriert, als der populäre Musiker Deutschunterricht in einer Schule gab und vor dem Gebäude die Polizei plötzlich brutal gegen demonstrierende Studenten vorging. Im Interview nennt er seine Aussichten auf das Politische , die er auf einer Weltreise gesammelt hat, so vage wie treffend «das Gefühl, dass es überall zu brennen beginnt».

Der Erfolg dieser Interpreten zeigt mir, dass auch im Netz die existentiellen Fragen zwischen Leben und Tod durch diese Künstler nicht etwa vergessen oder verdrängt werden, sondern einfach nur neuartig benannt sind. Junge Leute erkennen sich heute in diesen Fragen und Erfahrungen wieder, wenn auch, ohne die ganz großen politischen oder religiösen Antworten formulieren zu können. Ihre Stars wissen das.

Was wissen wir? Die Herausforderung dürfte sein, die Fragen, die in der Musik oder in den Slams anklingen herauszufiltern und in unserer Sprache Antworten zu geben. Als Mahnung könnte man auch vernehmen, dass eine an sich lebendige Lebenspraxis, die aber immer mehr Religion wird, versteinert, oder sonst wie zur Theorie verkümmert, junge Leute mit ihren alkoholfreien Erwartungen an «Spaß, Freude und Abenteuer» geradezu verlieren muss.

Wer sich übrigens um den Musikgeschmack seiner Kinder sorgt ein kleiner Tip. Als ich meiner Tochter vorschlage zum nächsten «Marteria»-Konzert zu gehen, hat sie ganz schnell das Interesse am Thema verloren. Sie wird sich also weiterentwickeln. Marteria? War gestern!