Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

„Nicht überraschend“

Frage: Sehr geehrter Herr Rieger, wie erleben Sie die epochale Finanzkrise?

Abu Bakr Rieger: Zunächst muss man sagen, die Finanzkrise ist und war für mich als Muslim überhaupt keine Überraschung. Sie ist nicht etwa nur der Gier einiger Manager geschuldet, sondern sie ist vielmehr eine Systemkrise. Unser ökonomisches Modell basiert heute auf der “wundersamen Geldvermehrung”. Das heißt, wir produzieren Geldberge, die durch keinen Gegenwert mehr gedeckt sind und wir schaffen gleichzeitig national und global eine unglaubliche – systematisch wachsende – Verschuldung. Jeder, der ein wenig Ahnung von Zins und Mathematik hat, kann sich ausrechnen, dass dieses System “Contra naturum” [„gegen die Natur“] nicht funktionieren kann.

Frage: Was heißt dies für unsere politische Situation?

Abu Bakr Rieger: Wir stehen nach dem lautlosen “Coup de Banque” [„Staatsstreich der Banken“] der letzten Jahrzehnte und einer Machtverschiebung von der politischen zur ökonomischen Ebene vor einer Grundsatzfrage. Hat die Politik überhaupt noch die Macht, die entfesselte Finanztechnik zu begrenzen und die Kraft, eine Reform einzuleiten? Können nationale Parlamente überhaupt die Macht des global vernetzten Kapitals beschränken? Viele Anzeichen lassen uns daran zweifeln. Beobachten wir beispielsweise das Geschehen an der Mutter aller Börsen, der Wall Street, dann müssen wir uns fragen: Wer regiert eigentlich wen? Die Banken das Volk oder das Volk die Banken?

Frage: Inwieweit ist das moderne Bankenwesen ein moralisches Problem?

Abu Bakr Rieger: Es ist insoweit ein moralisches Problem, weil es unsere moralische Standards zerrüttet hat. „Die Schurkenwirtschaft“, wie es die italienische Schriftstellerin Napoleoni nennt, hat mit ihren mafiosen Strukturen – von der Prostitution über den Drogenhandel bis zu Internetkasinos – unsere Gesellschaften in Europa unterwandert. Das globale Elend und der millionenfache Tod, den unsere Verschuldungsmechanismen mit verursachen, werden heute achselzuckend toleriert. Auf der anderen Seite genügen moralische Beurteilungen alleine nicht, um das Phänomen vollständig zu verstehen. Philosophisch erleben wir in unserer Zeit die Zusammenkunft von Technik und Kapital, die Finanztechnik. Diese neue globale Struktur, die uns strukturell beherrscht, stellt auf Dauer nichts anderes als die menschliche Souveränität in Frage. Die Technik, so formulierte es der Philosoph Martin Heidegger, reduziert dabei die Menschen zu Beständen von Arbeitskräften und Konsumenten. Ihr Lebenssinn wird die Arbeit, anstatt – wie wir Muslime glauben – die Preisung des Schöpfers und seiner Schöpfung. Die Möglichkeit, heute nahezu grenzenlos Kapital zu sammeln und zu vermehren, führt den Planeten an den ökologischen Abgrund.

Frage: Inwieweit spielt der Islam in dieser Situation eine Rolle?

Abu Bakr Rieger: Zunächst muss man feststellen, dass es im Qur'an, im islamischen Recht und in der Lebensweise des Propheten zahllose Bezüge zur Ökonomie gibt. Unser Prophet etablierte in Madinah, eine Moschee UND einen Markt und wies so den Weg in spirituellen und materiellen Dingen. Händler, Geschäftsleute und ihre Interessen hatten für Muslime immer eine ungeheure Bedeutung. Die Freiheit der Märkte und der Handelswege, die Abschaffung illegitimer Steuern ist ein urislamisches Wirtschaftsprogramm. Der Islam erlaubt – nach Abzug der Zakatpflicht – selbstverständlich das Recht auf Eigentum, lehnt aber die endlose Kapitalvermehrung ab. Ich sehe im Islam heute nichts anderes als einen Mittelweg, zwischen den großen, rein materialistischen Lehren – Kommunismus und Kapitalismus.

Frage: Was macht also die aktuelle Brisanz des Islam aus?

Abu Bakr Rieger: Ich denke nach dem Unsinn des Terrorismus und dem schrecklichen Zynismus der Selbstmordattenate, die uns Muslime zurückgeworfen haben, entdeckt Europa gerade eine andere, dieses Mal aber faszinierende Dimension des Islam. “Allah hat den Handel erlaubt und den Zins verboten”, diese qur'anische Offenbarung klärt im Grunde unsere ganze praktische und rationale Haltung zur Finanzkrise. Sie sehen die Umkehrung? Hinter dem Limes, der Europa heute umgibt, ist die Zinsnahme erlaubt worden, der Handel dagegen verkommt zur monopolisierten Distribution! Nachdem Europa stolz auf die Aufklärung war, müssen wir Muslime heute fragen: “Gut, aber warum gab es keine Aufklärung im ökonomischen Bereich?”

Frage: Wir erleben nun, vor allem in Westeuropa, dass Staaten – bis hin zur Selbstauflösung – die Banken finanziell stützen. Warum?

