Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

„Out of Balance?“ – Der Islam in Europa, der Beitrag der europäischen Muslime

Foto: IZ Medien

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Muslime,

ich nehme an, Sie stehen wie ich noch unter dem Eindruck der furchtbaren Attentate in Paris. Wir sind als Europäer – im wahrsten Sinne des Wortes – erneut vom Terror betroffen und als europäische Muslime – leider – durch diverse Assoziationsketten arg in die Defensive geraten. Dabei ist es völlig klar, dass nur eine verschwindende Minderheit der in Europa lebenden Muslime eine Sympathie für die Mörder hegt. Gleichzeitig ist es für uns Muslime – aber auch für Europa an sich – wichtig, die „condition humaine“ der europäischen Muslime, die Chancen und Gefahren unserer Lage, gut zu verstehen.

Ich möchte gerne heute Abend die These aufstellen, wonach die Muslime aus verschiedenen Gründen aus dem Gleichgewicht geraten sind. Gleichzeitig möchte Ich Ihnen den Umkehrschluss anbieten, wonach es genau der Beitrag der Europäischen Muslime ist, nicht nur diese Balance zu fördern, sondern sie auch einzufordern.

Natürlich ist ihr geistiges Beitrag, wie wir sehen werden, mit der Geschichte, Philosophie und Politik Europas eng verbunden. Bitte verstehen Sie insoweit diesen Vortrag als Beitrag zu einer Debatte, die sich um das Verhältnis der Muslime zur Moderne – von den Ideologien bis hin zu den neuen Techniken der Macht – dreht.

Wir Muslime erleben heute viele Gegensatzpaare, die unsere innere und äußere Einheit gefährden:

Lokal-global
Rational-irrational
Fundamentalismus-Esoterik
Privat-öffentlich

Besonders den Gegensatz „Tradition-Moderne“ halte ich für recht fatal, weil wir den Islam heute nicht wirklich ohne seine jahrhundertelange Geschichte verstehen können. Es kann also nur heißen: mit der Tradition in die Moderne. Jahrhundertelang waren es die anerkannten Rechtsschulen, die mit den Muslimen einen sinnvollen Einklang zwischen Offenbarung und Zeit hergestellt haben. Dabei war der innerislamische Diskurs durchaus auf Pluralität angelegt. Überhaupt sind die jeweilige Zeit und der jeweilige Ort für das islamische Selbstverständnis wichtig.

Ich darf in diesem Kontext an das Bonmot Navid Kermani’s erinnern, der in seiner Friedenpreisrede an Folgendes erinnerte: „Vielleicht hätten wir weniger auf den Islam unserer Großdenker als auf den Islam unserer Großmütter hören sollen.“

Lassen Sie mich also zunächst ein paar Aspekte vorstellen, die belegen sollen, dass wir als Muslime aus dem Geleichgewicht geraten sein könnten. Vielleicht kann ich so zumindest eine interessante Diskussion nach dem Vortrag anstoßen.

1. Out of Balance ?
a) Was ist der Islam?

Es liegt nahe, am Ausgangspunkt meiner Überlegungen, sich zunächst einmal die Frage zu stellen, was der Islam überhaupt sei? Was liegt näher, als sich hierbei auf unseren Propheten zu berufen:

Der Gefährte des Propheten (sas), Umar, Gottes Wohlgefallen auf ihm, berichtete: „Eines Tages, während wir bei Gottes Gesandtem, Segen und Frieden Gottes auf ihm, saßen, erschien ein Mann vor uns, mit sehr weißen Gewändern und sehr schwarzem Haar. An ihm war keine Spur der Reise zu sehen, und von uns kannte ihn keiner. Schließlich setzte er sich zum Propheten, Segen und Frieden Gottes auf ihm, lehnte seine Knie gegen dessen Knie, legte seine Handflächen auf dessen Oberschenkel und sagte: ‚Oh Muhammad, unterrichte mich über den Islam.’

