„Die Frage nach der Reform muslimischer Organisationsformen sollte jedenfalls genauso wenig ein Tabu sein, wie die Frage nach der Erfolgsbilanz des politischen Islam überhaupt.“
Der Ramadan ist wie in jedem Jahr ein Höhepunkt im sozialen Leben der Muslime und wichtiger Bestandteil der spirituellen Realität. Zahlreiche öffentliche Veranstaltungen haben aber auch den Willen der Muslime bezeugt, sich nicht etwa zurückzuziehen, sondern gerade in diesem Monat Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft aufzunehmen. Diskussionen über den Einsatz von Organisationen im Kampf gegen den Terror erinnerten dabei an die politische Debatte über die Präsenz der Muslime in Europa. Im Kern geht es dabei immer wieder um den Gegensatz zwischen sogenannten liberalen und konservativen Muslimen, denen jeweils bestimmte Assoziationen in ihrem Verhältnis zur Demokratie unterstellt werden. Hier gilt der Lehrsatz des französischen Psychoanalytikers Lacan, „Es bist nicht Du der in der Debatte gewinnt, sondern die Debatte selbst“. Seine Aussage bezeugt die destruktiven Aspekte der Politisierung des muslimischen Lebens.
Viele Muslime fürchten nicht nur den Dauerkonflikt und seine Folgen, sondern auch die weitere Stärkung der Extreme, die sich bereits in Form einer wachsenden Zahl von Esoterikern, Nationalisten und ideologisierten Salafisten zeigt. Die Frage nach der mittleren Position und was sie ausmacht – auch jenseits des Politischen –, ist also aktueller denn je.
Religionen sind nicht durch den Willen zur Macht, sondern durch den Willen zur Verbundenheit ausgezeichnet. Im Zusammenleben von Muslimen braucht es dabei einen Minimalkonsens über die Frage was der Islam überhaupt ist und damit grundlegende Kenntnisse über Islam, Iman und Ihsan. Die Rechtsschulen ermöglichen einerseits den Rücklauf zur ersten Gemeinschaft, andererseits beschäftigen sie sich mit neuen Rechtsfragen, wie sie sich beispielsweise aus technischen Innovationen ergeben. Über Jahrhunderte stritten muslimische Gelehrte über den richtigen Weg, ohne zu vergessen, dass ein Konsens zwischen Muslimen auch diverse Unterschiede nicht ausschließt. In unserer Zeit kommt nun die Notwendigkeit hinzu, religiöse Überzeugung von ideologischem Eifer zu unterscheiden. Fakt ist, einzig auf diesen Grundlagen kann eine große Zahl von Menschen überhaupt nur gebunden werden. Der Minimalkonsens droht aber unter dem Druck des rein politischen Diskurses zu zerbrechen.
Gerade im vergangenen Ramadan zeigte sich dieses Phänomen unter anderem im Streit um die Teilnahme an Demonstrationen. Plötzlich sollte Teilnahme oder Fernbleiben von Muslimen an einer Kundgebung gleichzeitig ihre allgemeine politische Haltung indizieren. Bezeichnenderweise verlieren Muslime in diesem hitzigen Diskurs zunehmend die Definitionshoheit über sich selbst. Sie sollen nunmehr liberal oder konservativ sein, allerdings unter dem Ausschluss der dritten Möglichkeit, also liberale und konservative Aspekte in sich zu vereinen.
Teile der deutschen Gesellschaft sind aber nach wie vor von der Idee geprägt, die Extremisten könnten in einem dialektischen Prozess zur Vernunft gebracht werden. Dem radikalen Salafisten steht dann der harmlose Esoteriker, als die – in dieser Systematik – einzige positive Alternative gegenüber. Die große Mehrheit der Muslime kann allerdings mit derart simpler Dialektik nicht gebunden werden, im Gegenteil, es besteht vielmehr die Gefahr weitergehender Polarisierung. Dieses Ergebnis dient aber auf Dauer weder unserem Staat, noch den Muslimen.
Es ist kein Zufall, dass innerislamische Diskussionen, aber auch der öffentliche Streit um den Islam zunehmend in den sozialen Medien stattfinden. „Das Internet“, so der slowenische Philosoph Zizek, „ist dabei der Ort wo das Undenkbare denkbar, und das Unmögliche möglich scheint“. Die Doppeldeutigkeit des Phänomens zeigt sich einerseits in der bedrohlichen Zunahme von Hassbotschaften, aber auch in einer lebhaften, durchaus spannenden Debatte. Man spricht im Netz dabei naturgemäß mehr über den Anderen als wirklich miteinander. Das Internet verkörpert, wenn man das berühmte Gleichnis von Carl Schmitt anwendet, die nihilistische Trennung von „Ordnung und Ortung“, in Form einer Ordnung ohne wirkliche Ortung. Man könnte aber, um zu Zizek zurückzukehren, auch davon ausgehen, dass es die virtuelle Vorbereitung auf reale Möglichkeiten andeutet. Ob diese Realität eine Positive wird, werden für uns Muslime die nächsten Monate zeigen.
Ein symbolischer Ort der realen Begegnung der mehr oder weniger organisierten Muslime war bisher der sogenannte „Koordinationsrat der Muslime“. Dessen Krise und Sprachlosigkeit, die sich in den letzten Debatten akut manifestierten, lässt sich von der Frage nach der künftigen Rolle des politischen Islam nicht trennen.
