Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Mursi eine neuer Diktator?

Im Dresdner Augustinum hängt eine berühmte Bildersammlung des Malers Max Slevogt. Ein großes Thema des begnadeten Impressionisten war Ägypten. Der Maler war zu Beginn des letzten Jahrhunderts nach Kairo aufgebrochen und hatte eine faszinierende Landschaft vorgefunden, malte Wüstenszenen oder Fischer am Nil, besuchte Moscheen und zeigte Einheimische beim Studium des Korans. Die Reihe gilt als Höhepunkt des Schaffens von Slevogt und als ein Zeichen der Orientsehnsucht der Deutschen.

Nicht ganz einhundert Jahre später befindet sich der inzwischen etablierte Massentourismus in einer Krise. Die Bilder von Straßenkämpfen und Revolution haben die Touristen aus aller Welt verschreckt. Fährt man durch das heutige Kairo, fällt der desolate Zustand der Stadt auf. Viele Gebäude sind baufällig, der Schmutz hat sich festgesetzt und nur hier und da blinzelt die alte Größe auf. Inmitten der Tristesse wächst eine junge Bevölkerung auf, oft genug in den modernen Wohnsilos der Stadt zu Hause, frustriert und perspektivlos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent und auch wer Arbeit hat, weiß oft nicht, wie er seine Wohnung bezahlen soll.

Gründe für eine Revolution gibt es wahrlich in allen arabischen Ländern der Region: Die ersten Unruhen begannen nicht zufällig wegen der Steigerung der Brotpreise. Falladas Beschreibung der Nöte einer jungen verzweifelten Bevölkerung, auf der Suche nach ökonomischer Integrität, die er in seinen Büchern wie in «Kleiner Mann, was nun?» nachzeichnete und über das Deutschland der 1920er Jahren handeln, sie würden heute in Städten wie Tunis oder Kairo einen denkwürdigen Rahmen finden.

Nur, eine Revolution hat in Kairo bisher nicht wirklich stattgefunden. Revolutionen, dies wusste schon Napoleon, enden mit der Veränderung der Eigentumsverhältnissen. Davon ist am Nil nichts zu spüren. Noch immer herrschen die ägyptischen 0,1 Prozent, eine Clique gut etablierter Oligarchen, in ihrem Verhältnis zur Politik so flexibel wie undurchsichtig, und natürlich auch die Armee, die seit Jahrzehnten eine eigene Wirtschaftsmacht darstellt. Die Generäle entscheiden über den Ausnahmezustand, dem alten Feind demokratischer Verhältnisse.

Inzwischen beschäftigt sich eine ganze Schar Hobby-Verfassungrechtler aus aller Welt mit den Verhältnissen in Ägypten. Täglich beklagen die internationalen Medien die eingeschränkte Souveränität des ägyptischen Volkes. Lange – für Ägypter schmerzliche Jahre – war das nicht so. Wohl auch deswegen haben einige der bekannten Oppositionsführer, die mit dem alten Ägypten verbunden werden, wie Amr Moussa oder Muhammad El Baradei heute ein Glaubwürdigkeitsproblem. In den Zeiten Mubaraks hat man von Ihnen nicht viel gehört.

Natürlich ist ein echter Neuanfang nur nach einer – hoffentlich friedlichen – Abrechnung mit den alten Regimegrößen möglich. Die Mehrheit der Ägypter hat auch genug von der Einmischung Dritter. Die Armee des Landes hätte ohne Hilfe der Amerikaner und Europäer – und das verbreitete Schweigen über die Jahrzehnte der kommissarischen Diktatur – nicht herrschen können. Das Land mit 80 Millionen Einwohnern soll pro Jahr mindestens 1,3 Milliarden US- Militärhilfe erhalten. Der Preis für die üppige Leistungen war simpel: Die Armee hatte das Volk zu kontrollieren, den Frieden mit Israel zu sichern, den Suez-Kanal offen und den Islam möglichst klein zu halten.

Der Konflikt auf dem Tahrir-Platz zeigte das ganze Dilemma der arabischen Gesellschaften. Es gibt eine breite schweigende Mehrheit und zahlreiche Extremisten, die im Falle Ägyptens gleich zwei fundamentale politische Weltanschauungen instrumentalisieren. Wir begegnen auf allen Seiten Ideologen mit dem Potential absoluter Unversöhnlichkeit und wohl auch mit dem Willen, eine Diktatur zu etablieren oder zu erhalten. Sie können auf der einen Seite grob der geistigen Welt des Säkuralismus, auf der anderen der des Islamismus zugeordnet werden. So kämpft das Land mit dem Trauma aller Verfassungsrechtler seit Carl Schmitt: die legale Machtergreifung und anschließende Ausschaltung des politischen Gegners.

