Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

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Verteidigung des Sufismus?

Über viele Jahre war es zwischen Muslimen nicht einfach, Fragen wie „Was ist Sufismus?“ zu stellen. Die Debatte war oft geprägt von dumpfen Vorurteilen gegen den Sufismus, der von manchen destruktiven Gegnern sogar als „Abspaltung“ denunziert wurde. Heute ist es fast ein wenig paradox, noch immer den „Sufismus“ als einen etwaigen Irrweg verteidigen zu müssen, da ja heute gerade die Sufis öffentlich über die Zakat und die fünf Säulen, also den Islam selbst, sprechen und für ihn eintreten.

Aber es ist natürlich dennoch kein Schaden, sich kurz auf einige Aspekte des echten Sufismus zurück zu besinnen.

Es mag sein, dass einige Ignorante dem Sufismus noch immer eine gewisse Egozentrik, die Neigung zur Esoterik oder eine Vorliebe für den Individualismus unterstellen und damit eine Haltung gegen die eigentlichen Ziele der Muslime, also der Bildung von Gemeinschaft, ein Leben nach den Grundsätzen der Sharia und der Erfüllung ihrer wichtigsten Maßgaben, so beispielsweise die Etablierung von Gebet und Zakat. Natürlich gibt es unzählige Aussagen unserer authentischen, berühmten Gelehrten zu den angesprochenen Vorurteilen. So wendet sich beispielsweise Schaikh Ibn Adschiba gegen jede Form der „Egozentrik“ oder des „Individualismus“ im Islam:

„Islam kann man nicht wirklich alleine praktizieren. Im „sich absondern“ oder im „Einzelgängertum“ liegt wenig Gutes. So sind selbst die grundlegenden und verpflichtenden Fünf Säulen des Islam in der Isolation nicht wirklich zu praktizieren: Für die Schahada – das Einheitsbekenntnis – benötigt man mindestens zwei Zeugen; das Gebet hat – in Gemeinschaft verrichtet – einen wesentlich größeren Segen; die Zakat – die verpflichtende Vermögensabgabe – kann man weder selbst einsammeln, noch an sich selbst zahlen; im Ramadan ist man bei dessen Beginn, seinem Ende und beim notwendigen Feiertagsgebet auf die Gemeinschaft angewiesen, und die Hadsch schließlich ist allein vollzogen noch nicht einmal denkbar.“

Gegen die Zerfallsform der Esoterik, also einer Spirtualität ohne Islam, wenden sich über alle Jahrhunderte unzählige Gelehrte, wie beispielsweise Schaikh Ibn al Arabi, dem der folgende Spruch zugeordnet werden kann: „Kommt ein Schaikh angeflogen und sagt: 'verlass die Shariat', dann verlass ihn“.

Schon Maulana Rumi, natürlich in erster Linie ein praktizierender Muslim, wusste von der möglichen Gefahr, der Trennung des Islam und des Sufismus. Er stellte klar: „Ich bin der Sklave des Qur'an so lange ich lebe. Ich bin Staub auf dem Wege Muhammads, des Auserwählten. Wenn jemand meine Worte auf eine andere Art und Weise auslegt, dann bedauere ich ihn und dessen Worte.“

Zweifellos basiert der wahre Sufismus auf der Grundlage absoluter Einheit. Die Erfahrung der Einheit setzt voraus, dass man das „Objekt“ und das „Subjekt“ – wie man das auch beispielsweise in der modernen Literatur eines Luigi Pirandello nachvollziehen kann – gleichermaßen als Illusion entlarvt. Der Sufismus korrespondiert gleichzeitig mit den Einsichten der modernen Philosophen. Da man, wie Heidegger es lehrt, grundsätzlich verfallen ist an die Welt, involviert in Gerede und geworfen in einen Kontext von Weltanschauungen, gehört zu der Gewinnung eines tieferen Ortes immer wieder eine geistige und spirituelle Anstrengung. Um diese Anstrengung kreisen die Übungen des Sufismus. Die Auflösung des „Ich“, das in der Losung „stirb bevor du stirbst“ steckt, ist die Aufhebung jeder Idee einer Trennung.

Die Frage, was ein Sufi ist, beantwortet Schaikh Abdalqadir as-Sufi in seinem Klassiker „Der Weg Muhammads (was) so: „Ein Mann, Eine Frau, der/die sich selbst erkennt und damit die Wirklichkeit“.

Der Sufi ist nichts anderes als ein Reisender auf dem Weg zu Allah, einer der fortlaufend Veränderungen sieht, der in der Lage ist, sein „Selbst“ zu reinigen und spirituelle Erleuchtung zu erlangen.

