Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Freitagsklub Zürich

Vortrag: „(Denk-)Weg mit dem Zins“ – die Einordnung eines Buches

Ich freue mich, heute Abend hier in Zürich dieses kleine Referat halten zu dürfen. Salopp gesagt, ist das Thema unseres Abends heute: das GELD. Unser GELD. Gleichzeitig werden wir in aller Kürze über das Problem des „Zins“ reflektieren, dass von dem Thema Geld – wie wir sehen werden – natürlich nicht zu trennen ist. Hierbei geht es mir um eine ganzheitliche „Denkbewegung“, nicht etwa um einen Beitrag zur Volkswirtschaftslehre.

Ich werde versuchen, auf diese Weise mein „Zinsbuch“ einzuordnen. Dabei sollte man sich zunächst an den Titel halten, der ganz bewusst doppeldeutig gehalten ist. Es geht mir darum, den „Weg mit dem Zins“, besser zu verstehen, also zu erklären, warum der Weg mit dem Zins unsere europäischen Gesellschaften bis heute entscheidend mitgeprägt hat, aber auch zu fragen, ob wir eine Losung wie „Weg mit dem Zins“ heute offensiv vertreten können und dürfen.

Warum sprechen wir über solche profanen Themen? Man könnte zunächst einwenden, dass uns das Geld-Thema als Gläubige überhaupt und als Muslime speziell nicht zu interessieren hat.

Nun, ich denke schon!

Spätestens seit der Philosoph Walther Benjamin die berühmte Formel aufstellte, der Kapitalismus sei selbst eine Religion und die kapitalistische Lebensweise sei als eine religiöse Lebenspraxis zu verstehen, dürfte klar sein, dass wir uns gerade als religiöse Menschen uns diesem Thema stellen müssen. Benjamin stellte ja nicht zu Unrecht fest, der Kapitalismus diene „der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhe, auf die ehemals die so genannten Religionen Antworten gaben“.

Die provokante Frage wäre also, ob der Kapitalismus quasi inzwischen die Religion ersetzt. Ganz unmöglich scheint das nicht. Wir wissen doch alle, ob wir glauben oder nicht, dass sich unser aller Leben in der Konsumgesellschaft immer wieder auch, oder besser immer mehr, um das „liebe“ Geld dreht. Was uns sorgen sollte, ist die berechtigte Befürchtung, dass der Kapitalismus als weltumfassende „Religion“ unsere eigene, die islamische – wie jede andere religiöse Lebenspraxis – zunehmend an den Rand drängen könnte.

Warum also dieses Buch? Warum dieses Thema? Wir werden in den nächsten Jahren versuchen müssen, mit unseren Beiträgen gleich zwei fundamentale Bildungslücken in unseren Gesellschaften zu schließen. Das Thema Islam und Ökonomie ist tatsächlich von diesen Bildungsmängeln gleichermaßen betroffen.

Vergessen wir nicht, dass in den letzten Jahrzehnten kaum jemand in Europa über die modernen Finanzinstrumente Bescheid wusste. Selbst die politischen Eliten waren in Sachen Finanzinstrumente eher ahnungslos. (Die Antwort auf „was sind Derivate?“ konnte bis vor kurzem nur eine kleine Minderheit geben!)

Gleichzeitig war der Islam in Zeiten des „Terrors“ nur oberflächlich als „politischer Islam“ bekannt, während die soziale und ökonomische Seite des Islam, insbesondere das islamische Wirtschaftsrecht, völlig unbekannt blieb.

Wir Muslime haben heute aus guten Gründen ein Interesse, die „Aufklärung“ über den Islam, auch auf das wichtige ökonomische Feld auszuweiten. Es ist eine einmalige Gelegenheit, eine andere, positivere Debatte – hoffentlich in einem post-terroristischen Zeitalter – über den Islam anzustiften. Der Clou ist dabei – wie wir auch heute Abend sehen werden, dass der Islam im ökonomischen Bereich absolut vernünftig und rational argumentiert!

I.

Befassen wir uns kurz vorab mit dem geschichtlichen Moment, in dem wir uns befinden: die Finanzkrise. Wir wollen uns drei gewaltige Veränderungen, durch die Krise verursacht oder durch die Krise vollendet, bewusst machen. Es geht hier um eine neue globale Sichtweise, eine Machtverschiebung und unser Verständnis über die Basis jeder Ökonomie, dem Geld.