Auf Seiten des Islamismus, also auf Seiten des politischen Islam, wird heute die Muslimbruderschaft verortet. Sie integriert in Wirklichkeit ein breites Spektrum der religiösen Bevölkerung. Zumindest aus Sicht der Salafisten gilt sie als pragmatisch und eher liberal. Über Jahrzehnte hinweg war die verbotene Bruderschaft, und damit auch ihre Idee eines modernen und machtvollen Islam, in der Defensive. Die Muslimbrüder wurde verfolgt, ermordet oder ins Asyl getrieben. Als Reaktion hat sich der politische Islam ägyptischer Prägung in aller Welt in Dutzende Unterfraktionen aufgelöst, von liberal bis extremistisch, und dabei oft genug im offenen Widerspruch zum islamischen Recht. DIe Rechtsgelehrten des Islam, im modernen Ägypten entweder Staatsdiener oder Einzelkämpfer, verloren den Einfluß auf die Bewegung. Der Islam wurde zunehmend politisiert. Das Schlagwort von der «Scharia» , dass die Islamisten am Nil gerne gebrauchen und mit Nachteilen für die Frauen des Landes oder religionspolizeilichen Maßnahmen verknüpf wird, wird dagegen nicht etwa als Regelwerk gegen die Armee, Banken oder Oligarchen in Stellung gebracht.

Für das Image der stärksten politischen Kraft Ägyptens ist die Debatte tödlich. In unseren Graden denkt man beim Schlagwort des islamischen Rechts in erster Linie an abgeschlagene Hände, obwohl die Geschichtsbücher natürlich aufklären, dass dies über Jahrhunderte höchst selten vorkam. Das durchaus vernünftige islamische Wirtschaftsrecht dagegen wurde selbst an der berühmten Al Azhar Universität über Jahrzehnte nur sehr eingeschränkt gelehrt. In der Debatte spielt der Islam, als ökonomische Alternative gedacht, kaum eine Rolle.

Die Grundidee der 1928 gegründeten Bruderschaft war es gewesen, die neuen Technologien – vom Staatswesen bis zur Finanztechnik, deren Erscheinung die Araber zu Beginn des letzten Jahrhunderts bedrängte – auch dem Islam zugänglich zu machen. Ein Paradigmenwechsel war die Folge. Über Jahrhunderte war der Islam von der Organik von Marktplätzen und Händler bestimmt, jetzt übernahm die Logik von Parteien und Funktionären das Ruder. Die meisten, sogenannten islamischen Staaten kopierten die Verfassungen des Westen, erlaubten Papiergeld, Spekulation und Banken und sahen im Islam bestenfalls ein religionspolizeilich eingesetztes Regulativ gegenüber dem moralischen Zerfall.

Der neue ägyptische Präsident Mursi, als neuer Pharao verspottet, ist eher eine bürgerliche Figur; mit Diktatoren wie Mussolini oder Anderen hat er auf dem ersten Blick wenig gemein. Seine Amtszeit hat er in der neuen Verfassung begrenzt, auch um den Verdacht, er sei ein neuer «Mubarak», zu entkräften. Die Mehrzahl seiner umstrittenen Dekrete richten sich gegen den alten Machtapparat. Ironischerweise, so zumindest seine Logik, musst er letztlich die alte Justiz entmachten, um die Auflösung der Parlamente und damit die Ignorierung demokratischer Wahlergebnisse zu verhindern. «Aber», so Mursi immer wieder beschwichtigend, «er träume nach wie vor wie alle Ägypter von der Gewaltenteilung».

Die Ägypter mögen diesen Traum teilen, die Macht haben sie nicht. Könnte ihr neuer Präsident tatsächlich auch ein neuer Diktator werden? Ja, muss man wohl sagen, zumindest die Versuchung dazu ist wohl gegeben; insbesondere solange sich die Extremisten im Lande gegenseitig aufschaukeln. Mursi könnte dabei sogar ein Diktator widerwillen werden. Für die Macht, so sagen es Kritiker der Partei, sind die Brüder auch zu herben Kompromissen mit der Armee bereit. Nicht zuletzt die Generäle könnten an einem religiösen Diktator, der gleichzeitig die Unterstützung des Volkes verliert, durchaus Interesse haben. Nicht zuletzt auch, um die Privilegien der eigenen Kaste abzusichern. Ob es bereits einen möglichen Deal zwischen Armee und Muslimbruderschaft – hinter den Kulissen getroffen – gibt, ist von Außen kaum seriös zu beurteilen.

Wie überall im arabischen Raum ist und bleiben die ungelösten ökonomischen Zukunftsfragen schicksalhafter Natur. Die breite Masse der Ägypter kann mit Extremismus jeglicher Couleur wenig anfangen und sehnt sich in erster Linie nach einem bescheidenem Wohlstand. Inmitten der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte ist es aber fraglich, ob der Kapitalismus für die Massen, oder eben nur für eine kleine Minderheit am Nil funktioniert. Wenn Mursi kein Diktator sein oder werden will, muss er genau diese grundsätzlichen Frage bald beantworten.