Da sagte Gottes Gesandter, Segen und Frieden Gottes auf ihm: ‚Islam ist, dass du bezeugst, dass es keine Gottheit gibt außer Gott, und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist, dass du das Gebet verrichtest, die Armenabgabe (Zakat) gibst, im Ramadan fastest und zum Hause pilgerst, wenn es dir möglich ist.’ Er sagte: ‚Du hast recht gesprochen’, und wir waren erstaunt, das er (der Mann) ihn fragte und sagte er spräche recht.

Der Engel fragte: ‚Erzähle mir vom Iman.’ Der Prophet sagte: ‚Du sollst an Gott glauben, an Seine Engel, Seine Bücher, Seine Propheten, und an den Letzten Tag, und an die Göttliche Vorsehung (Qadr), sei sie nun gut oder schlecht.’ Er sagte: ‚Du hast recht gesprochen.’

Er sagte: ‚Erzähl mir von Ihsan.’ Er sagte: ‚Es ist solch ein Zustand, als ob du Gott sähest, und wenn du Ihn auch nicht siehst, so sieht Er doch dich.’

Er sagte: ‚Erzähle mir von der Stunde.’ Er sagte: ‚Der Befragte weiß es nicht besser als der Fragende.’

Er sagte: ‚Erzähle mir von ihren Zeichen.’ Er sagte: ‚Die Sklavin wird ihre Herrin zur Welt bringen, und du wirst die Barfüßigen, nackten, mittellosen, Hirten konkurrierend (arbeitend, wetteifernd) in hochragende, im Bau befindlichen, Gebäuden sehen.’

Dann ging er fort und ich blieb für eine Weile. Dann sagte er: ‚Oh Umar, weißt du, wer der Fragende war?’ Ich sagte: ‚Allah und Sein Gesandter wissen es am besten.’ Er sagte: ‚Es war Gabriel, er kam zu dir, um dir deine Religion zu lehren.’“

Wir stellen hier zunächst fest, dass es für ein genaueres Verständnis von Islam, Iman und Ihsan gleich mehrere Wissenschaften nötig sind: die Wissenschaften des Rechts, der Theologie und des Verhaltens. Der Islam ist ein Meer des Wissens. Die islamische Lebenspraxis ist dabei eine Aktivität, die die Einheit von Handeln und Wissen voraussetzt. Man muss praktizieren, seinen Glauben erneuen und korrektes Verhalten immer wieder neu einüben.

Unser Prophet etablierte aber nicht nur den Islam. Er kam, um „guten Charakter zu verbessern“. Wenn wir also insoweit an den Lebenswandel der Attentäter von Paris denken, wird das grobe Ungleichgewicht von Wissen und Handeln deutlich – und natürlich auch der Mangel an Charakter. Aber wir werden auch sehen, dass die Frage nach der Balance durchaus auch uns Muslime herausfordern kann, die wir uns in der Mitte der Gesellschaft wähnen.

b) Prioritäten
Gerade wenn wir uns über Prioritäten im Islam Gedanken machen, erinnere ich mich gerne an die Aussage eines islamischen Gelehrten, der mir als einfache Grundregel Folgendes mit auf den Weg gab: „Was früher wichtig war, ist heute unwichtig, was unwichtig war wichtig.“

Tatsächlich ist ein Zeichen des mangelnden Gleichgewichts, wenn sich unsere Prioritäten offensichtlich verschieben. Die Frage, ob man Kopftuch oder Bart trägt, scheint mir – um nur ein Beispiel zu nennen – weniger wichtig als die Frage, ob wir die Zakat korrekt bezahlen. Fragen wir überhaupt noch nach dieser Säule des Islam?

Natürlich ist unser Gleichgewicht nicht nur dadurch gefährdet, dass wir bestimmte Prioritäten setzen oder nicht, sondern auch durch die Rahmenbedingungen, in denen wir Muslime in der Moderne nun einmal leben.