1. Die Krise zwingt uns endgültig eine GLOBALE Sichtweise auf.

Wir sind zweifellos inmitten der wohl größten Schulden-, Banken- und Währungskrise der Menschheitsgeschichte. Die heutige Finanzkrise zeichnet sich dadurch aus, dass sie als globale Krise praktisch die gesamte Menschheit – und zwar ob sie will oder nicht – in einen ökonomischen Zusammenhang stellt. Wie in einem gewaltigen Sog wird jedes Wirtschaften auf der Welt bestimmten Gesetzlichkeiten unterworfen. Im Grunde hat sich inzwischen die gesamte Welt so der Ordnung oder, je nachdem wie man das sehen will, dem Chaos des (Finanz-)Kapitalismus unterworfen. Die Bedeutung der Nation, die Bedeutung der nationalen Demokratien als politische Ordnungsintrumente haben dabei an Bedeutung verloren. Die Krise fordert so die Demokratien der Welt heraus und vollendet schlimmstenfalls die Etablierung eines autoritären Kapitalismus.

2. Die Krise verschiebt endgültig die gewohnten Ebenen der MACHT.

Die Entfaltung der Finanztechnik und die daraus entstehende Finanzkrise steht aber auch am Schluss einer Entwicklung, die man auch allgemein als Säkularisierung bezeichnen kann. Hier geht es um die fundamentalen philosophischen und politischen Machtverschiebungen der letzten Jahrhunderte. In Europa wurde die Welt über Jahrhunderte „entgöttlicht“, allerdings zunächst zu dem Preis, dass neue „sterbliche, weltliche“ Götter geschaffen wurden. Carl Schmitt hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass alle politischen Begriffe der modernen Staatslehre im Grunde säkularisierte, theologische Begriffe seien. Der allmächtige Gott, wurde zum allmächtigen Staat (Hobbes nannte ihn den sterblichen Gott; Nietzsche ein Ungeheuer), der allmächtige Staat wurde durch die „Demokratie“ gezähmt. Gleichzeitig wanderte die Macht – natürlich auch nach den verheerenden geschichtlichen Erfahrungen mit den Ideologien – endgültig von der politischen hin zur ökonomischen Ebene.

Das Ende der Geschichte ist damit noch nicht erreicht. Heute erscheint in unserem System der Demokratien das Phänomen der „allmächtigen“ Bank. Die Banken stellen nicht nur eine ultimative Macht dar, sie sind auch Teil einer Magie, wie wir sehen werden, – weil sie die Macht haben, „Geld vermehren zu können“.

Was ist also insoweit das Resümee, in Bezug auf unser Thema des Geldes? Georg Simmel beschreibt in seiner Philosophie des Geldes die geistige Lage treffend: „Der Glaube an das Geld ist nichts Anderes als ein Resultat des Säkularisierungsprozesses“.

3. Die Krise verändert unser Verständnis von GELD.

Auch das Geld selbst hat sich in den letzten Jahrzehnten verwandelt. Wir sehen das bereits an der puren Menge Geld, die in Umlauf ist. Wenn Kapitalismus ein Spiel ist, wie das beispielsweise der geläufige Begriff „Kasinokapitalismus“ andeutet, so wurde unser Einsatz in den letzten Jahren stetig erhöht. Was ist aber der eigentliche Kern der Veränderung? Ganz einfach: Geld wird heute aus dem Nichts – durch Zentralbanken und Banken -geschaffen! Diese Dynamik wurde durch die Aufgabe der Deckung von Geld mit Naturalien ausgelöst. Seit dem Ende von Bretton Woods 1971 ist der Goldstandard endgültig hinfällig, mit der Folge, dass die Geldmenge seit diesem Zeitpunkt unaufhaltsam gewachsen ist.

Heinrich Boris, Wirtschaftsprofessor an der Universität Fribourg, deutet die Dimension dieses Vorgangs an: „In den letzten 30 Jahren hat sich die Geldmenge im realen Sektor weltweit etwa vervierfacht, im Finanzsektor ist sie mehr als vierzig Mal grösser geworden!“

Das Grundphänomen modernen Wirtschaften auf Grundlage der „Schaffung von Geld durch Banken“ beschreibt der deutsche Bundesbankchef Jens Weidmann wie folgt:

„Die Geschichte des Papiergeldes ist leider immer wieder auch eine Geschichte der Geldentwertung. Eine Notenbank, die nicht zur Einlösung von Banknoten gegen Edelmetall verpflichtet ist, kann Geld quasi aus dem Nichts schaffen“.

