Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Schwache Vernunft gegen globale Gier

In der Stuttgarter Zeitung liest man am 27. Mai 2004 unter dem Titel „Schwache Vernunft gegen globale Gier – Wie der Hunger uns alle bedroht“ einen interessanten Artikel von Jean Ziegler. Dem Artikel ist eigentlich nichts hinzufügen. Der Artikel im Wortlaut:

Von allen Produktionsprozessen, welche die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte hervorgebracht hat, ist der kapitalistische Produktionsmodus ohne Zweifel der kreativste, effizienteste, aber auch der brutalste. Lange Zeit war der Kapitalismus territorial beschränkt. Mit der Implosion der Sowjetunion im August 1991 zerfiel die Bipolarität der Staatengesellschaft. Bis dahin hatte immerhin jeder dritte Mensch auf unserem Planeten in einem kommunistischen System zu leben. Die korrupten Despoten im Kreml und ihre Kumpane in den verwandten Regimes waren zwar ungefähr so kommunistisch wie ich buddhistisch bin, trotzdem war dadurch die Bipolarität und damit die territoriale Begrenzung des kapitalistischen Produktionsmodus eine Tatsache.

Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt hat nun der Kapitalismus die Welt erobert. Monopolisierung und Multinationalisierung sind seine beiden Grundvektoren. Ein einheitlicher Weltmarkt ist entstanden. Die Führung transkontinentaler Riesenreiche, die so genannten multinationalen Gesellschaften, wurden möglich – dank der Computerrevolution, dem einheitlichen Cyberspace und dem neuen Tempo der Telekommunikationen. Ein Genfer Privatbankier korrespondiert mit seiner Filiale in Tokio in Lichtgeschwindigkeit.

Eine Kapitalart hat sich autonomisiert: das Finanzkapital. Die Weltdiktatur der Finanzmärkte drückt sich strukturell in den Börsen aus. Diese determinieren sämtliche anderen Entscheidungsinstanzen auf der Welt. Auch der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident und all ihre demokratisch gewählten Kollegen konsultieren am Morgen zuerst einmal die Börsendaten vom Vortag (Tokio, Frankfurt, New York), um zu wissen, welche millimeterweite Marge ihnen für ihre nationale Investitions-, Arbeitsbeschaffungs- oder Fiskalpolitik bleibt.

Der antike Philosoph Marc Aurel schrieb einst: Imperium superat regnum – das Reich steht über dem König. Heute aber herrscht die Weltdiktatur des Finanzkapitals über sämtliche anderen Machtstrukturen. Und der Motor des frei wütenden Finanzkapitals ist die blanke Gier.

Die Globalisierung des kapitalistischen Produktionsmodus funktioniert jenseits aller Vorstellungen und Erwartungen. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich das Bruttoweltprodukt (also alle auf der Welt in einem Jahr produzierten Dienstleistungen, Kapitalien, Waren, Patente etc.) mehr als verdoppelt. Der Welthandel hat sich verdreifacht und hat die magische Grenze von 6000 Milliarden Dollar pro Jahr durchbrochen. Der Energieverbrauch verdoppelt sich alle vier Jahre. Die Herrscher des globalisierten Finanzkapitals besitzen Reichtümer, wie sie nie zuvor ein Kaiser, ein Papst oder ein König besessen hat.

Die 226 größten Privatvermögen der Welt waren 2003 ebenso groß wie die Vermögenswerte von 2,7 Milliarden der ärmsten Menschen auf der Welt. Im Jahr 2002 kontrollierten die 200 mächtigsten festkontinentalen Konzerne der Welt 23,8 Prozent des Bruttosozialproduktes des Planeten. Die Bilanzsumme von Exxon Mobil ist höher als das Bruttoinlandsprodukt von Österreich, diejenige von General Motors höher als das Bruttoinlandsprodukt Dänemarks.

