Die Moskauer Tageszeitung Kommersant kommentiert die neuerlichen Unruhen in Frankreich wie folgt:
„Unterscheiden sich die heutigen Unruhen im Kern von den Protesten 1968? Überhaupt nicht. Der damalige Kampf mit einer verschlossenen Gesellschaft hat sich jetzt in den Kampf mit einer Gesellschaft verschlossener Türen verwandelt. Das hat nichts mit einem bestimmten Gesetz zu tun. Die Globalisierung, die Türen öffnen sollte, hat sie für viele verschlossen. Globalisierung verschärft die Konkurrenz, stellt die Interessen transnationaler Konzerne über alles, kümmert sich nicht um Menschen und Bürgerrechte, auf die die liberalen Demokratien so stolz sind. Deshalb fragt sich die französische Jugend: Warum sollen wir uns opfern, wenn die Konzerne Milliarden von Gewinn machen?“
Die Studentenunruhen in Frankreich zeigen wieder auf, dass die eigentliche, zeitgemäße Herausforderung Europas nicht der Islam, sondern die Auswirkungen des entfesselten Kapitalismus darstellt. Es ist der Kapitalismus als ungezügeltes Gesellschaftsmodell, nicht etwa der Islam in Europa, der nun die dramatischen Fragen nach sozialem Frieden, der Essenz von Kultur und nach der biopolitischen Zukunft Europas hervorbringt. Die Politik, insbesondere die konservative Politik, versucht, die fehlende politische Antwort auf diese Phänomene mit einer ärmlichen Dialektik gegen den Bodensatz der Muslime zu umgehen. Grundsätzlich weiß die Politik der kleinen Schritte natürlich auch, dass sie vom ökonomischen Wirbelsturm längst auf die Ebene der nationalen Verwaltung zurückgestutzt wurde. Die neuen Sicherheitsgesetze sind schon gegen den Otto-Normalbürger im Anschlag, der bei wachsender Arbeitslosigkeit und galoppierender Verschuldung des Öfteren auf die Barrikaden gehen könnte. Frankreich probt dabei schon einmal den Ausnahmezustand.
Die Muslime sind vielleicht als soziale Unterklasse in französischen Ghettos indirekt beteiligt, entsprechend des inhaltlichen Kerns dieser Konflikte sonst aber als Gläubige, die sowieso nicht nur vom Brot allein leben, nur am Rande an den sich abzeichnenden Verteilungskämpfen beteiligt. Ironischerweise stellen die großen Massen der Immigranten ja eher das neue wertkonservative Bürgertum Europas dar, das sich aus den Ghettos in Einfamilienhäuser hineinarbeitet und nun nach dem trostlosen Arbeitsleben der Väter nach Anerkennung, Karriere und Wohlstand strebt. Die praktizierenden Muslime sind dabei nicht nur prinzipiell gesetzestreu, sondern schon ihrer Natur nach keine Anarchisten, die Autos umwerfen oder sonst der Anarchie freien Lauf geben. Zweifellos gibt es allerdings auch in Europa ein bis zwei Hundertschaften muslimischer Indianer, die, auf einsamen Pfaden und auf niedrigem religiösen und intellektuellen Niveau verpflichtet, zu manch Sinnlosem bereit sein könnten.
Man hat manchmal den Eindruck, dass es den Massenmedien zunehmend schwerfällt, die Relevanz einer Weltreligion, die Millionen Menschen zusammenhält, auf die Phänomene Zwangsheirat, Kopftuch, „Tüten tragen hinter Männern“ oder sonstige kulturell bedingte Exzesse zu reduzieren. Es gilt eine einfache Regel, der leider teilweise auch der öffentliche Islam folgt: Alles, was im Islam von jeher wichtig war, wird heute verschwiegen, alles was unwichtig war, wird heute wichtig gemacht. Den Islam muss man heute beinahe wie ein Archäologe freilegen. Wer sich absichtslos den Debatten nähert, dem wird wohl auffallen, dass beinahe alles, was man dem Islam unterstellt, von der Globalisierung potenziert und massenhaft hervorgebracht wird.
Wie jedes lebendige geistige Phänomen zeigt sich die Relevanz des Islam, neben der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, in dieser Zeit vor allem darin, ob er eine sinnvolle ökonomische Botschaft hat und in der Lage ist, soziale Lagerfeuer jenseits der bankrotten sozialen Strukturen moderner Staaten zu unterhalten. In Zeiten, wo der Staat schon aus Sicherheitsgründen eine strukturelle Totalität anstreben muss, provoziert das Phänomen Islam gerade dadurch, dass der Islam sich der völligen Strukturierung entzieht und seinen Gemeinschaften so ein Minimum von Freiheit und Unabhängigkeit bewahrt. Zwischenmenschliche Solidarität ist das eigentliche Kulturgut dieser islamischen Gemeinschaften.
Was bleibt, ist eine gewisse Hilflosigkeit der Politik, der Versuch, die Suche nach der verlorenen Leitkultur religiös zu verklären, mit Fragetests „gute Deutsche“ zu machen, vorsichtig biopolitische Impulse zu setzen (Kinderprämie) und letztlich nur recht notdürftig die eigene Getriebenheit zwischen dynamischer Verschuldung und wachsender Arbeitslosigkeit zu kaschieren. Es fällt dabei auf, dass die auf Demokratie und Verfassung eingeschworene Politik heute beinahe dutzendfach Gesetze produziert, die genau diese Verfassung verletzen. Wenn man heute Verfassungsexperten begegnen will, so findet man diese paradoxerweise im Umfeld der islamischen Organisationen, die als „Verfassungsfeinde“ vor allem den politischen Feindbegriff am Leben halten.