Dieser Vorgang hat in der europäischen Finanzkrise eine Eigendynamik, die Thorsten Polleit, Honorarprofessor an der Frankfurt School of Business, auf Fonds Online vom 27.9. wie folgt beschreibt:

„Die Zentralbanken wollen die Zahlungs- und Konjunkturprobleme, die sie durch die ungedeckte Papiergeldausgabe selbst verursacht haben, mit der Ausgabe von immer neuem Geld lösen. Das wird so weit getrieben, bis die vermeintliche Problemlösung – das Geldmengenvermehren – selbst zum zentralen Problem wird: der offen zu Tage tretenden Geldentwertung“.

Autoren wie Thorsten Polleit befürchten also die Hyper-Inflation, als eine logische Konsequenz der Steigerung der Geldmenge, sie kritisieren gleichzeitig die Staaten, weil sie den Geldmarkt mit einer stetig wachsenden Geldmenge und der Höhe der Zinssätze bewusst manipulieren. Typisch für die Debatte über die Rolle des „Geldmengenwachstums“ für das Phänomen der Inflation sind die verbreiteten „Glaubenskämpfe“. Das Argument der „pro Bankenfraktion“, also all derjenigen, die das Geldmengenwachstum verharmlosen, ist dabei, dass die Realwirtschaft nicht wirklich betroffen sei. Die Inflationsraten, so behaupten diese Kreise, seien ja heute noch relativ moderat. Jean Claude Trichet, ehemaliger Präsident der EZB, gibt aber zu: „Es gibt einen langfristigen Zusammenhang zwischen Geldmengenwachstum und Inflation“.

Die „Glaubenskämpfe“ über die ökonomische Lage werden natürlich mit ungleichen Waffen ( man denke nur an das „Goldmann Sachs Phänomen“) betrieben. Michael Hudson, („Was sind Schulden?“, FAZ vom 2.12.) hinterfrägt generell die Macht der Banken und den Einfluss ihrer Lobbyisten:

„Der Finanzsektor hat inzwischen genügend Einfluss, um die Regierungen in solchen Notfällen davon überzeugen zu können, dass die Wirtschaft zusammenbrechen werde, falls man „die Banken nicht rettet“. In der Praxis erlangen die Banken dadurch eine noch größere Macht über die Politik, und sie nutzen diesen Machtzuwachs, um die Wirtschaft noch weiter zu polarisieren. Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen nationaler Selbstbestimmung und den Interessen des Finanzsektors.“

Wie können wir also die hier angedeuteten globalen, Macht- und Geldfragen zusammenfassen? Was hat sich also an der Situation verändert? Die Antwort ist naheliegend, Die wachsende Geldmenge schafft zunehmend eine Situation, in der sich unsere „alte“ Frage nach dem Zins hochaktuell und gleichzeitig anders stellt! Wir müssen die Zinsfrage heute als ein „strukturelles Zinsproblem“, als Teil eines Systems betrachten. Es geht also nicht mehr um das alte persönliche Problem des „Wuchers“. Erst seit wir Geld als inflationäres Papiergeld benutzen, hat dieses Problem eine neue, ungeheure Dimension bekommen. Es ist natürlich auch ein Unterschied, ob wir ein paar Münzen verzinsen, oder aber Milliardenbeträge.

Bevor wir das Phänomen „Geld, Geldmenge und Zins“ aus islamischer Sicht beurteilen, sei aber zunächst ein Einschub erlaubt: die Verwandlung von Geld in Papiergeld ist ein altes europäisches Thema! Ich will das betonen, weil uns die Politik einreden will, die Grundprobleme der Finanztechnik seien neu und als ein überraschendes Unheil über uns gekommen. Die Problematik war aber noch vor kurzem Allgemeinbildung!

II. Das Grundproblem und vielleicht auch ein Hinweis auf eine Lösung findet sich bereits in den Klassikern unserer Literatur. Zum Thema Geld , beziehungsweise zur Frage „was ist Geld überhaupt?“ gibt es zwei – wie ich meine – faszinierende, historische Bezüge in unserer großen Literatur, auf die ich kurz eingehen will. Es sind tatsächlich unsere Nationaldichter, die sich mit dem Thema „Geld“ fundamental beschäftigten. Ich spreche hier von Goethes Faust (1832, einige Monate nach seinem Tod veröffentlicht) und von Ramuz´s Farinet (1933 veröffentlicht) .