Abu Bakr Rieger: Die Banken sind natürlich systemrelevant, sie sind das System selbst. Es besteht eine so große systematische Abhängigkeit von ihnen, sodass die Forderung nach der Rettung der Banken an die Politik – koste es was es wolle – wie bei einer Erpressung erfüllt werden musste. Nur mit dem System der Banken und ihrer übergeordneten Notenbanken, ist es möglich, immer mehr und immer neues Geld aus dem Nichts zu schaffen. Die Öffentlichkeit war dabei schockiert, wie wenig Eigenkapital Banken eigentlich besitzen. Jede Bank verleiht mehrere hundert Male mehr, als sie an Kapital selbst hat. Dieser Grundvorgang in der westlichen Ökonomie hat den schuldenbasierten Wohlstand für die Massen und den globalen Expansionsdrang des Westens überhaupt erst möglich gemacht. Es ist wie bei einem Pyramidenspiel; es muss einfach zwanghaft wachsen, um als System zu überleben. Wir beobachten nun in Stufen – ob wir politisch wolllen oder nicht – die Selbstauflösung des Systems. Dem vernünftig denkenden Mensch ist dabei klar: Es gibt in der Natur kein endloses Wachstum.

Frage: Wie sehen sie die Rolle der islamischen Bank?

Abu Bakr Rieger: Ich bin generell ein Freund von ethisch oder muslimisch denkenden Wirtschaftsunternehmungen. Die Frage ist aber dennoch legitim, ob eine Bank überhaupt “islamisch” sein kann oder ob dies ein ähnliches Paradox ist wie ein “islamischer Whisky”. Fakt ist, alle Banken sind Teil eines inflationären Papiergeldsystems, ob sie wollen oder nicht. Konkret sind islamische Banken bekannterweise in der Kritik, weil einige ihre Finanzierungstechniken zur Umgehung von Riba, höchst fragwürdig sind. Das wäre ein Thema für sich. Es ist auch sehr wichtig, die islamische Ökonomie nicht nur auf die Frage nach islamischen Banken zu reduzieren. Wir Muslime haben mehr zu bieten, als pseudo-islamisierte Kopien, wir haben unsere eigenen Finanzierungsmodelle, wie besipielsweise der Qirad-Vertrag und wir besitzen eine eigene Philosophie über die Freiheit des Marktes und die Echtheit des Geldes, dass wir dort ausgeben.

Frage: Was für eine Rolle spielt Geld im Islam?

Abu Bakr Rieger: Die westliche Welt zwingt uns praktisch zur Nutzung bestimmter Währungen. Imam Malik formulierte dagegen, dass Geld jedes öffentlich anerkanntes Zahlungsmittel ist. Das heißt, der Islam propagiert grundsätzlich die völlige Freiheit in der Wahl der Zahlungsmittel. Bei der Zahlung der Zakat gibt es eine wichtige Einschränkung: Die Zakat kann nicht mit einem Zahlungsversprechen (Dain), also beispielsweise Papiergeld, bezahlt werden. Seit einigen Jahrzehnten haben auch deswegen führende muslimische Köpfe, wie beispielsweise der ehemalige malaysische Präsident Dr. Mahathir, die Einführung einer islamischen Währung gefordert. Mahathir hatte in der Finanzkrise Asiens, in den 1990er Jahren erkannt, dass der Dollar dass eigentliche, lautlose Angriffsinstrument der USA ist. Mahathir wurde zum Feind spekulativer Währungsmodelle und ihrer fatalen Auswirkungen und warnte auch – als erster Politiker auf der Welt – vor dem bevorstehenden Kollaps des Währungssystems. Eine islamische Währung müsste, um bei der Zakatzahlung und Handelsgeschäften akzeptiert zu werden, zu 100 Prozent durch Gold gedeckt sein. Der islamische Dinar wird heute in Malaysia, neben der Landeswährung, von allen Bevölkerungs- und Religionsgruppen im Lande benutzt.

Frage: Wie sehen sie die Lage Bosniens und des Balkans in der Krise?

Abu Bakr Rieger: Als ich vor einigen Jahren den mittlerweile verstorbenen Präsidenten Itztebegovic traf, fragte ich ihn nach seiner Motivation in die Politik zu gehen. Er antwortete, dies sei nie wirklich von ihm gewollt gewesen. Er sei vielmehr von der ökonomischen Antwort des Islam auf den Kommunismus fasziniert gewesen. Dies habe ihn motiviert. Heute stellt sich insbesondere auf dem Balkan die Frage, ob der Islam auch eine Antwort auf den entfesselten Kapitalismus hat. Nach den Jahren der Schurkenwirtschaft und des allgemeinen Ausverkaufs in Südosteuropa suchen die Menschen nicht etwa nach einer neuen Ideologie, wohl aber nach einem Maß und einem Sinn für ihr Leben. Vielleicht suchen wir auch alle nach einer neuen Definition von Reichtum und Armut. Ich denke die Frage nach der Bedeutung der islamischen Lebenspraxis und seinene Traditionen stellt sich heute und gerade auch aus der ökonomischen Perspektive heraus, wieder neu.

Interview für das bosnische Magazin „Global“ (Sarajevo)