Was ich hier heute oft als ein Verhaltensmuster beobachte, möchte ich mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) namens „Der Panther (Im Jardin des Plantes, Paris)“
einführen. Es gilt als übrigens als eine brillante Beschreibung der Depression:

„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.“

Woran erinnert uns das? Viele Muslime leben heute vereinzelt und im Rückzug. Die positive Wahrnehmung der äußeren Welt – gerade wenn sie aus einer dem Islam nicht unbedingt wohlgesonnenen Mehrheitsgesellschaft besteht – spielt hier eine Rolle. Da Muslime kaum Raum für islamisches Handeln haben, kommt es wie beim „Panther im Zoo“ zur rituellen Überbetonung bestimmter Elemente des Dins. Man kann sagen, die gesamte religiöse Energie fließt dann sozusagen nur in eine bestimmte Handlungsweise. Oft genug ist dabei eine übertriebene Frömmigkeit im Kontext einer negativen Ideologie die Folge. Natürlich kann man den Islam weder orthodox, noch sinnvoll praktizieren, wenn man sich passiv in eine 3-Zimmer-Wohnung zurückzieht.

c) Rahmenbedingungen
Natürlich haben sich die Rahmenbedingungen für Muslime – gerade in den Metropolen des Westens – enorm verändert. Wir haben den spirituellen Mittelpunkt notgedrungen in unser Selbst verlegt, vermissen die auf ein Gleichgewicht angelegte Infrastruktur des islamischen Lebens. Ich habe bei meinem Vortrag in Basel darauf hingewiesen, wonach das muslimische Leben eigentlich aus dem Zusammenspiel von ökonomischen, sozialen und politischen Elementen besteht.

In der islamischen Stadt zeigt sich dieser ganzheitliche Ansatz im Zusammenspiel von Moschee, Markt und Stiftung.

Der politische Islam gefährdet diese Balance, weil in seinem Machtdenken alle Einrichtungen, das Denken sowie die Verhaltensweise „von oben nach unten“ politisiert werden. Ihm ging es in den letzten hundert Jahren nicht mehr um die Stiftung des lokalen Modells, sondern um die Eroberung des Staates. Unter dem Eindruck der neuen Machttechniken – sei es der Staat oder die Bank – ging es darum, diese Organisationsformen einfach global zu „islamisieren“.

d) Ort und Ordnung
Mit Sorge beobachte ich heute das Phänomen moderner Internet-Existenzen. Es geht mit drei Krisen einher, die ich als die Krise des Wissens, der Lehre(r) und der Erkenntnis bezeichnen möchte. Natürlich waren die Muslime de facto immer globalisiert – man denke nur an die Hadsch oder an die Praktiken des weltweiten Handels. Auf diesen Wegen hat man nicht nur von anderen Schicksalen erfahren, sondern auch das Wissen anderer Gelehrter empfangen und ausgetauscht.

Das Internet globalisiert uns Muslime – wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Wir sind in der virtuellen Welt gewissermaßen überall und nirgends zuhause. Das ist nicht nur schlecht, es verbirgt aber einige Abgründe. Eine Gefahr ist zum Beispiel das Phänomen „Schaikh Google“. Ein virtuell sich anbietende Gelehrsamkeit, die scheinbar alles weiß und aktiv belehrt – jeden und unabhängig vom jeweiligen Aggregatzustand. Wer „aggressiv“ ist, findet so „aggressive Lehrer“; aber eben kein Lehrer, der vor Ort mit Weisheit eine Aggression mit Milde beantwortet.

Zu diesem Thema habe ich – natürlich auf Facebook – vor einigen Wochen ausgeführt: „In der Philosophie findet sich die Definition, dass der Nihilismus, die Trennung von ‚Ordnung und Ortung’ sei. Giorgio Agamben hat das berühmte Beispiel von Guantanamo als ‚Ort ohne Ordnung’ geprägt. Es liegt nahe, das Internet wiederum als ‚Ordnung ohne Ort’ zu bestimmen. Hier geht es wie bei allen Fragen nach der Technik nicht um eine moralische Bewertung oder gar die weltfremde Illusion, die Technik sei eines Tages abzuschaffen.“

Vielmehr müssen wir uns der Frage stellen, ob das Leben mit dem Internet eine ortungslose Existenz begünstigt und was das für uns als Muslime bedeutet. Interessiert uns noch, an welchem Ort wir leben und ob eine Ordnung besteht? Kümmern wir uns ausreichend um unsere gesellschaftlichen Verhältnisse oder auch den Umstand, ob in unserer Moschee um die Ecke die Zakat verteilt wird oder nicht?