Beide Autoren beschreiben in ihren Werken bzw. in ihrer Zeit den Beginn der Industrialisierung, bis ihm zum globalen Siegeszug der Technik und die daraus folgende Integration von ganzen Staaten und Religionen in das zentralistische, kapitalistische Modell. Man kann wohl sagen, dass beide Autoren immer wieder auch „die technische Revolution bis hin zu den Innovationen der Finanztechnik“ beschreiben. Sie erkennen dabei als Philosophen und als Universalgelehrte, nicht etwa als Volkswirtschafter, das grundlegende ökonomische Basisproblem: das Geld.

Während Goethe das Grundproblem der „künstlichen Papiergeldschöpfung“ problematisiert, geht es Ramuz um die Legitimität „privater Geldschöpfung“. Ramuz und Goethe sind auch deswegen heute wieder hochaktuell.

Ich möchte hier nur kurz einige Inhalte ansprechen:

Im „Faust“, zweiter Teil, ist es bekanntermaßen Mephistopheles, als Narr verkleidet, der die politische Führung zu einem Tabubruch verführt, der darin besteht, Geld als Papier sozusagen aus dem Nichts zu schaffen und sich so – mit einem teuflisch-genialen Wettbewerbsvorteil ausgestattet – dem Versuch zu stellen, den ganzen Planeten beherrschbar zu machen. Diese abenteuerliche Strategie funktionierte zur Überraschung der Beteiligten zunächst, da man in der Öffentlichkeit dem Versprechen der neuen „Zettelbanken“ glaubte, die bunten Scheine seien durch Bodenschätze gedeckt. Die neue Technik und damit der Siegeszug des neuen Geldes basiert aber leider auf einem Prinzip „contra naturum“, also der Erwartung ewigen Wachstums und endloser Wertschöpfung. Faust muss am Ende des zweiten Teils einsehen, dass er über die hierzu notwendigen, magischen Kräfte nicht verfügt.

Als Goethes Freund Carl August, im Jahr 1810, ebenfalls die Idee einer Papiergeldwährung in seinem darbenden Kleinstaat andachte, rang Goethe, der als Finanzminster des Fürsten agierte, durchaus mit sich. Goethe wusste, wie schwer es sein konnte, mit begrenzten Mitteln auszukommen, wenn man doch auch öffentliche Größe und Würde demonstrieren musste. Aber dennoch, Goethe lehnt die Einführung des Papiergeldes schließlich aus voller Überzeugung ab. Wie schon in seinem Münzgutachten von 1793 bestätigte Goethe erneut: „Daß das Geld nicht durch den Stempel, sondern durch innerlichen gewissen Wert Geld sei.“

„Aber wie das neue Geld und die neue Technik stoppen?“ fragte sich schon Goethe. Ist diese „entfesselte“ Ökonomie gar ein unausweichliches Schicksal? 1825 schreibt der Dichter melancholisch an Georg Nicolovius: „… so wenig nur die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durch­rauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist… „

Wie können wir also den „fundamentalen“ Unterschied der alten Währungen im Vergleich mit dem Papiergeld fassen? Papiergeld ist reproduzierbar – Gold, Silber nicht! ( „Alles Gold, das die Menschheit in ihrer Geschichte produziert hat, ließe sich in einem Container unterbringen, der 20 Meter lang, 20 Meter breit und hoch ist.“ )

Auch Charles Ramuz, der wohl berühmteste Schweizer Schriftsteller, war von dem Thema Geld fasziniert. In seinem Roman „Farinet und das falsche Geld“ beschreibt der Schriftsteller das Schicksal eines Schweizer „Robin Hoods“. Farinet war ein einfacher Mann aus dem Wallis, der – allerdings auf illegale Weise, privat „gutes“ Geld in Form von Münzen in Umlauf brachte. (Noch heute wirbt übrigens die Ferienregion Wallis mit der geheimnisvollen Figur) Dass Farinet ein erfolgreicher Falschmünzer war und bei der Bevölkerung große Unterstützung fand, ist dabei einer besonderen historischen Situation zuzuschreiben. Gleichzeitig mit dem Auftauchen seiner „falschen“ Münzen hatte die Walliser Kantonalbank, zuständig für Banknoten im Kanton Wallis, eine finanzielle Krise. Die von der Bank 1858 bis 1870 ausgegebenen Banknoten verloren stark an Wert. Der Skandal: Farinets Geld bekam den Ruf, mehr Wert zu haben als die Geldscheine der Walliser Kantonalbank! „Ja“, kommentiert dann auch eine Figur in dem Roman die Taten des Helden:

„..denn das sage ich euch, sein Gold ist besser als das Gold der Regierung. Und ich sage, er hat das Recht falsches Geld zu machen, wenn es echter ist als das echte.“

Ramuz beschäftigt natürlich die moralische Deutung und Beurteilung des Romanhelden, dem es nie um persönliche Bereicherung ging – ist er ein Verbrecher, ein Patriot, ein Anarchist? Gibt es ein Menschenrecht, Geld in Umlauf zu bringen? Heute ziert Farinet die «Bank»-Noten alternativer Tauschkreise, während Ramuz auf dem echten Schweizer Geld abgebildet ist.