Zunächst sollte man sich fragen, warum diese Koordination der unterschiedlichen Verbände nicht mehr funktioniert. Tatsächlich gibt es darauf eine einfache Antwort, die mit den in die Jahre gekommenen Grundideen des politisch-organisierten Islam zusammenhängen. Es geht hier um die Definition von Macht, die sich als organisierter Wille versteht und der eigenen Machtsteigerung dienen soll. Je größer der Verband, nach dieser Logik gedacht, desto größer ist seine Bedeutung und Wirkungsmacht für die Muslime.
Aus diesem egozentrischen Selbstverständnis heraus erklärt sich zum einen die mangelnde Bereitschaft mit unabhängigen, kleinen, aber effizienten Bewegungen oder NGO zusammenarbeiten, sie überhaupt ernst zu nehmen, aber auch zum anderen die Schwierigkeit, mit anderen Großverbänden eine gemeinsame Strategie im Interesse aller Muslime zu finden.
Unlängst zeigte sich dieses Dilemma in Person des aktuellen Sprechers des KRM und Vorsitzenden des ZMD Aiman Mazyek. Während sich Mazyek in seiner Funktion als ZMD-Vorsitzender für die Kölner Demonstration engagierte, schwieg er als Sprecher des Koordinationsrates. Mit anderen Worten, es gab keine Koordination oder Absprache in einer der wichtigsten gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit.
Die Lage zeigt auch ein Paradox in der Konstruktion des Rates: Würde der KRM tatsächlich funktionieren, wäre er selbst ein Machtfaktor und dies würde aus Sicht der dann „untergeordneten“ Verbände nichts anderes als einen Machtverlust bedeuten. Daraus erklärt sich vielleicht der Konstruktionsfehler des KRM und das Desinteresse der Beteiligten an einem funktionierenden Gremium. Nebenbei haben persönliche Fehden einiger Verbandsegos das Klima vergiftet und jede Möglichkeit weiterer Kooperation erschwert.
Die Frage nach der Reform muslimischer Organisationsformen sollte jedenfalls genauso wenig ein Tabu sein, wie die Frage nach der Erfolgsbilanz des politischen Islam überhaupt. Im globalen Maßstab geht es darum, zu erklären, warum dieser Ansatz eigentlich in Bürgerkriege und Diktaturen führt, hier in Deutschland darum, warum er die Polarisierung nicht aufhalten und die Verbundenheit nicht steigern kann.
Bei der kritischen Aufarbeitung des politischen Islam geht es nicht um die Reformierung des Islam an sich, sondern um die Frage nach der inneren Balance der muslimischen Lebenspraxis. Ein Beispiel ist der Umgang mit der Zakatpflicht. Sie manifestiert in ihrer korrekten Anwendung durchaus ein Politikum, aber es geht dabei nicht um die Stärkung eines bestimmten Verbandes, sondern um die Solidarität von Muslimen in ihrem gesellschaftlichen Kontext.
Denkt man über die notwendige Reformierung muslimischer Strukturen nach, sollte es also unter anderem um eine neue Idee von sozialer Macht gehen, inclusive der Denkmöglichkeit gemeinsam auch andere zu ermächtigen, insbesondere dann, wenn Sie als NGO, Netzwerk oder Unternehmung offensichtlich dem Gesamtinteresse aller Muslime dienen.
Ein konkreter Zwischenschritt wäre vielleicht, auch den KRM künftig nicht auf vertikal-hierarchischer Ebene über den Verbänden, sondern auf horizontaler Ebene neben den Verbänden, als ein offenes Gremium zu etablieren, dem es weniger um Repräsentanz, sondern um notwendige Koordinierung und internen Austausch mit Muslimen geht. Damit fänden die virtuellen Debatten eine Fortsetzung in realen Begegnungen. Mit diesem Schritt würden die Verbände nicht nur ihren Reformwillen zeigen, sondern auch aus Sicht der Muslime ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gerecht werden.
Für den Fortbestand des organisierten Islam spricht dabei eine einfache Weisheit: Gemeinsam ist man stärker. Gesellschaftliche Positionen sind in größeren Verbünden nachdrücklicher einzufordern, ebenso lassen sich wichtige Debatten gemeinsam besser auslösen und gestalten. Schlussendlich dürfte auch den Verbänden selbst am intensiven Austausch mit externen Beratern, Gelehrten, Aktivisten oder Intellektuellen gelegen sein, denn ohne eine Modernisierung der alten Organisationsformen droht der Stillstand. Zudem machen die eigenen Jugendorganisationen längst Druck von unten und machen vor, wie man gemeinsame Absichten mit anderen besser koordiniert.
Sollten sich die bestehenden Organisationen allerdings für den Stillstand entscheiden, droht ironischerweise der weitere Machtverlust. Die zahlreichen lokalen Bewegungen, NGOs und Gruppen an der Basis könnten dann eines Tages selbst einen alternativen Koordinationsrat der Muslime gründen, ihre Anliegen bündeln und ihre Synergien ausloten. Je nach konkretem Fall könnte dann dieser kleine aber dynamische Rat den Kontakt mit den antiquierten alten Verbänden suchen. Es wäre durchaus ein Vorteil, dass ein neuer, frischer Ansatz sich nicht mit den alten ethnischen Zwisten und Historien der Verbände rumschlagen müsste.