Das ortungslose Leben ist ein globales Leben. Soweit es die Erkenntnis betrifft, setzt es soziale Medien und Fernsehen voraus. Soweit es Empathie betrifft, erfordert sie als Idee eine globalisierte Verteilung der Anteilnahme. Wir ahnen die Wirkungen, wenn wir die Jugendliche im Clubraum beobachten, die die neuesten Meldungen aus Gaza, Beirut oder Damaskus einzuordnen versuchen. Verlassen sie das Gleichgewicht von Ort und Ordnung, verbindet sie das Wissen nicht mehr mit der Sorge um ihre eigene Heimat. So könnte es vielmehr für sie wirken, als seien sie Teil eines globalen Bürgerkrieges geworden. So wie die Drohnen eine „Ordnung ohne Ort“ symbolisieren, so könnte das ortungslos gewordene Leben des Muslim im Extremfall bedeuten, an jedem beliebigen Ort für die Idee einer globalen Ordnung kämpfen zu wollen.

Es ist klar, dass wir auch über die globalen Verhältnisse informiert sein wollen. Wir folgen einem globalen Ritus, dessen Kern – man denke nur an die Pilgerreise – auch die persönliche Begegnung über nationalen Grenzen hinweg beinhaltet. Nur müssen wir innehalten, wenn wir den Ort, den Allah uns als den unsrigen zugewiesen hat, geistig auflösen, entwerten – zugunsten der so diffusen wie beliebigen Idee einer virtuellen Verortung.

Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Zakat: die Moschee, der Marktplatz, der Nachbar gehören definitiv zur Balance der islamischen Lebenswirklichkeit. Nur so können wir die Einheit von Ordnung und Ortung wahren.

2. Wer wir sind?
Nach der Reflexion über Gefahren, die unser inneres und äußeres Gleichgewicht bedrohen, möchte ich uns zunächst die beeindruckende soziale Wirklichkeit der europäischen Muslime vergegenwärtigen.

Bis zu 60 Millionen Muslime in Europa bilden keine Nation, aber verkörpern eine starke Präsenz. Diese beachtliche Zahl bildet sich aus den originär europäischen Muslime (Balkan, Andalusien, usw.), den europäisch Sprachen sprechenden Muslime, die hier geboren sind und den Europäern, die den Islam angenommen haben.

Wir alle sind gemeinsam insoweit echte Europäer und leben den europäischen Gedanken, da wir uns solidarisch über alle Blöcke, alle nationalen Grenzen hinweg, vernetzen und solidarisieren. Das ist in Zeiten, in denen Europa in Teilen wieder nationalistisch denkt, selten geworden. Man denke an Pegida. Wir sind so Botschafter Europas.

Wenn wir diesen Islam in Europa aber tiefer verstehen wollen, müssen wir auch Reisende sein.

Rainer Maria Rilke hat gesagt, man müsse einmal einen Sonnenuntergang auf der italienischen Insel Capri erlebt haben, um die Schönheit „Europas“ zu verstehen. Wollen wir in diesem Sinne den Islam in Europa verstehen, müssen wir Städte wie Sarajevo, Granada oder Prishtina besuchen. Wir werden spätestens dann begreifen, dass der Islam Teil Europas war – und ist. Mehr noch: Wir werden bezeugen, dass die Muslime selbst keiner bestimmten Kultur zugeordnet sind.

Die Idee einer globalen, einheitlichen kulturellen Identität der Muslime ist tatsächlich „aus dem Lot geraten“.