III.

Nach diesem Einschub über Goethe und Ramuz wieder zurück zu unserem Thema: Warum ist dieses Thema der Finanzkrise für uns Muslime so wichtig und faszinierend? Und, was ist eigentlich unsere Position zum Geld?

Wir müssen dabei zunächst zur Kenntnis nehmen, dass vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahrhundert viele Europäer den Islam als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems ansehen. Mir wurde dies klar, als ich die Feststellung der, eher islamkritischen, Autorin der „Schurkenwirtschaft“, Loretta Napoleoni im „Osservatore Romano“ zur Kennis nahm:

„Wir glauben, dass das islamische Finanzwesen zur Etablierung neuer Regeln für das westliche Finanzwesen beitragen kann … Scharia-gemäße Investitionsformen verhinderten eine künstliche Erzeugung von Geld.“ ()

In der Tat sind unsere eigenen Quellen voll mit Anspielungen, Beispielen und Rechtssätzen zum Thema Ökonomie. Vieles davon ist in Vergessenheit geraten oder wird falsch gelehrt. Dr. Asadullah Yate schrieb diesbezüglich unlängst in der „Islamischen Zeitung“:

„Wir leben in einem Zeitalter, in dem das Edle Recht des Islam auf einen Schatten seiner Selbst reduziert wird, Was bleibt, sind Kapitel über rituelle Reinigung, Gebet, Fasten und die verpflichtende Pilgerfahrt. Alle Anweisungen im Koran und des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, bezüglich der alltäglichen Transaktionen auf dem Markt, Verträge, Zahlungsmittel und Handel im Allgemeinen werden nicht länger unterrichtet, noch überhaupt verstanden“.

Natürlich können wir heute Abend nur einige Beispiele über die überragende Rolle der Ökonomie im Leben der Muslime nennen. Zunächst ist die wohl wichtigste Anspielung auf die Bedeutung des Handels für uns Muslime, die der Koran offenbart, dem Handel zwischen unserem Schöpfer und uns selbst gewidmet. In der Sura At-Tauba fragt Allah: „Und wer hält seinen Vertrag treuer ein als Allah? So freut euch Eueres Handels, den ihr mit ihm abgeschlossen habt, denn dies ist die große Glückseligkeit“.

Bekannt ist weiter die dutzendfache Nennung von Salat und Zakat (einer Vermögensabgabe, die man mit realen Werten bezahlen muss) im Koran. Wir entnehmen unserer Offenbarung die allgemeine Aufforderung, den „Handel mit Konsens“ zu betreiben, was wir wohl heute als Gebot des “ Fair Trade!“ deuten würden. Fundamental für unser Thema und immer wieder auch Inspiration für mein eigenes Interesse am Thema der Ökonomie ist das Ayat (2/275). „Allah hat den Handel erlaubt und den Wucher verboten“

Unser Prophet, Friede sei mit ihm, hat nicht nur als Händler gewirkt, sondern war auch mit einer erfolgreichen Geschäftsfrau verheiratet. Er wusste nicht nur , dass ein Großteil der Versorgung aus dem Handel stammt, sondern er hat auch selbst in Madina die zwei Pfeiler der islamischen Zivilisation errichtet, also eine Moschee und einen Markt etabliert.

Unsere Rechtsbücher des Islam sind voll mit Grundlagen des ökonomischen Rechts. Natürlich finden wir in praktisch allen Rechtsbüchern den Begriff „Riba“, der wörtlich im Arabischen „Exzess“ oder „Überschuss“ bedeutet. Kadi Abu Bakr bin Al-Arabi, ein klassischer Rechtsgelehrter, definierte den Sachverhalt in seinem „Ahkam al-Quran“ wie folgt: „Jeder Überschuss zwischen dem Wert der gegebenen Güter und ihrem Gegenwert (dem Wert der empfangenen Güter)“.