Schaikh Asch-Schadhili beschreibt die folgenden, einfachen „Eigenschaften“ der Sufis: „Der Sufi ist ein anbetender Diener, der die Pflichten seines Dienstes erfüllt. Er ist wahrhaftig, treu und rechtschaffen. Er zieht den armen Mann dem reichen vor. Die kleine Menge der großen und das niedrige dem hohen. (…) Der Sufi lächelt, wenn er begrüßt wird. In seinem Gespräch ist er angenehm. Wenn er um etwas gebeten wird, gibt er. Wenn andere Geheimnisse verraten, bewahrt er diese. Auch wenn er Fürsten kennt, ist er nicht stolz und verachtet die Armen nicht. Er verkauft das Jenseits nicht für diese Welt. Durch Allah ist er reich, Ihm trägt er seine Anliegen vor, Ihm gibt er, von Ihm ist er abhängig und er fürchtet niemanden außer Allah. Er vertraut einzig auf Allah.“

Zu Recht kann man sagen, die Eigenschaften des guten Muslim und des guten Sufis sind schlicht identisch.

Der „Sufismus“, wie wir ihn verstehen, braucht deswegen auch keine besondere „Institutionalisierung“, beharrt nicht auf Namen, bestünde dann doch die Gefahr, den Eindruck zu befördern, als sei der Sufismus eine Art Sonderbezirk im Islam. Hierher gehört die wunderbare, mahnende Aussage des Imam Dschunayd: „Diese Sache (der Tasawwuf) war einst eine Wirklichkeit ohne Namen, nun ist sie ein Name ohne eine Wirklichkeit.“ Es geht um die Wirklichkeit, es geht um Eigenschaften, nicht um Namen.

Der Tasawwuf wurde in im Laufe der islamischen Geschichte auf verschiedene Art und Weise bestimmt. Bei Schaikh Schafiqu’r-Rahman (Defense of Sufism) finden wir folgende Definition: „Tasawwuf ist eine von mehreren islamischen Wissenschaften (‘Ulum). Wie viele andere islamische Wissenschaften auch war diese in der Lebenszeit des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, weder unter diesem Namen, noch in ihrer entwickelten Form bekannt. Dies mindert jedoch nicht ihre Legitimität. Es gibt viele islamische Wissenschaften, die ihre jetzige Form erst Jahre nach dem Propheten annahmen. Dazu zählen die Prinzipien des Rechts (Usul Al-Fiqh) oder die Hadith-Methodologie (‘Ulum Al-Hadith).“ Tasawwuf ist eine ­islamische Einrichtung, die ihre ­Quellen und ihre Gültigkeit aus dem Qur’an und der prophetischen Sunna ableitet. Die Lehren des Sufismus stehen in keiner Art und Weise im Widerspruch zur Schari’a.“

In einem umfassenderen Sinne bedeutete Tasawwuf die Vervollkommnung von Iman und Islam, die durch Ihsan erlangt wird. Der Edle Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Iman bedeutet, dass ihr an Allah glaubt, Seine Engel, Seine Bücher, Seine Gesandten, an das Leben nach dem Tod und an Qadr, das Gute wie das Schlechte darin. Islam ist, dass ihr bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad der Gesandte Allahs ist, dass ihr das Gebet einrichtet, im Monat Ramadan fastet, die Zakat bezahlt und die Pilgerfahrt nach Mekka verrichtet. Ihsan ist, dass ihr Allah anbetet, als ob ihr Ihn sehen könntet; selbst wenn ihr Ihn nicht sehen könnt, so kann Er euch doch sehen.“

Leider sind heute die meisten Muslime in merkwürdige Parteiungen eingeteilt und betonen das Trennende. Es herrschen Nationalismen, die auf einem islamfeindlichen Rassismus basieren. Man wird schnell in „Sekten“ aufgeteilt und separiert. Schaikh Ibn Adschiba rät in seinem berühmten Klassiker über die Grundlagen des Islam und die Wegmarken des Sufismus:

„Wisse, dass die Versammlung eine der größten und wichtigsten Säulen für die Leute (des Sufismus) ist. Einer der Sufis hat gesagt: „Sufismus ist auf drei Dinge aufgebaut: Versammlung, Zuhören und Folgen“. Wer von den Brüdern abgesondert und mit sich selbst beschäftigt ist, von dem kommt nichts. Die Muminun sind wie Schafe: Wenn eines von ihnen vom Rest der Herde getrennt ist, wird es zum Ziel der Wölfe. Allah der Erhabene hat uns aufgefordert, zusammen zu kommen, indem Er sagt: „Kommt zusammen für die rechten Handlungen und Taqwa. Kommt nicht zusammen für die falschen Handlungen und Übertretungen.“

In der Sura Ali Imran, 190/191 heißt es: In der Erschaffung der Himmel und der Erde, und dem Wechsel zwischen Tag und Nacht, darin sind Zeichen für Leute, die verständig sind: solche [Leute], die Allahs im Stehen, im Sitzen und im Liegen gedenken und über die Erschaffung der Himmel und der Erde nachdenken [und darauf hin sagen]: „Unser Herr, Du erschufst die nicht umsonst [ohne Sinn darin]. Gepriesen seist Du! Bewahre uns vor der Strafe des Feuers.“

