Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

„Stirb, bevor Du stirbst“

Foto: A. Rieger

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir leben in einer Zeit, in der das Nietzsche-Wort die „Wüste wächst“ sich ganz gut für eine innere und äußere Zustandsbeschreibung eignet. Unter dem Druck der Ereignisse – im Rahmen einer von Ökonomie geprägten Welt der Globalisierung, die alles Seiende bewertet, umwertet und verwertet – ist es nicht nicht einfacher geworden, sich im Alltag für eine Haltung der „Spiritualität“ offen zu halten. Im Zeitalter des Materialismus sind darüber hinaus gerade Handlungen, die sich auf „Spiritualität“ berufen, als irrationale und unwissenschaftliche Verhaltensformen eher verpönt.

In jeder großen Kultur gab und gibt es aber die Sehnsucht nach geistigen Praktiken, um auf einem Weg der Erkenntnis und der Erfahrung dem Göttlichen näher zukommen. Da dies, wie gesagt, für alle Kulturen gilt, besteht in diesem Gespräch über die religiösen Grenzen hinweg eine einmalige Chance des gegenseitigen Wiedererkennens.

Johann Wolfgang von Goethe schrieb in seinem berühmten West-östlichen Diwan in Reimform über die Notwendigkeit dieses transformatorischen Prozesses: „Bevor Du dies nicht hast, dieses stirb und werde, bist Du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“

Goethe nimmt so auf seine Weise die prophetische Maxime fortlaufender Verwandlungsfähigkeit auf: „Stirb, bevor Du stirbst.“

Aber auch in der neueren deutschen Philosophie setzen sich diese Tendenzen gegen die Egozentrik fort. In seinem epochalen Werk „Sein und Zeit“ beschreibt der Philosoph Martin Heidegger – dem übrigens auch vorgeworfen wurde, er betreibe in seinen Werken eine Art Esoterik – den Unterschied zwischen Eigentlichkeit und Verfallenheit. Es bedarf nach Heidegger einer fortlaufenden „Erinnerung“ und quasi einer geistigen Arbeit, um sich seines Daseins gegenwärtig zu sein. Die Verfallenheit an die Welt ist es, die es für Heidegger zu Gunsten tieferer Erkenntnis zu überwinden gilt.

Wenn wir heute hier auf dieser Veranstaltung konkret über Islam und Tasawwuf sprechen, dann ist es gerade die Wissenschaft des Tasawwuf, also des Sufismus, der für viele Muslime heute eine gewisse Hoffnung verkörpert. Es geht dabei um nichts anderes als um die Erwartung einer lebendigen muslimischen Lebenspraxis, die nicht nur – wie es heute immer wieder vorkommt – politisiert, aggressiv oder fanatisch wirkt, sondern eben auch „spirituell, weise, und offen““ ist.

Wie können wir den Begriff des Tasawwuf konkreter fassen?

Oft gelingen solche Versuche besonders treffend, wenn sie mit Hilfe einer metaphorischen Sprache formuliert werden. In seinem Klassiker „Die Hundert Stufen“ liest  man bei Schaikh Abdalqadir as-Sufi unter dem Stichwort Tasawwuf: „Sufismus ist die Wissenschaft von der Reise zum König.“

Und weiter heißt es dort über die eigentliche Wortbedeutung: „Seine bevorzugte Etymologie ist die Herleitung von Suf, Wolle. Das bedeute dass der Sufi – tasawaffa – die Wolle angelegt hat.“ Das, so kommentiert der Schaikh, „unterscheidet ihn von denen, die den Weg des Islam nur mit der Zunge und durch Bücherstudium bekennen“.

Tasawwuf als Wissenschaft wurde in im Laufe der islamischen Geschichte auf verschiedene Art und Weise bestimmt. Bei Schafiqu’r-Rahman finden wir folgende Definition: „Tasawwuf ist eine von mehreren islamischen Wissenschaften (‘Ulum). Wie viele andere islamische Wissenschaften auch war diese in der Lebenszeit des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, weder unter diesem Namen, noch in ihrer entwickelten Form bekannt.“

Heute – in der Moderne – ist die sinnhaftige Einordnung des „Sufismus“ als ein geistiges Phänomen nicht einfacher geworden. Nach einem Jahrhundert des politischen Islam wird in der westlichen Welt der Islam und Muslime immer wieder gerne mit Hilfe von Extremen beschrieben. Auf der einen Seite erscheint der scheinbar gesetzestreue muslimische Fanatiker auf der Bühne des Weltgeschehens oder aber, wir werden – gewissermaßen auf der anderen Seite – mit dem freundlichen Esoteriker, der es mit dem Islamischen Recht nicht so genau nimmt, konfrontiert. Diese Art der Dialektik des „entweder Ideologe oder Sufi“ kann über die eigentliche, innerislamische Bedeutung von Tasawwuf in die Irre führen.