Alle diese Rechtsbücher sind auch heute wieder hochaktuell, weil sie ökonomische Grundsituationen beschreiben. So lässt sich das Verbot von Derivaten oder der Spekulation mit Nahrungsmitteln zeitlos fundiert aus Imam Malik´s berühmter „Al Muwatta“ ableiten.

Weitere Beispiele über das Verhältnis des islamischen Rechts zu den modernen Phänomenen des Wirtschaftens, bis hin zum Papiergeld, habe ich in meinem Buch genannt. Bezüglich des Geldes aber, folgt das islamische Wirtschaftsrecht einer absolut freiheitlichen Definition. Als Geld erlaubt ist schlicht jede Ware, die allgemein zur Zahlung akzeptiert wird. Über Jahrhunderte war dies allerdings für alle Muslime Gold und Silber, in der klassischen Gewichtseinheit des Dinars und des Dirhams.

IV.

Das zentrale Maß im islamischen Wirtschaftsrecht ist und bleibt aber das Zinsverbot und die daraus folgende Definition von Riba (die mehr ist, als nur „Wucher“). Die aktuelle Lage in Europa kann man – in Umkehrung der vorher genannten koranischen Maximen, eigentlich so fassen: Der Handel ist in Europa zugunsten monopolisierter Distribution verboten, der Zins aber in jeder Form erlaubt. Dabei ist das Thema der Zinsnahme so alt wie die europäischen Wissenschaften selbst. Schon Aristoteles soll schließlich gewettert haben: »So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst. (…) Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.«

In meinem Zinsbuch schreibe ich hierzu:

Historisch gesehen ist der Zins sehr viel älter als die Wirtschaftsform, die man heute als Kapitalismus bezeichnet, ja das Problem ist sogar älter als die allgemeine Verbreitung der Geldwirtschaft. Das ursprüngliche Prinzip des Zinses ist einfach erklärt. Die Gebühr wird verlangt für die zeitweise Überlassung von Sach- oder Geldmitteln. Der Empfänger dieser Mittel ist als Schuldner dem Überlasser als dem Gläubiger gegenüber außer zur Rückzahlung der überlassenen Mittel zur Zahlung eines bestimmten Aufschlags verpflichtet. Diesen Aufschlag schuldet er im Normalfall unabhängig von seinem ökonomischen Erfolg, denn es ist ja nicht unbedingt vorausgesetzt, dass der Schuldner mit dem Entliehenen einen Gewinn macht, aus dem er die Zinsen begleichen kann. Ganz allgemein kann man formulieren: „Zins gibt es … für den Verzicht auf die Eigentumsprämie“.

Das deutsche Wort „Zins“ leitet sich von lat. census „Schätzung“ ab. Eine gewisse Begriffsverwirrung herrscht, weil der Zins entweder mit Wucher verwechselt oder einfach gleichgesetzt wird. Im älteren Deutsch wurde für Zins einfach das Wort „Wucher“ verwendet, das von seiner althochdeutschen Wurzel her (mit „wachsen“ verwandt) einfach „Ertrag / Frucht / Gewinn“ bedeutet. Der Begriff Wucher bezeichnet dann auch noch durchgehend in der Luther-Bibel von 1545 jeden Zins.

Erst im modernen Deutsch wird zwischen „Zins“ und „Wucher“ unterschieden. Dabei gilt „Zins“ als technischer Ausdruck ohne moralische Wertung, während mit „Wucher“ ein Zins bezeichnet wird, der unangemessen hoch ist und unter Umständen unter Ausnutzung einer Notlage, der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns des Schuldners erzielt wird. Jede Religion nimmt den Zins ins Visier.

Berühmte Autoren wie Ibn Rushd definieren dabei den Begriff „Riba“ umfassender als nur die einfache, aber verbotene Zinsnahme. Wie der Gelehrte in seinem „Anfang des Mudschtahids“ zeigt, kann Riba verschiedener Art sein. In den „Sunan“ von Ibn Madscha, einer der sechs Hadithsammlungen, wurde im Kapitel „Handel“ überliefert, dass der Gesandte Allahs, möge Allah ihn Segnen und Frieden geben, sagte: „Riba besteht aus siebzig verschiedenen Arten schwerwiegender krimineller Handlungen, wobei die geringste von ihnen gleich dem Ehebruch eines Mannes mit seiner Mutter ist“.