Der Prophet, möge Allah ihm Segen und Frieden geben, sagte: „Wer zusammen kommt, um Allah den Mächtigen, den Majestätischen zu gedenken, und damit nichts anderes beabsichtigt als Sein Antlitz, die wird ein Rufer von den Himmeln rufen und sagen: ‘Erhebt euch! Euch ist alles vergeben. Eure falschen Handlungen sind in gute Handlungen verwandelt worden.’“ Er sagte auch, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Allah hat eine Gruppe von Engeln, die umherziehen und an den Versammlungen des Gedenkens auf der Erde halt machen. So grast auf den Weiden des Gartens.“ Sie sagten zu ihm: „Wo sind die Weiden des Gartens?“ Er antwortete „Die Versammlungen des Gedenkens an Allah. So kommt und geht in das Gedenken an Allah und erinnert euch daran, dass derjenige, der seinen Rang bei Allah wissen möchte, wissen muss, was Allah für ihn bedeutet. Allah der Erhabene gibt dem Sklaven die Position, die der Sklave Allah gibt.“ Er sagte auch, möge Allah ihn Segen und ihm Frieden geben: „Erinnert euch selbst“ – das bedeutet dass ihr euch gegenseitig erinnert. Gegenseitiges Erinnern ist die größte Art des Dhikr denn es liegt Wissen darin. Das Gedenken an Allah und die Versammlungen des Dhikr erhalten ihre Wirklichkeit durch die Versammlung von Wissen, Dhikr und gegenseitiger Erinnerung.

Die Notwendigkeit, „Miteinander zu sein“, gilt in aller Einfachheit und ist unabhängig von einem (angeblichen) geistigen Rang. Niemand hat das Recht, wegen eines besonderen Zustandes, sich abzusondern. Diese Regel erklärt Schaikh Ibn Adschiba anhand einer kleinen Anekdote:

Schaikh Asch-Schadhili, möge Allah mit ihm zufrieden sein, hatte einen Schüler, der mit ihm zu sitzen pflegte und dann damit aufhörte. Eines Tages traf er ihn und sagte zu ihm „Warum kommst du nicht mehr und hast dich abgesondert?“ Der Schüler sagte zu ihm „Ich wurde unabhängig von Dir durch Dich.“ Schaikh Asch-Schadhili, möge Allah mit ihm zufrieden sein, sagte zu ihm: „Wenn jemand durch jemand anderen unabhängig werden würde, dann wäre Abu Bakr As-Siddiq unabhängig geworden vom Sitzen mit dem Gesandten Allahs – aber er blieb bei ihm, bis er starb.“ Das sich Versammeln mit den anderen abzubrechen, oder aufzuhören, den Schaikh zu besuchen, ist für den Faqir eine der größten Barrieren (auf dem Pfad), und Allah der Erhabene weiß es am Besten.

Bis zum heutigen Tage gibt es Tariqats, deren Authenzität außer Frage steht und deren Echtheit von jedem Muslim geprüft werden kann. Die Übergabe einer Tariqat an ein Familienmitglied kann dabei nur ausnahmsweise richtig sein. Jede echte Tariqat wird sich aktiv involvieren, in die Verteidigung des Islam, des Propheten und in den Wettsstreit um die Etablierung der fünf Säulen des Islam. Imam Al-Junayd sagte: „Tasawwuf ist, dass du mit Allah bist ohne Verbindung, und dass seine Wahrheit dein Ich verschwinden lässt und dann dich mit ihm zurück zum Leben bringt“.

Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Unser heutiges Leben ist wie nie zuvor von ökonomischen Bedingungen geprägt, die die Schöpfung bedrohen, herausfordern und uns vom Schöpfer trennen. Es war wiederum Imam Al-Dschunaid, der sagte: „Absolutes Vertrauen bedeutet, dass ihr euch vollkommen eurem Herrn widmet und dass ihr all eure Aufmerksamkeit von dem abwendet, was unter ihm ist.“

Besonders wenn es um unsere ökonomische Versorgung geht, die uns heute alle bestimmt und so sehr sorgt, ist es schwer, „spirituell“ zu sein. Vom Khalifen ‘Umar ibn Al-Khattab, möge Allah mit ihm zufrieden sein, wird berichtet, dass er folgendes Hadith überliefert hat: „Allahs Gesandter, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: ‘Wenn euer Vertrauen wirklich und wahrhaftig auf Allah ruht, dann wird Er euch versorgen, wie Er die Vögel versorgt. Diese beginnen ihren Tag mit leerem Magen und beenden ihn mit vollem Magen.“

Alles in allem kann man wohl sagen, dass man den Sufismus am Besten verteidigt, in dem man den Islam und seinen Propheten verteidigt. Die Schöpfung verteidigt man heute, in dem man die Zakat etabliert und das offenbarte Maß einhält.