Über Jahrhunderte waren es gerade der Islam und Tasawwuf, der den „Sirat al-Mustaqim“, den Mittelweg, der ausdrücklich die Extreme meidet, entscheidend ausmachte. Sufismus – eingebettet in die Alltäglichkeit der Muslime – war damit quasi das Gegenmittel gegen die Möglichkeiten des Abfalls in die Extreme. Um dies besser zu verstehen, müssen wir uns kurz die verschiedenen Dimensionen des Islam vergegenwärtigen.

In einem berühmten Hadith wird der ganzheitliche Sinn- und Bedeutungszusammenhang von Iman, Islam und Ihsan, also die Basis des islamischen Daseins genauer erklärt. Der Edle Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, erklärte:

„Iman bedeutet, dass ihr an Allah glaubt, Seine Engel, Seine Bücher, Seine Gesandten, an das Leben nach dem Tod und an Qadr, das Gute wie das Schlechte darin.

Islam ist, dass ihr bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad der Gesandte Allahs ist, dass ihr das Gebet einrichtet, im Monat Ramadan fastet, die Zakat bezahlt und die Pilgerfahrt nach Mekka verrichtet.

Ihsan ist, dass ihr Allah anbetet, als ob ihr Ihn sehen könntet; selbst wenn ihr Ihn nicht sehen könnt, so kann Er euch doch sehen.“

Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Theologie, Lebenspraxis, Recht und Spiritualität im Islam, wohl aber die Notwendigkeit einer Balance zwischen Glaubensprinzipien, Handlungen und den dahinter stehenden Absichten. Viele Jahrhunderte lang war völlig klar, dass die Wissenschaft des Tasawwuf – im Kern die Charakterbildung und die Reinigung des Herzens als das wichtigste menschliche Erkenntnisorgan – natürlich nicht ohne den Islam existieren kann.

Ich erinnere mich zum Beispiel an das berühmte Bonmot von Schaikh Abdalqadir al-Dschilani: „Wenn ein Shaykh auf einem Teppich geflogen kommt und zu Dir sagt, verlasse die Scharia, dann verlasse diesen Schaikh.“

Gleichzeitig liegen in der korrekten Bestimmung des Verhältnisses zwischen Islam und Tasawwuf auch einige Gefahren verborgen: Die Trennung dieser Phänomene zeitigt heute Folgen, die sich in der Herrschaft von sektiererischen Gruppen zeigt. Islam ohne Tasawwuf mündet dabei in der Tendenz der ideologisch-verblendeteen Umsetzung einer kalten Gesetzesreligion. Tasawwuf ohne Islam seinerseits resultiert in der Verwirrung einer individualisierten Esoterik. Die Großen Gelehrten des Islam waren sich dieser Gefahr durchaus bewusst.

Der marokkanische Rechtsgelehrte Schaikh Ahmad Zarruq (lebt im 14. Jahrhundert) beschrieb das Verhältnis von Tasawwuf und Islam wie folgt: „Die Position des Tasawwuf in Beziehung zum Din ist wie die des Geistes in Relation zum Körper. Er ist gleichbedeutend mit Ihsan, der, wie es der Gesandte Allahs Dschibril erklärte, ‘Allah anzubeten, als ob ihr Ihn sehen würdet’. Als solcher ist er ein fester Bestandteil des Dins als Ganzer. Aspekte des Sufismus, die definiert, eingeordnet und erklärt wurden, belaufen sich auf rund zweitausend. Sie alle aber sind bloße Facetten einer Sache: die Aufrichtigkeit einer Person in ihrer Hinwendung zu Allah, dem Mächtigen und Majestätischen. Und Allah weiß es am besten.“

Schaikh Zarruq – in seiner Selbstbestimmung „mehr Rechtsgelehrter als Sufi“ – kommt dann im weiteren Verlauf seiner Überlegungen zu dem Schluss, dass es keinen Tasawwuf ohne eine Verständnis des islamischen Rechts kann, weil die äußeren Urteile Allahs nur mit ihm – eben dem Recht – verstanden werden können. Andererseits, so der Gelehrte im Umkehrschluss, hat das islamische Recht keine sinnvolle Bedeutung ohne Tasawwuf. Denn der Wert von Handlungen bedingt sich durch ihre Absichten, welche wiederum von der Ernsthaftigkeit in der Zuwendung zu Allah abhängen.

Man kann also Folgendes getrost feststellen: Sufismus, zumindest in den authentischen Varianten der Überlieferung, war niemals nur eine reine Esoterik, noch kann sich heute der Sufismus mit irgendeiner Ideologie gemein machen.