Der US-Amerikaner Dr. Umar Faruq Abd-Allah schrieb hierzu treffend in der Islamischen Zeitung: „Jahrhundertelang brachten islamische Zivilisationen indigene Ausdrucksweisen lokaler Kulturen in Einklang mit den universellen Normen des religiösen Gesetzes. Sie fanden eine Balance zwischen vergänglicher Schönheit und zeitloser Wahrheit. Die islamische Rechtswissenschaft half, diese schöp­ferische Brillanz voranzubringen. In der Geschichte zeigte sich der Islam stets kulturfreundlich und wurde in dieser Hinsicht mit einem kristallklaren Fluss verglichen: Seine Gewässer sind rein, süß und lebensspendend, jedoch selbst farblos, reflektieren sie das Flussbett – die heimische Kultur – über das sie fließen.“

Es geht übrigens, wenn wir hier die Bedeutung der europäischen Muslime ansprechen, nicht um einen „europäischen Islam“. Die fünf Säulen des Islam kann man nur korrekt praktizieren; nicht etwa „liberal“ oder „konservativ“. Nein. Wir europäischen Muslime praktizieren und praktizierten im Rahmen der Ahl As-Sunna wa’l-Dschama’at korrekt! Das ist unser Anspruch. Über Jahrhunderte war ja auch die islamische Lehre in Europa anwesend. Es gibt Zeichen, dass dies bald wieder so sein wird.

3. Was ist unser geistiger Kontext?
Unsere Realität als Muslime in Europa kann nicht von den geschichtlichen, philosophischen und politischen Erfahrungen Europas getrennt werden.

a) Geschichte
Ich hatte bereits erwähnt, dass der Islam Teil Europas war und ist. Besonders bewusst wurde mir dies ein weiteres Mal auf einem offiziellen Besuch in diesem Sommer in Bulgarien. In der bulgarischen Stadt Schumen – auch geprägt durch mehrere Jahrhunderte islamische Geschichte, wurde mir dies sehr deutlich. Studiert man den Stadtplan der Stadt, sieht man die Spuren des Modells friedlicher Koexistenz verschiedener Religionen und die Daseinsberechtigung ihrer jeweiligen Infrastruktur. Diese Modelle des kulturellen und religiösen Miteinanders findet sich in vielen islamischen Städten Europas.

Diese authentischen Orte des Islam sind vor allem durch moderne Techniken und Ideologien unter einen enormen Veränderungsdruck geraten. Um dies tiefer zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit der europäischen Philosophie, ihrer Begrifflichkeit und Konzeption unverzichtbar.

b) Europäische Philosophie – was ist Technik?
Im Zentrum unseres Interesses sollte die Frage nach der Technik stehen, die gerade in Europa heute zu einer Technikkritik, oder sagen wir besser, zu einem Bewusstsein über das Wesen der Technik führt. Wir können unser Schicksal, überhaupt die Moderne, heute nur nachvollziehen, wenn wir über die Frage der Technik nachdenken. Weil dieses Denken in Europa und seiner Philosophie ihren Ursprung hat, geschieht dies wohl in Europa mehr als in der restlichen Welt.

Es geht darum, weder die Technik zu vergöttern noch zu verdammen, sondern den Einfluss der modernen Welt auf unser Denken als Muslime zu verstehen. Wir begegnen hier letztlich der Frage nach der Macht. Macht ist im Islam allein dem Schöpfer zugeordnet: La haula wa la quwwata illa bi’Llah. Dieser fundamentale Grundsatz unseres Denkens als Muslime, ist durch die machtvolle Erscheinung der neuen Welt der Technik herausgefordert.

Der englische Gelehrte Shaykh Abdalhaqq Bewley hat in einem Gespräch mit mir diese Frage einmal auf diese Weise auf den Punkt gebracht: „Es ist einfach den Menschen klar zu machen, dass Allah den Vogel erschaffen hat, schwer aber den Menschen klar zu machen, dass dies auch für das Flugzeug gilt.“

Es geht bei der Frage nach der Technik also nicht nur um die faszinierenden Maschinen und Geräte über die wir heute verfügen, sondern darum, wie sich die Welt uns offenbart. Unsere moderne Idee von Technik und ihrer Optionen der Machtausübung gefährden dabei im Grunde unseren Tauhid.