Gleichzeitig wachsen auf der Welt die Leichenberge. Unter allen Phänomenen der Ungleichheit, der Unterentwicklung und der willentlichen Zerstörung von Menschen nenne ich den Hunger. 841 Millionen Menschen waren vergangenes Jahr schwer und permanent unterernährt. Im vorvergangenen Jahr waren es noch 826 Millionen. 100 000 Menschen sterben täglich am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen, zum Beispiel an Mangelkrankheiten. Alle sieben Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren.

Derselbe „Worldfood-Report“ der UN-Welternährungsorganisation, der diese Zahlen publiziert, stellt fest, dass die Weltlandwirtschaft beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung ihrer Produktionskräfte ohne Probleme 12 Milliarden Menschen normal ernähren könnte. Wobei „normal“ heißt: eine individuelle Tagesration pro Individuum von 2700 Kalorien. Wir sind gegenwärtig aber nur 6,2 Milliarden Menschen auf der Welt. Wie lautet also die Schlussfolgerung? Der tägliche stille Völkermord des Hungers, der sich in eisiger Normalität abspielt, ist kein Schicksal. Er ist von Menschen gemacht. Jedes Kind, jede Frau, jeder Mann, die am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen zu Grund gehen, werden ermordet. Sie sind am Schlimmsten von der Geißel betroffen. Die Weltbank zählte im Jahr 2004 1,2 Milliarden Menschen, die in „absoluter Armut leben“. Sie verdienen weniger als 1 Dollar am Tag. Sie haben kein menschenwürdiges Leben. Unter ihnen macht ausgerechnet die Landbevölkerung 75 Prozent aus. Warum? Einer der Hauptgründe dieser absurden, menschenzerstörenden Misere ist der ungleiche Zugang zum Produktionsmittel Boden.

Ganz verschiedene Situationen sind zu unterscheiden: in der Sahelzone breitet sich die Sahara im Jahresdurchschnitt um weitere zehn Kilometer nach Süden aus. Die Bauern verlieren ihr Land, ihre Tümpel, ihre Weiden. Sie fliehen in die Slums der Metropolen. Die UNO rechnet mit zur Zeit rund 250 Millionen so genannter „ökologischer Flüchtlinge“. Anders als die politischen Flüchtlinge haben sie keinerlei Rechte. Zweite Situation: die vertraglich versklavten Pächter. In Bangladesh zahlen bestimmte Pächter bis zu zwei Drittel ihrer Ernte als Mietzinsen an die Besitzer. Vom Rest müssen sie irgendwie überleben. Dritte Situation: Klein- und Kleinstbauern, die auf weitgehend unfruchtbarem Boden wirtschaften müssen. In Brasilien beherrschen vier Prozent der Landeigentümer 52 Prozent des fruchtbaren Bodens. 90 Millionen Hektar liegen brach.

Schlimm ist insbesondere auch die Situation der Frauen auf dem Land: 28 Prozent aller ländlichen Haushalte der Welt werden allein von Frauen geführt. Frauen machen jedoch bloß 5,1 Prozent der Landeigentümer der Welt aus.

Die Dimensionen des Hungers, der extremsten Armut und der Ausbeutung können nur verstanden werden in der so genannten „Life-cycle-perspective“. Jedes Jahr gebären Millionen schwerstunterernährter Frauen Millionen von fötal unterernährten Kindern, die nach ihrer Geburt noch nicht einmal Muttermilch erhalten. Es sind dies, wie mein Freund, der Philosoph Régis Debray sagt, die „Gekreuzigten von Geburt an“.

Damit dieser mörderische Zirkel der permanenten Unterernährung, des Ausschlusses von einem ausreichenden Einkommen, der Landlosigkeit und der täglichen Verzweiflung gebrochen werden kann, benötigen wir dringend überall dort, wo Eigentumsmonopole bestehen, eine Landreform, eine soziale Kreditpolitik für Klein- und Kleinstproduzenten und einen Zugang zum Markt zu vernünftigen, normierten Bedingungen.