Bevor ich Ihnen die weiteren Kernthesen meines Buches vorstelle, möchte ich gerne noch vorab etwas grundsätzliches zur heutigen Zinsdebatte klar stellen. Es ist nicht möglich, ernsthaft über die Frage des Zinses zu sprechen, ohne die naheliegende historische Dimension zu problematisieren. Ich schreibe diesbezüglich in meinem Buch:

„Natürlich ist der Nationalsozialismus und der mit ihm untrennbare verbundene Massenmord an den Juden noch immer eine fundamentale Belastung für die Beschäftigung mit der Zinsfrage. Die Nationalsozialisten hatten mit der Polemik um die „Brechung der Zinsknechtschaft“ die vorhandenen mittelalterlichen Ressentiments und den Antisemitismus Luthers für ihre Ideologie vereinnahmt. Ideologen wie Gottfried Feder (1883-1941) und seine „Wirtschaftslehre“ lieferten Hitler die Grundlagen für eine obskure Ideologie voller Widersprüche, wobei Feder die unselige Differenzierung von „schaffendem“ und „raffendem“ Finanzkapital in die Welt setzte. Hitler mobilisierte so gegen die Juden ohne gleichzeitig mit einem echten Antikapitalismus die Wirtschaftskreise zu erschrecken, die er für seine Machtergreifung brauchte.“

Desweiteren ist auch die verbreitete inhaltliche Kritik an einem Zinsverbot bekannt. Es wird dabei argumentiert, der „Zins“ sei als ökonomisches Prinzip grundsätzlich sinnvoll. Natürlich können diese Autoren nicht zeigen, wie man den „Zins“ regulieren oder beherrschen will. Die Kritik am islamischen Zinsverbot verkennt entweder den ganzheitlichen Zusammenhang, den alle islamischen Finanzinstrumente miteinander ergeben (Zinsverbot, Markt, Verträge usw.) oder aber verharmlost die „moderne“ Lage des Menschen, dessen Zinssystem heute Verheerungen, bis hin zu Hunger und Elend, verantwortet.

V. Aber zurück zur Grundidee des vorliegenden Zinsbuches und den drei wesentlichen Fragen, die ich im Rahmen des Buches zu stellen versuche.

1. Nach der tristen Ära des politischen Extremismus und Modernismus geht es mir darum, den „Islam als Teil der Lösung, nicht Teil des Problems“ darzustellen. Dabei müssen wir im Hinterkopf behalten, dass der „politische Islam“ sich kaum mit dem Wirtschaftsrecht befasst und sich auch immer wieder darüber hinwegsetzt.

2. Das Buch will den Rahmen öffnen für einen hoffentlich spannenden Dialog zwischen den Religionen. Es stellt darüber hinaus die Frage, ob Religionen ohne einen ernsten Ansatz der Kapitalismuskritik überhaupt noch relevant sein können. Die Debatte über den Zins eröffnet so ein inhaltliches Gespräch zwischen den Religionen. Als Gläubige müssen wir gemeinsam nach einer neuen Aufklärung verlangen!

3. Philosophisch stellt das Buch die Frage, ob die Geschichte (und Machtergreifung) der Technik (die ja ein „Herausfordern der Schöpfung“ ist), und die schlussendliche Herrschaft der Finanztechnik überhaupt nur durch ein göttliches Gebot noch umkehrbar ist?

Das Buch will also in erster Linie diese drei Denkanstöße geben und die inhaltliche Argumentation der alten Zweifel und „Zinsfragen“ in zeitgemäßer Form fortführen und aktualisieren. Es geht dabei wie gesagt um die moderne Zinsdynamik, die strukturelle Verzinsung – es geht also schlicht um die Klärung, wie der Zins heute wirkt.

An dieser Stelle müssen wir uns nochmals bewusst machen:

1. Zins wirkt wie eine versteckte Steuer und verstärkt das Reich-Arm Gefälle.

Margrit Kennedy argumentiert in ihrem Aufsatz „It´s interest stupid! Why Bankers rule the world“ wie folgt: Im Jahr 2010 besitzen 1% der US-Bevölkerung 42% des Reichtums, während 80% der Bevölkerung über nur 5% des finanziellen Reichtums verfügen. Kennedy stellt in ihrem Artikel fest, dass die unteren 80% die versteckten Zinsabgaben der oberen 10% bezahlen.

2. Die Folgen des Zinses, seine Existenz, werden durch die Politik verdrängt.

Kein bekanntes Parteiprogramm würde in irgendeiner Form zur Frage des Zinses Stellung nehmen. Darüber hinaus drückt sich die Politik immer wieder vor der Frage, wie unsere Schulden je rückzahlbar sind, sei es durch Inflation, einer Vermögensabgabe oder eine Geldreform.