Alle großen Lehrer dieser Wissenschaft haben sodann ihre Schüler vor der Abkehr vom Islam und der Gemeinschaft gewarnt. Sogar die Kritik des historischen Abdulwahab – bei aller nötigen Kritik am daraus folgenden modernen Wahabismus – an der  Maßlosigkeit und den Exzessen mancher „Sufis“ dieser Zeit – wurde und wird von vielen Gelehrten der sufischen Tradition übrigens durchaus geteilt.

Maulana Rumi, der ja hin und wieder heute für eine Art sufisch angehauchte „Esoterik“ benutzt wird, sagte selbst über den „Weg“, sozusagen schon die Gefahr ahnend: „Ich bin der Sklave des Qur’an, solange ich lebe. Ich bin Staub auf dem Wege Muhammads, des Auserwählten. Wenn jemand meine Worte auf eine andere Art und Weise auslegt, dann bedauere ich ihn und dessen Worte.”

Die großen Werke des Islam, wie zum Beispiel die Kommentierung des Lehrgedichtes von Ibn ‘Aschir (1582-1631) durch Schaikh asch-Schinqiti (1802-1853) haben sodann – wenig überraschend – den folgenden logischen Aufbau. Neben den Aspekten des Iman und einer korrekten Aqida geht es ausführlich um das umfassende Verständnis der Säulen des Islam und dann im Schlusskapitel über Tasawwuf. Wer diese Bücher gründlich studiert, hat nicht nur ein umfassendes Wissen über den Islam, sondern sicher auch ein aktives Immunsystem gegen jede Form von Extremismus entwickelt.

Man sollte bei dem Studium der sufischen Terminologie, das ja auch verwirren kann, grundsätzlich zwei wichtige Zitate von Imam Dschunaid (830-910) nicht vergessen. Der Imam erinnert daran, dass es im Sufismus, bei aller verständlicher Bewunderung für dieses Wissen, nicht etwa um eine abgehobene oder gar exzentrische Geisteshaltung geht, sondern um die Nachahmung des Propheten und seiner ersten Gemeinschaft. Über diese zwei Zitate lohnt es sich also nachzudenken: „Zu Beginn war der Sufismus eine Realität ohne Namen, später wurde der Sufismus ein Name ohne Realität“ und „wenn ich von irgendeiner Wissenschaft gewusst hätte, die größer als der Sufismus ist, wäre ich zu ihr gegangen, selbst auf meinen Händen und Knien“.

Im Sufismus geht es also um sichtbare Charakterbildung, Ritterlichkeit, Futuwwa, nicht etwa nur um geheimnisvolle oder private Zustände. Schaikh Schinqiti spricht in seinem Kapitel über Tasawwuf zum Beispiel in erster Linie über Taqwa und die sich daraus ergebenden Konsequenzen einer achtsamen Lebensführung.

Die sufischen Lehrer der unterschiedlichen Tariqats – wenn sie denn authentisch sind – unterscheiden sich insoweit von „Schaikh Google“, als sie in einem intensiven, langjährigen Prozess auf die Charakter- und Herzensbildung und das Wissen der Muslime über den Islam größten Wert legen und sie damit vor Ideologie und Egozentrik schützen. Neben einem umfassenden Wissen über den Islam und die Offenbarung geht es dieser Lehre um die Liebe zum Propheten und die fortlaufende Erinnerung an die „condition humaine“, die absolute Abhängigkeit allen Seins von Allah.

Das Prinzip des Dhikr, der Erinnerung an Allah, ist dabei einfach zu beschreiben und wird in den Zusammenkünften der Sufis immer wieder neu erfahrbar gemacht. Das existentielle Gesetz dieser Erfahrung ist dem Grunde nach einfach formuliert: Je mehr das eigene Ego zurückweicht und sich auflöst, desto mehr öffnet sich das Dasein für die allumfassende Präsenz Allahs.

Im Koran (Sura Ar-Rad, der Donner, 27-28) hören wir:

„Und diejenigen, die ungläubig sind, sagen: ‘Wenn doch ein Zeichen von seinem Herrn auf ihn herabgesandt würde!’ Sprich: Allah lässt in die Irre gehen, wen Er will, und leitet zu Sich, wer sich Ihm reuig zuwendet.

(Es sind) diejenigen, die glauben und deren Herzen im Gedenken Allahs Ruhe finden. Sicherlich, im Gedenken Allahs finden die Herzen Ruhe!“

Getreu des hier beschriebenen Zusammenhanges zwischen Sufismus und Islam gilt auch der Umkehrschluss. Es sind heute gerade auch die Sufis, die für den Islam öffentlich eintreten.

* Vortrag, gehalten am 10. Mai auf der Yunus Emre-Tagung in Berlin.