Es ist nun zu sprechen von den neoliberalen Wahnvorstellungen, die sich rapide verbreitet haben. Der Neoliberalismus, der den Herrschenden und Beutejägern (und der Globaliserung überhaupt) als Legitimationstheorie dient, versucht wirtschaftliche Abläufe als Naturgesetz hinzustellen. Die Weltdespotie des spekulativen Finanzkapitals gibt sich als Vollstrecker von bloßen Naturgesetzen. Oder wie es der französische Philosoph Pierre Bourdieu zuspitzt: „Der Neoliberalismus ist wie der Aidsvirus. Er zerstört zuerst die Immunkräfte der Opfer.“

James Wolfensohn, der Weltbankpräsident, antwortete auf die Frage nach dem Horizont der Geschichte: „Stateless global governance“, die staatenlose Weltregierung. Mit anderen Worten: die Selbstregulierung des von allen normativen (staatlichen, territorialen, gewerkschaftlichen) Fesseln befreiten Weltmarktes soll maximalen Reichtum schaffen. Das Mittel zum Ziel der Selbstregulation sind die Strategien des so genannten „Konsensus von Washington“: vollständige und raschestmögliche Liberalisierung aller Waren-, Dienstleistungs-, Patent- und Kapitalströme; rasche und totale Privatisierung sämtlicher Bereiche des menschlichen Lebens; die Unterwerfung unter das Gebot der Profitmaximierung aller noch bestehenden öffentlichen Dienste. Ist dieser „Konsensus“ erst einmal weltweit realisiert, wird das Kapital intuitiv und automatisch in jeder Sekunde dorthin fließen, wo es den maximalen Profit in kürzester Frist erzeugt. Resultat: stets steigender Reichtum. Die neoliberale Wahnvorstellung behauptet, dass solch maximaler Reichtum, ist er erst einmal geschaffen, in Form von Wohlstand wie ein goldener Regen auf alle herunterfällt.

Aber sie steht diametral den Werten der Aufklärung entgegen. Für Jean-Jacques Rousseau und seine Mitkämpfer, deren Ideen seit über zweihundert Jahren unsere europäischen Staatsformen, unsere Idee von Volkssouveränität und Menschenrechten bestimmen, gab es keine Naturgesetze des Kapitals. Der Mensch allein – individuell oder als Nation – ist Subjekt der Geschichte. In Rousseaus „Contrat social“ steht ganz am Anfang der Satz: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt und ist es das Gesetz, das befreit.“

Wo ist Hoffnung? Ganz neue soziale Bewegungen kommen, eine mächtige Zivilgesellschaft entsteht, auch in Deutschland. Widerstandsfronten brechen auf überall auf dem Planeten. Ihre Methoden des Kampfes sind überall verschieden, die Motivation aber dieselbe: der moralische Imperativ, das Identitätsbewusstsein der Menschen. Ich bin der Andere, der Andere ist ich, und was dem Anderen zustößt, stößt mir zu.

Über 100 000 Menschen aus fünf Kontinenten, Abgesandte von über 8000 Bauernsyndikaten, Industriegewerkschaften, Frauenbewegungen und Nichtregierungsorganisationen, die für Menschenrechte und Umweltschutz, gegen Folter und Hunger kämpfen, fanden sich im vergangenen Januar zum Weltsozialforum in Bombay zusammen. Ohne Hierarchien, ohne Zentralkomitee, ohne ein ausgeklügeltes Programm. Als Bruderschaft der Nacht, als lebendige Figur der Solidarität. Wir wissen genau, was wir nicht wollen. Die Welt aber, die aus unserem Widerstand entsteht, gehört zum Mysterium der befreiten Freiheit im Menschen.

Eines ist aber schon gewiss. Entweder es gelingt, den Völkern eine normativ begründete, planetarisch gerechte Weltordnung zu schaffen, oder der jetzt wütende globalisierte Raubtierkapitalismus wird die Zivilisation, so wie wir sie von der Aufklärung geerbt haben, von diesem Planeten tilgen.