Praktizieren wir – aus islamischer Sicht – Techniken, die nicht erlaubt sind, wie diverse Aspekte der Finanztechnik, fordern wir den Schöpfer und seine Schöpfung heraus. Wir werden dann sozusagen „Sklaven“ der Technik. Allerdings erlauben aber auch die neue Techniken diverse Umsetzungen der islamischen Lebenswirklichkeit; oft in einer Form der zentralisierten Machtausübung, die für viele Jahrhunderte für Muslime undenkbar waren.

Man könnte insoweit auch sagen, dass die Säkularisierung überhaupt mit einer Verschiebung der Vorstellung von Machtebenen einhergeht. Diese, ursprünglich dem Gott zugeordnet, wandert auf die Ebene des Staates, der Banken und schließlich auf die Ebene allwissender, allmächtiger Technik.

Es ist also wichtig zu verstehen, dass wir ohne eine Beschäftigung mit der Philosophie Europas wichtige Begriffe des Politischen nicht verstehen können. Gerade der politische Islam hat und hatte hier nur ein begrenztes Verständnis, was – zum Beispiel – der Staat überhaupt ist und wie er das muslimische Denken schleichend veränderte.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt in seinen Vorlesungen „Über den Staat“ das Phänomen: „Achtung, alle Sätze die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären, insofern der Staat eine theologische Entität ist, das heißt, eine Entität, die durch den Glauben existiert.“

Und….

„Je weiter ich in meiner Arbeit über den Staat vorankomme, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die besondere Schwierigkeit, dieses Objekt zu denken, darin liegt, dass es – ich wäge meine Worte – beinahe undenkbar ist. Wenn es so einfach scheint, über diesen Gegenstand einfache Dinge zu sagen, so liegt es daran, daß wir von dem, was wir untersuchen wollen, in gewisser Weise schon durchdrungen sind.“

Der Staat, so Bourdieu, zeigt in der Moderne seine Macht dadurch, dass er „Kalender, Maßeinheiten und Curriculum“ der Menschen bestimmt und verändert. Heute sind es Gelehrte wie Wael Bin Hallaq, die den „islamischen“ Staat im Grunde als ein Paradox begreifen. Bereits Ibn Khaldun hatte über den Einfluss von politischen Ordnungsformen auf das islamische Leben in seiner „Muqqadima“ nachgedacht: „Wisse, dass der Staat durch verschiedenen Stadien und Eigenschaften hindurchgeht. Die, die in ihm leben, erwerben in jeder Phase aus den Verhältnissen dieser Phase Charaktereigenschaften, die anders sind als in den anderen Phasen, denn der Charakter folgt natürlicherweise dem Gepräge der Situation, in der er sich befindet.“

Wir haben in Europa die Lektion über den Wahn totalitärer Staaten schmerzhaft gelernt. In der muslimischen Welt widerholen sich diese Fragen: zum Beispiel, ob der politische Islam auf legale Weise eine Diktatur etablieren könnte.

Gleichzeitig geht die neuesten Entwicklungen der Technik über die Macht von Staaten hinaus. Wir erleben heute nicht nur die Desintegration von Staaten, sondern auch die völlige Integration der Menschen in neue, globale Formen der Technik.

Für den Heidegger-Schüler Byung-Chul Han, der im Moment in Berlin lehrt, ist der neue Weltbürger nicht etwa frei, sondern inzwischen durch einen neuen digitalen Totalitarismus, den Dataismus, bestimmt. Hier wird eine neue Technik der Macht befähigt jeden Widerstand zu integrieren. Die alte Idee der geographischen Verortung von Macht ist ebenso unmöglich geworden. Im Gegensatz zum totalen Staat, in der Vorstellung eines Orwell, beruht der neue Totalitarismus dabei auf Freiwilligkeit. In seinem Essay „Psychopolitik“ schreibt Han: „Big Data soll das Wissen von der subjektiven Willkür befreien. Demnach stellt die Intuition keine höhere Form von Wissen dar. Sie ist vielmehr etwas bloß Subjektives, ein Notbehelf, der den Mangel an objektiven Daten ausgleicht. In einer komplexen Situation ist sie, so das Argument, blind. Selbst die Theorie gerät in den Verdacht einer Ideologie. Wenn genug Daten vorhanden sind, so ist sie überflüssig. Die Zweite Aufklärung ist die Zeit des rein datengetriebenen Wissens.“