3. Zins und Zinseszins schafft exponentielles Wachstum der Schulden und des Reichtums.

Das mathematische Problem hinter dem Zins dürfte inzwischen jedem denkenden Menschen geläufig sein. Das exponentielle Geldwachstum aufgrund des Zinseszins ist eines der unbewältigten Probleme des derzeitigen Geldwesens. Mit Zins und Zinseszins verdoppeln sich Geldvermögen in regelmäßigen Zeitabständen. Je höher der Zinssatz, umso schneller verdoppelt sich das verzinste Geld: bei 1 Prozent ca. alle 72 Jahre, bei 3 Prozent alle 24 Jahre, bei 6 Prozent alle 12 Jahre, bei 12 Prozent alle 6 Jahre.

Unsere Schulden sind – auch wegen der Zinslogik – nicht bezahlbar. Nur zur Erinnerung: 2011 bezahlte die US Regierung allein 454 Milliarden an Zinsen.

VI. Erlauben Sie mir eine Schlussbetrachtung und natürlich auch eine Bemerkung zu der berechtigten Frage: Was kann man eigentlich tun? Ich denke, es geht zunächst darum, den Ernst der Lage zu verstehen und den Verlust des Politischen, den wir beklagen, auch aus philosophischer Sicht zu interpretieren.

Der Philosoph der Technik, Martin Heidegger, beschreibt die Lage in einem Briefwechsel mit Kästner: „Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden?“

Ein Gedanke, den Heidegger im SPIEGEL-Interview mit dem Ausruf „Nur ein Gott kann uns retten“ zusammenfasste. Aber hilft wirklich nur beten oder hilft nur, aktiv zu praktizieren?

Ich denke es geht zunächst um die Beschäftigung mit der „Conditio humaine“ des Menschen, es geht darum, zunächst die richtigen Fragen zu stellen und dann natürlich auch darum, eine aktive Aufklärung über den Islam als eine der ökonomischen Alternativen unserer Zeit zu betreiben. Das islamische Modell verstehe ich als einen ausgewogenen Mittelweg, zwischen den spirituellen und materiellen Interessen des Menschen vermittelnd. Der Islam bestätigt das Eigentum und lehnt die Papiergeldinflation ab, deutet also, zwischen den Ideologien des Kapitalismus und Kommunismus auf einen dritten Weg hin. Die Pointierung auf die sozialen und ökonomischen Aspekte des Islam schützt uns Muslime – sozusagen nebenbei – vor einer weiteren Ideologisierung und Politisierung des Islam selbst.

Aus dem Studium der islamischen Finanzinstrumente ergeben sich natürlich auch konkrete Handlungsmöglichkeiten. Hierher gehört auch eine Kritik an der blinden Gefolgschaft gegenüber den „Islamischen“ Banken. Als mahnendes Beispiel sei hier ein Zitat eines türkischen Bankiers in der Wirtschaftswoche erwähnt:

„Es wird etwas dauern, bis die Tradition gebrochen ist. Aber die Gewohnheiten werden sich letztlich ändern. Immer mehr Leute werden sich entscheiden, ihr Gold zu den Banken zu bringen. Diese neuen Ressourcen werden uns helfen, mehr Kredite zu finanzieren, was das Wachstum der türkischen Wirtschaft anschieben wird.”

Es liegt nahe für uns Muslime, einige politische Forderungen der alternativen Geldwirtschaft zu stützen. Gut gefällt mir hierzu ein Bonmot der „Österreichischen Schule“: „Die Trennung von Staat und Kirche beendete die Religionskriege, eine Trennung von Staat und Geld würde die Inflation und ihre schrecklichen Folgen beenden.“

Überhaupt halte ich die Abschaffung von Steuern auf Gold- und Silbermünzen für richtig und das In-Umlauf-Bringen von alternativen Zahlungsmitteln wahrlich für ein Menschenrecht. Im Zusammenspiel mit dem freien Markt, den Verträgen und dem fairen Handel überhaupt ergibt sich praktikabler Weg.

Zu diesem Weg, zu dem das Nachdenken über den Zins ja gehört, schreibt Imam al-Ghazali:

„Die Person die einen Fuß auf diesen Weg setzt, ist wie ein Stern. Derjenige, der auf dem Weg fortgeschritten ist, ist wie ein Mond. Derjenige der Wissen von Allah erlangt hat, ist wie eine Sonne. Aber derjenige, der keinen einzigen Fuß auf diesen Weg gesetzt hat, ist wie ein Stein.“ (Imam al-Ghazali)