Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Wissen und Macht

(iz). Wenn der alte Grundsatz „Wissen ist Macht“ auch für Muslime gilt, dann kann mit unserem Wissen etwas nicht stimmen. Noch nie gab es so viele Gelehrte und Muslime. Noch nie hatten die Muslime so viele Bücher und Datenträger zur Verfü­gung. Gleichzeitig ist die Gefahr offenkundig, dass die einfachen Gläubigen den Über­blick und ihre Unterscheidungskraft verlieren. Nur so können sie als Ohnmächtige manipuliert werden. Natürlich ist das authentische Wissen immer in Gefahr, durch Macht beeinflusst zu werden. Die Überflu­tung der Gemeinschaft mit unsortierten Informationen fördert den häufigen Zustand, scheinbar alles zu wissen, wenn auch nichts davon wirklich zu leben.

Man muss sich daher erinnern, dass der einfache Muslim noch vor einem Jahrhundert die wichtigsten ­Glaubensüberzeugungen auswendig konnte. Für diesen souveränen Zustand brauchte er keine Universität am Stadtrand. Wissen diente der Aktion – so wie die Waschung dem Gebet. Wer Wissen hatte und nicht adäquat handelte, glich dem Mann, der sich rituell wusch, aber niemals zum Gebet ging. Jede Zeit hat ihre Heraus­forderungen an das Wissen. Heute muss sich Gelehrsamkeit mit Ökonomie beschäftigen, denn der Kapitalismus greift so sehr in ­unser Leben ein, dass er unsere innere und äußere Realität maßgeblich beeinflusst. Wer ­einen echten Lehrer hat, wird gewiss gerade jetzt über das notwendige Wissen aufgeklärt werden. Jahrhundertelang musste man nieman­dem die Selbstverständlichkeit erklären, wann, wo und wie man Zakat bezahlt.

Das Wissen über die Segnungen der islamis­chen Lebenspraxis war die Basis der ­aktiven Gemeinschaft. Die Auswahl derer, die jeder­zeit das Gebet leiten oder eine Ansprache halten konnten, war glücklicherweise groß. Anerkannte Gelehrte betrachteten sich nicht als weltfremde Wissenschaftler. Begrif­fe wie „Theologie“ oder „Religion“ – die in der Neuzeit separate Wissenschaften oder Lebensrealitäten in ein säkulares Denkgebäude einordnen – waren unbekannt. Die Alltäglichkeit des Islam und das ganzheitli­che Wissen zeigte sich nicht nur im korrekten Ritus in Sakralgebäuden, sondern auch in angewandten Verträgen auf dem Marktplatz, im gerechten Handel oder im Tausch von Währungen, die selbstverständlich – ohne die Schöpfung herauszufordern – nie auf Täuschung beruhen konnten.

Eine existierende Brüderlichkeit konnte sich feine Debatten über die Einheit, das Recht oder das Leben des Propheten leisten, ohne dass sich Muslime dabei angriffen. Wenn sie stritten, dann nicht per Datenübertragung, sondern sie saßen sich in geschlossenen Räumen gegenüber. Die Gelehrten, so Ibn ‘Abbad, waren für die Muslime eine ­Quelle der Freude und ein Grund zur Gesundung.

Da alle Muslime die wichtigsten ­Grundlagen ihres Glaubens kannten, gab es auch Gelehr­te, die – ohne damit das Gemeinwohl überhaupt zu gefährden – zugeben konnten, wenn sie etwas nicht wussten. Immerhin war sogar der große Imam Malik dafür berühmt, das Nichtwissen jederzeit lächelnd einzuräumen.

 

Der Text wurde am 01.03.2013 in der IZ veröffentlicht.