Die Folgen für uns, ob wir Muslime sind oder nicht, sind dramatisch. Die Welt der Technik zwingt uns immer mehr in eine Alltäglichkeit, die durch Beobachtung, Messung und Informationsgewinnung durch Algorithmen bestimmt ist. Das Internet wird zu einer Art Offenbarung und das Leben der ganzen Welt in eine neue Art der Einheit geführt.

Im Magazin „Spiegel“ erschien gerade einen Artikel über die Nutzung von Überwachungstechnik in der Arbeitswelt. Das Personal wird hier fortlaufend durch Sender registriert, die den Puls messen, die Zeitabläufe anaylsieren, die Wege messen. „Big Data“ übernimmt dann die schnelle Qualifizierung, Effizienzkontrolle und Bewertung von Menschen. Die Wirkung der unsichtbaren, dauerhaften Beobachtung auf unser Verhalten und unsere Bereitschaft sie zu akzeptieren, erinnert – natürlich unter völlig anderen Vorzeichen – auf denkwürdige Weise an „Ihsan“.

Wenn wir uns unter dem Schock des Terrors also unserer „Werte“ selbstvergewissern, dürfen wir nicht übersehen, dass die Zeit nicht etwa still steht. Die Logik ist nicht wirklich so einfach, dass wir nur, weil wir gegen den Terror kämpfen, in demokratischen Verhältnissen leben. Wir mögen dieselben bleiben, aber die Staaten und die Strukturen, in denen wir leben, verändern sich jeden Tag.

4. Was ist denn unsere Identität?
Es ist keine Frage, dass viele Menschen in der aktuellen Lage bezüglich ihrer eigenen Identität unsicher geworden sind. Dies betrifft augenscheinlich das konservative Milieu, das sich zunehmend negativ gegen die angebliche Islamisierung Europas definiert („wir sind Europäer, weil sie es nicht sind!“). Nicht gerade zufällig sind für diese Kreise europäische Muslime kein Thema der Reflexion.

Natürlich ist es auch für uns Muslime wichtig, sich unserer Identität, oder sagen wir besser, uns unserer Identitäten zu vergewissern. Die Aspekte unserer modernen Selbstfindung sind klar: Wir sind BürgerInnen Europas, sind Teil der europäischen Kultur und Überlieferung und sind natürlich Muslime. Gerade in Zeiten wachsenden Druckes ist es nötig, insbesondere unsere legitimen Bürgerrechte als Muslime in Europa aktiv zu verteidigen.

Vielleicht erstaunt es Sie, dass ich hier auch die Figur Goethes in diesen aktuellen Kontext der Identitätsfindung erwähne. Natürlich ist dies nur als Vorschlag gedacht und will nur beispielhaft zeigen, dass wir als Muslime durchaus sinnvoll an die europäische Überlieferung anknüpfen können. Hier seien einige Stichpunkte und Zitate genannt, die die für uns wichtigen Querverbindungen zum Werk Goethes andeuten:

a) Ganzheitlichkeit!
Das „aktive Leben“ ist nach der Lehre Goethes immer Theorie (die ist aber Anschauung) und Praxis, Handeln und Wissen.

b) Weltbürger
„Der Nationalhass finde sich am stärksten und heftigsten auf den untersten Stufen der Kultur. Es sei aber zu den derjenigen Stufe emporzuschreiten, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe des Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.“

c) Respekt statt Toleranz
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zu Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen.“

d) Schanierfunktion
1825 beschreibt der Dichter – angesichts neuer Techniken der Macht – beinahe melancholisch und mit erstaunlicher Aktualität – in einem Brief an Georg Nicolovius – den Beginn eines von technologischen Innovationen bestimmten Zeitenwandel: „…so wenig nur die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist…“

e) Skepsis gegenüber Revolutionen
Vielleicht ist es sinnvoll – gerade in Zeiten der völligen Politisierung des Islam – auch Goethes Skepsis gegenüber Revolution und Umsturz zu bedenken. Seine Sympathie für den evolutionär geordneten Prozess der politischen Veränderung ist ja eine durchaus aktuelle Mahnung.

Besonders wichtig finde ich aber das „verstehende“ Erkenntnisverfahren des Dichters in Sachen Islam, das für Muslime und Nicht-Muslime, eine große Lehre beinhaltet. Im folgenden – wie ich finde – wunderbaren – Zitat (11. April 1827 J.P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens) lernen wir viel über die sanfte Annäherung an den Islam, von dem Goethe geprägt ist und heute kaum noch denkbar scheint: „….[Es] ist höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, dass dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren.

… im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne dass es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! [Es ist] eine Lehre [der] Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.

Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, dass nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine grosse Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muss.

Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewissheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, dass dieser Lehre nichts fehlt und dass wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und dass überhaupt niemand weiter gelangen kann.

Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren auf welcher geistigen Stufe man denn eigentlich stehe.“

f) Muslim
Auch er war sich natürlich über die Veränderung der Identität im Rahmen des Wandels der ökonomischen, politischen und technischen Realitäten der Zeit bewusst. In seiner Dichtung nimmt er ausdrücklich das prophetische Wort des „stirb bevor Du stirbst“ auf.

Der Muslim ist sich bewusst – gerade wenn er auf Hadsch geht, betet oder fastet –, dass eine absolute Fixierung auf das „Ich“ gerade nicht möglich ist, dass wir gerade in der Auflösung unserer Identität in die Einheit mit der Göttlichkeit zurückkehren. Es gehört also gewissermaßen zum menschlichen Schicksal, die Frage nach der eigenen Existenz – im Bewusstsein der fortlaufenden Veränderung – in der Erinnerung an die eigene Sterblichkeit und im Bedeutungszusammenhang der Offenbarung zu erleben.

5. Wozu rufen wir auf?
Ich habe heute Abend versucht, nicht nur die Frage nach einer gefährdeten Balance der Muslime aufzuzeigen, sondern auch den originären Beitrag der europäischen Muslime bestimmen.

Wenn wir uns als europäische Muslime definieren und aus der Überlieferung Europas lernen, heißt dies insbesondere, dass wir verstehen, dass der Islam nicht etwa nur Politik und schon gar keine Staatsideologie ist. Wir erfahren aber auch im Austausch mit der Philosophie, dass die politischen Verhältnisse niemals statisch sind. Die Demokratie wird heute nicht – so problematisch das Phänomen sein mag – durch die Machenschaften des politischen Islam gefährdet, sondern durch die Innovationen globaler Techniken, wie zum Beispiel die Finanztechnik.

Wir Muslime sind in der Lage aktiv und mit eigenen Beiträgen aus unserer Überlieferung und unserer Tradition die Krisen unserer Zeit zu begleiten:

Finanzkrise
Flüchtlingskrise (soziale Krise)
Identitätskrise

Ich bin schlussendlich davon überzeugt, dass eine konstruktive Realität der Muslime in Europa damit zusammenhängen wird, ob Europa frei genug bleibt, Muslimen zu erlauben, Orte zu stiften, wo der Islam als eine umfassende Praxis möglich wird. Nur so kann ein inneres und äußeres Gleichgewicht der Muslime auch der europäischen Öffentlichkeit zeigen, dass unser Beitrag tatsächlich konstruktiv und positiv ist.

* Der Vortrag wurde am 21.11.2015 – leicht abgewandelt – in Zürich gehalten.